Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit / Early Modern Dynamics of Politeness

Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit / Early Modern Dynamics of Politeness

Organisatoren
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit. Prof. Dr. Brita Rang, Prof. Dr. Susanne Scholz, Prof. Dr. Johannes Süßmann, Dr. Gisela Engel
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.03.2008 - 15.03.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Gisela Engel, Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Mit dem Titel der internationalen und interdisziplinären Konferenz „Konjunkturen der Höflichkeit“ unternahmen es die Veranstalter/innen, auf die Wiederkehr des Interesses an Höflichkeit in der europäischen Geschichte aufmerksam zu machen. Im Zentrum stand die Höflichkeits-Konjunktur in der Frühen Neuzeit, in der – wie auch in der aktuellen Literatur betont wird – es nicht darum ging, Traditionen zu legitimieren, sondern die jeweils instabil gewordenen Verhaltensregeln und –rituale und das nicht länger Selbstverständliche zu bewältigen.
Höflichkeit erscheint in dieser Perspektive als ein Thema der politischen und kulturellen, sozialen und konfessionellen Brüche und Übergänge. Diskutiert wurde, ob Höflichkeit überall dort benötigt wurde, wo traditionale (lehensrechtliche oder ständische) Verhaltensregeln nicht ausreichten oder in die Krise gerieten. In dieser Perspektive wären dann Diskussionen über die Höflichkeit ein Indiz für Situationen beschleunigten sozialen Wandels. Wenn Höflichkeit eine Problemlösung war, eine Antwort auf Umbruchserfahrung, wie lautete dann jeweils genau das Problem?
Aus dem analytischen Ansatz der Konferenz ergab sich eine Gliederung der Sektionen nach den „Orten“ der Höflichkeit: dem Hof, der Republik, der Universität, der durch Reisen erfahrenen Fremde, schließlich auch Tisch, Bett und dem sozial markierten Körper-Raum.

THOMAS MACHO (Berlin), ALEIDA ASSMANN (Konstanz) und HELMUT LETHEN (Wien) unterstrichen in ihren Vorträgen den Aktualitätsbezug der Fragestellung der Konferenz. Thomas Macho kennzeichnete Konjunkturen von Höflichkeitsdiskursen als Indikatoren von Krisen der "Zugehörigkeitsordnungen" sowohl in vertikaler als auch horizontaler Hinsicht. Er machte insbesondere auf die Medienbedingungen (Buchdruck für die Frühe Neuzeit) für Höflichkeitsdiskurse aufmerksam. Aleida Assmann schlug für die aktuelle Debatte über Höflichkeitsformen eine Orientierung am "Respekt" als einer an Menschenrechten und der Autonomie von Subjekten in demokratischen Gesellschaften notwendigen und grundlegenden Kategorie vor. Helmut Lethen plädierte ebenfalls für den Respekt (vgl. Verhaltenslehre der Kälte,1994) und zeichnete Helmuth Plessners Versuch aus den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nach, die physiologische Anthropologie zu einem biologischen Sockel pragmatischer Absichten zu machen. Plessners Grundsatz: „Der Mensch ist von Natur aus höflich“ zerbreche am Ende der Weimarer Republik unter extremem Entscheidungsdruck, und der in Plessners Konzept zeitweilig aufgehobene Dualismus von Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und physiologischer Anthropologie habe sich wieder durchgesetzt. In einem zweiten Schritt verglich Helmut Lethen Plessners Anthropologie der Höflichkeit mit Aurel Kolnais Phänomenologie der feindlichen Gefühle in der Schrift Ekel aus dem Jahr 1929 und untersuchte, inwiefern Regeln der Höflichkeit Ekelvermeidungsregeln sind.

GIORA STERNBERG (Oxford) untersuchte die Verwendung schriftlicher Höflichkeitsformeln, der formules de politesse, während und kurz nach der Regierungszeit Ludwigs XIV. im Streit um Status, Einfluß und Macht. Er zeigte, wie Manipulationen der schriftlichen kulturellen Codes der Höflichkeit in den politischen und sozialen Kämpfen und Auseinandersetzungen in einer Gesellschaft, in der physische Gewalt als Konfliktlösungsstrategie nicht länger akzeptabel war, zu scharfen Waffen im Kampf um Status, Einfluß und Macht werden konnten. DANIEL DORNHOFER (Frankfurt am Main) zeigte die Bedeutung der Liebesdichtung am Hofe James VI./(I). im Ringen um eine angemessene, verbindliche höfische Sprechweise am frühneuzeitlichen schottischen Hof auf. Die wichtigste Funktion amouröser Dichtung am frühneuzeitlichen Hof war es, soziale ‚Räume’ zu eröffnen. Die petrarkistische Fachsprache wurde in vielen europäischen Zentren zum bestimmenden Medium höfischer Umgangsformen, da sein prestigeträchtiges und doch dehnbares System Patronen und Klienten, Männern und Frauen gleichermaßen eine Stimme gab. Seine Beherrschung zeigte Zugehörigkeit zur kultivierten Elite und erleichterte es in der Kontaktzone Höflingen unterschiedlicher Macht, Herkunft, ja sogar über die Grenzen von Geschlecht und Konfession hinweg, in Verhandlungen zu treten. Trotz ungleicher Machtverhältnisse war die Interaktion also auf eine tragfähige Kontaktsprache angewiesen, um Handlungsspielräume zu eröffnen. ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) stellte die gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich häufenden und europaweit diskutierten vorrevolutionären und revolutionären Episoden in den Mittelpunkt, in denen der bewußt eingesetzte Bruch der Konventionen von Höflichkeit mit Erfolg zur politischen Strategie wurde. Es sei um die Frage gegangen, wann Höflichkeit Freiheit ermöglicht und wann sie ihr im Weg steht – also ob das Ende der Höflichkeit das Ende der Freiheit bedeuten kann oder muß. Dann wäre eine unhöfliche, freiheitsorientierte Revolution ein paradoxes Unterfangen, der Weg zu größerer Freiheit nur auf dem Wege einer Reform gangbar, welche in der Lage ist, Konventionen der Höflichkeit in parlamentarischen Debatten zu respektieren. Sahen die Konservativen Höflichkeit als eine tugendhafte Einhegung niederer Instinkte, ohne die eine zivilisierte Gesellschaft in Despotismus oder Anarchie verfallen müsse, so zeichneten die Befürworter der Revolution ein ganz anderes Bild. Ihnen erschien Höflichkeit als Ausdruck höfischer Verhaltensformen, von Standesdünkel und ungerechtfertigter, da nicht auf Meriten beruhender sozialer Differenzierung vor allem als Problem. Höflichkeit erschien ihnen als Gegnerin von Ehrlichkeit, Natürlichkeit und Offenheit, welche unter anderem die Voraussetzung einer wirksamen Kontrolle politischer Entscheidungen durch eine informierte Öffentlichkeit war, wie sie das englische parlamentarische System nach den Maßstäben der Zeit idealtypisch repräsentieren konnte. JOHANNES SÜSSMANN (Frankfurt am Main) interpretierte eine Episode in den französischen Konfessionskriegen (aus dem Jahre 1575) und verdeutlichte, daß bei der Begegnung von Adligen aus den feindlichen Lagern Standessolidarität mehr galt als der Konfessionsgegensatz. Der adlige Ehrenkodex habe zu den Konfessionsgrenzen quergestanden und diese immer wieder überschritten. Offenbar setzte der Adel der Konfessionalisierung und Rationalisierung des Krieges offensiv einen eigenen Verhaltenskodex entgegen. Je verbissener und grausamer die Religionskriege wurden, desto ritterlicher habe sich der Adel verhalten. Im Schluß an Helmuth Plessners Bestimmung der Gesellschaft als Möglichkeitsraum (Grenzen der Gemeinschaft, 1924), als Raum der Artifizialität, die sich als Höflichkeit, Takt und Diplomatie manifestiere, als gesellschaftlicher Raum, der Vergemeinschaftung (das vermeintlich Ursprüngliche) erst ermögliche, sah Johannes Süßmann die Behauptung des adligen Verhaltenskodex , der Höflichkeit gegenüber dem Standesgenossen, als Dienst an der Sozialität und zwar in einer Situation, als diese durch den Bürgerkrieg beschädigt war. Er verstand dies als Rekonstruktion des Sozialen durch Höflichkeit. Obwohl es standesspezifisch war, sei es über die Adelssolidarität hinausgegangen, nämlich an die Neubegründung von Gesellschaft als ganzer. Diesen Beitrag habe in dieser Weise nur der Adel leisten können, der sich aber anschloß an andere Rekonstruktionen der Gesellschaft im Zeitalter konfessioneller Zwangsvergemeinschaftung (und daher Spaltungen): an die Rundreisen, Feste und Glanzentfaltung des Valois-Hofes; an das politische Denken der politiques; an den Verhaltenskodex der Humanisten.
Der Vorschlag von Johannes Süßmann, Höflichkeit als "Ermöglichungshandeln" zu verstehen, als ein an "Respekt" orientiertem Handeln, das als "Arbeit an Sozialität" verstanden werden könne, die bei Gelingen das Austragen von Differenzen erst ermögliche, stieß als erkenntnisleitende Hypothese bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz auf große Zustimmung.

PETER SCHOLZ (Stuttgart) zeigte, wie durch die Integration kulturwissenschaftlicher Fragestellungen in die Forschung eine Betrachtungsweise des Begriffes der humanitas in der späten Republik möglich wird, die stärker das Milieu, in dem diese Werthaltungen sich ausbildeten, also etwa die sozialen Rituale, Verhaltensweisen und Umgangsformen, in den Blick nehme. Seit dem frühen 2. Jh. v. Chr. war zumindest für einen Teil der führenden Gesellschaft Roms die hellenistische Bildungstradition zu einem neuen Bezugspunkt geworden. Die e-ruditio, wörtlich: die „Ent-rohung“, die fortwährende Bemühung um gepflegte Sprache, umfassende Bildung, Höflichkeit und Eleganz, die Kultivierung der Umgangsformen, habe in dieser Zeit zur Ausbildung eines besonderen sozialen Verhaltensmodus geführt, der für die republikanische Senatsaristokratie charakteristisch war: nämlich die Praxis und das Konzept der humanitas. DANIEL SCHLÄPPI (Bern) untersuchte die Rolle der «Höflichkeit» im Sinne des praktischen Ausdruckes einer grundlegenden Respekthaltung vor dem politischen Gegenüber in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in der die "Höflichkeit" half, den immanenten Widerspruch zwischen ideologisch geschuldeter, republikanischer Gleichheit und den faktisch vorhandenen Standesdifferenzen in kultureller und ökonomischer Hinsicht unter Zuhilfenahme symbolischer Praktiken zu überblenden. BRITA RANG (Frankfurt am Mai) interpretierte die etwa 400 Briefe, die Philip Dormer Stanhope, IVth Earl of Chesterfield, seinem illegitimen Sohn Philip Stanhope schickte, und deren Rezeption als Phänomen der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts: Sie enthielten Verhaltenshinweise, die offensichtlich das aufstiegswillige Bürgertum in besonderer Weise ansprachen, nämlich neben den vor allem mit der Aristokratie in Verbindung gebrachten Verhaltenslehren der Kälte eine dem Bürgertum zugeschobene Herzenssprache und ein immer wiederkehrender Bezug auf die zivilisierende Rolle der Frauen. RUTH FLORACK und RÜDIGER SINGER (Göttingen) fragten ausgehend von Thomasius’ Gleichsetzung von Galanterie und Höflichkeit („Politesse“) danach, welches Bedeutungsspektrum der Modebegriff ‚galant’ um 1700 abdeckt, welchen Adressaten die Propagierung von Galanterie in den zeittypischen Verhaltenslehren und im galanten Roman an der ‚Epochenschwelle’ 1700 als Verhaltensideal gilt, sowie nach der lebensweltlichen Funktion des Galanterie-Konzepts in der deutschsprachige Literatur um 1700, in der Galanterie als Höflichkeit eine entscheidende Rolle spielt. Dabei rückten sie den bislang vernachlässigte Zusammenhang von „Verhaltensliteratur und Romanpraxis“ in den Mittelpunkt und stellten paradigmatisch an Texten von Christian Friedrich Hunold dar, wie Verhaltensliteratur zum Roman wird und Romane ‚galante Conduite’ vermitteln. Der galante Roman inszeniere das Galante nicht nur als politesse, sondern auch als Politik. Im Unterschied zu den Verhaltenslehren biete der galante Roman die Möglichkeit (und hierin liege sein Surplus), auch den strategischen Einsatz von Galanterie exemplarisch ‚durchzuspielen’ – und damit komme der Aspekt des Politischen in den Blick. Denn die – durch das Erzählschema des Heliodorschen Romans bedingte – Figurenvielfalt und die unterschiedlichen Handlungsstränge erlaubten, Interessenkonflikte zu profilieren, so dass der Protagonist sich politisch klug verhalten muss, insbesondere bei der Eroberung der Geliebten – und zur politischen Klugheit gehören auch die Kunst der Verstellung zur rechten Zeit und die Fähigkeit, die Verstellung anderer zu durchschauen. MILOS VEC (Frankfurt am Main) untersuchte die Frage, welches Verhältnis von Staat und Gesellschaft sich in den Höflichkeitsdebatten der deutschen Aufklärung abbilde, wie in ihnen zugleich die Rolle des Staates und die Gesellschaftsethik neu definiert werde und wie das eine auf das andere bezogen war. Höflichkeit stehe aus rechtshistorischer Perspektive als Normativsystem in Konkurrenz mit anderen, dem des Rechts und dem der Moral. In der Konjunktur der Höflichkeit um 1700 stellt Vec die Verrechtlichung und Verstaatlichung der Höflichkeitsnormen in der Innen-und Außenpolitik fest: Es sei darum gegangen, im Code der Höflichkeit fragliche gesellschaftliche, staatliche und zwischenstaatliche Ordnungen auszuhandeln. Recht und Moral konnten viele Regelungsbedürfnisse nicht erfüllen, und die Mobilisierung der Höflichkeit als autonomer Regelungsbereich erscheine daher plausibel.

DOROTHEA NOLDEs (Bremen) Beitrag ging der Frage nach, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen der Erziehung zur Höflichkeit als einer "zweiten Natur" im Sinne des Bourdieuschen Habitus-Konzeptes, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert an nahezu allen europäischen Höfen zu beobachten ist, einerseits und dem Aufeinanderprallen einer Vielfalt von Höflichkeitsnormen andererseits auf die interkulturelle Kommunikation auswirkte und wie Unkenntnis oder Ablehnung des "rituellen Idioms" (Irving Goffman) des jeweils Anderen eine der Hauptquellen für Störungen oder sogar ein Misslingen der Interaktion zwischen Reisenden und ihren Gastgebern darstellten. SABINE SCHÜLTING (Berlin) untersuchte, auf welche Schwierigkeiten englische Reisende im Ottomanischen Reich stoßen konnten, wenn sie beispielsweise den in Handbüchern für Diplomaten empfohlenen Strategien der Höflichkeit für die Eröffnung friedlicher Räume für Verhandlungen und Begegnungen folgten, aber auch strategische Akte der Unhöflichkeit begangen: Beide Strategien hatten wegen der Verschiedenheit der Höflichkeitscodes und des daraus resultierenden gegenseitigen Unverständnisses nicht immer den gewünschten Erfolg. MATTHIAS KÖHLER (Münster) fragte danach, welche Rolle die Höflichkeit in Friedensverhandlungen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert spielte, wenn die politische Logik der europäischen Fürstengesellschaft und die Logik eines Face-to-face-Kommunikationssystems aufeinandertrafen. Er konnte zeigen, daß auch in der Praxis von Friedensverhandlungen die Höflichkeit insofern eine Rolle spielte, als sie als flexibles Zeichen eingesetzt werden konnte, das Entgegenkommen andeutet, ohne sich eindeutig festzulegen: Höflichkeit und Unhöflichkeit der Diplomaten wurden in Hinblick auf die Absichten der Souveräne lesbar.

SEBASTIAN KÜHN (Berlin) beleuchtete die Rituale der Unhöflichkeit in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit als ein notwendiges Pendant zur Höflichkeit, um das Verhalten und Kommunikationsgeschehen zwischen Gelehrten zu beschreiben, und stellte die Auswirkungen dieser Sichtweise auf die Konzepte von Höflichkeit und Freundschaft, aber auch auf die entstehenden Wissenschaften dar. Er schlug vor, die Rituale der Höflichkeit und der Unhöflichkeit als soziale Mechanismen zu verstehen, wobei die Höflichkeit und Zivilität zur Konfliktvermeidung dienten und die Rituale der Unhöflichkeit ein Arsenal von Handlungsmodellen zum Konfliktaustrag bereitstellten. Als kommunikatives Handeln könnten daher mit Unhöflichkeit ganz unterschiedliche Funktionen (oft zugleich) verbunden sein: etwa um eine Entscheidung in einem anders nicht zu lösenden Konflikt herbeizuführen, um soziale Distinktion zu markieren, Zugehörigkeiten unter Beweis zu stellen, wissenschaftliche oder religiöse Überzeugungen zu propagieren. Um verständlich zu sein und Wirkung zu erzielen, müssten Akte der Unhöflichkeit beherrscht werden wie die ausgesuchteste Etikette. Unhöflichkeit sei als strategisches Mittel oft eingesetzt worden, um neue Sichtweisen in den Wissenschaften zu ermöglichen und zu einer Pluralisierung von Wissensbeständen beizutragen. ROBERT SEIDEL (Frankfurt am Main) untersuchte frühneuzeitliche Disputationen über die Höflichkeit und fragte sich auf Basis des akademischen Kasualschrifttums, das bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden habe, welche Aussagen hier zu gewinnen seien für Strategien der gelehrten 'literati', neben ihren Kenntnissen in den traditionellen 'artes' auch diejenigen Fähigkeiten zu erwerben, mit denen sie in der streng hierarchisch strukturierten und ein ausgeklügeltes Zeremoniell etablierenden höfischen Gesellschaft reussieren konnten. Es fänden sich kaum neuartige Konzepte der Verhaltensethik in den Kasualschriften, jedoch beleuchteten sie die praktischen Erfordernisse eines Universitätsbetriebs, in dem die Elite des frühneuzeitlichen Fürstenstaates ausgebildet und auch mit den Grundlagen der ‚Höflichkeit’ instruiert wurde. Die Disputationsdrucke seien zwar weniger für die Geschichte der Wissenschaften selbst, gewiß jedoch für die Geschichte der akademischen Praxis, aber auch der Mentalitäten und des allgemeinen Kulturbetriebes von größtem Interesse. KARL H. L.WELKER (Frankfurt am Main) stellte anhand der Behandlung von Justus Mösers Korrespondenz deren wegweisende Rolle für die Entwicklung des bürgerlichen Selbstbewußtseins ("Staatsbürger") heraus: Möser entwickelte eine Sprechweise, die formal unverbindlich erschien, zugleich aber sozial integrierende Kraft entfaltete. Der Vergleich mit der zeitgleichen Herausbildung allgemein verbindlicher Höflichkeitsformen bei Knigge liegt für Welker nahe. ELISABETH STEIN (Wuppertal) verdeutlichte an den vielgelesenen Briefen Ermolao Barbaros (1454-93) und denen von Angelo Poliziano (1450-94) die Rolle von Briefen humanistischer Gelehrter als zentrales Medium intellektueller Selbstinszenierung und untersuchte, wie in Humanistenepisteln des späten 15. Jahrhunderts die Höflichkeitsbekundungen deutlich über formelhafte Floskeln hinausgehen und wesentlich zur Darstellung des Adressaten dienen.

RITA CASALE (Zürich) untersuchte die Physiognomik der Leidenschaften als Angelegenheiten des Staates und die neue Rolle der Leidenschaften für das politische und moralische Leben in Frankreich. Im Gegensatz zu den italienischen stagnierenden Höfen war der französische Hof im 17. Jahrhundert ein sehr dynamisches politisches Labor, in dem die feudale Gesellschaft eine tiefe Krise durchlebte. Diese Krise habe eine Veränderung der Formen der Soziabilität verursacht: Die Individuen nahmen sich nicht mehr als Angehörige geschlossener sozialer Gruppen wahr. Die Möglichkeit, insbesondere seitens der Angehörigen des merkantilen Bürgertums, als staatliche Funktionäre Karriere am Hof zu machen, modifizierte sowohl die Selbstwahrnehmung als auch das Umgehen mit Anderen. Die soziale Abhängigkeit vom Blick des Anderen verlangte einerseits eine sorgfältigere Aufmerksamkeit für das eigene Verhalten. Andererseits entwickelte sich in dieser sozialen Gruppe eine sehr differenzierte psychologische und soziale Urteilskraft. Jede Bewegung des Körpers, insbesondere aber des Gesichts, wurde Gegenstand raffinierter Beobachtung. MICHAEL MAASER stellte Wandlungen der Höflichkeitsformen bei Tische vor. ANDREAS PECAR (Rostock) untersuchte am Beispiel Giacomo Casanovas die Mechanismen von Inklusion und Exklusion in der Sphäre des höfischen Adels in einer Epoche des Übergangs von einer ständischen Gesellschaftsordnung zu einer funktional differenzierten Gesellschaft. Er führte aus, daß die impliziten sozialen Regeln der Höflichkeit sich insbesondere in denjenigen Bereichen des Hoflebens voll entfalten konnten, in denen das Verhalten weder durch Amtsvorschriften noch durch zeremonielle Normen reglementiert war. Dies waren alle Felder der höfischen Interaktion, in denen wesentlich Geselligkeit gepflegt wurde. Die Inklusion Casanovas in die adlige Lebenswelt habe sich auf situative Momente und bestimmte Felder der Interaktion beschränkt. Andere Bereiche blieben ihm dauerhaft verschlossen (z.B. Hofkarriere). Es sei Casanova zugutegekommen, daß die rechtlich-ständische Hierarchie im Selbstverständnis des Adels nicht mehr auf allen Lebensfeldern zum wichtigsten Kriterium erhoben wurde. Aber auch wenn der Adel seine eigene rechtlich-theologische Standeslegitimation zunehmend selbst anzweifelte, blieb sein Habitus weiterhin darauf geeicht, nur mit seinesgleichen zu verkehren. War aus einer rechtlichen jedoch eine sozial-kulturelle Zugangsbarriere geworden, so war ein Überschreiten der Trennlinie möglich, sofern man den kulturellen Code mit der höfisch-aristokratischen Gesellschaft zu teilen in der Lage war. Bei Casanova sei dies der Fall gewesen.

Es wurde deutlich, daß den Konjunkturen der Höflichkeitsdebatten soziale, politische und kulturelle Krisenlagen entsprechen, in denen verstärkt um Formen gerungen wird, in denen Konflikte erst austragbar werden. Der Vorschlag von Johannes Süßmann (Frankfurt), Höflichkeit als "Ermöglichungshandeln" zu verstehen, das als "Arbeit an Sozialität" verstanden werden könne, die bei Gelingen das Austragen von Differenzen erst ermögliche, erwies sich als fruchtbare erkenntnisleitende Hypothese. Unhöflichkeit ist in diesen Zusammenhängen nicht das Gegenteil von Höflichkeit, vielmehr eine kommunikative Erweiterung derselben, ein Regelverstoß innerhalb eines nicht grundsätzlich in Frage gestellten Höflichkeitscodes, ein bewußt eingesetzter Bruch der Konventionen von Höflichkeit, der besonders im vorrevolutionären Frankreich, aber auch in anderen Zusammenhängen mit Erfolg zur politischen Strategie wurde. Unhöflichkeit als Teil des Höflichkeitscodes setzt aber immer noch auf Verständigung in einem durch Höflichkeit ermöglichten Interaktionsraum. Verhaltensformen der Höflichkeit stellten eine Möglichkeit dar, jenseits der religiös begründeten Konflikte, solchen der unerbittlichen Gelehrten auf der Suche nach der Wahrheit, der verschiedenen Adelsfraktionen beim Kampf um Einfluß bei Hofe, der aus dem Konflikt z.B. von Ständezugehörigkeit und republikanisch eidgenössischer Verfassung, und jenseits solcher Konflikte, die im interkulturellen Kontakt für Reisende und Diplomaten entstanden, einen möglichen Verständigungsraum zu etablieren. Auch die Grenzen und das Mißlingen der höflichen Interaktion wurde thematisiert.

Eine Publikation der Ergebnisse der Tagung ist vorgesehen.

Konferenzübersicht

Einführender Vortrag
Thomas Macho (Berlin): Konjunkturen der Höflichkeit

Sektion I : Hof
Giora Sternberg (Oxford): Are formules de politesse Always Polite? Discursive Struggles within the Early Modern French Aristocracy
Daniel Dornhofer (Frankfurt am Main): Go Pen and Paper, publish my Complantis. Liebesdichtung auf der Suche nach dem richtigen Ton am Hofe James VI.
Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main): Grenzen der Höflichkeit – Unhöflichkeit, Revolution Und Protest
Johannes Süßmann (Frankfurt am Main): Höflichkeit in den französischen Konfessionskriegen

Abendvortrag
Aleida Assmann (Konstanz): Von Einsamkeit zu Geselligkeit. Höflichkeit als Erziehungsprogramm in der frühen Neuzeit

Sektion II: Stadt / Republik
Peter Scholz (Stuttgart): Humanitas als ein sozial distinguierender Verhaltensmodus – Höfliche Rede und Umgangsformen in der republikanischen Senatsaristokratie
Daniel Schläppi (Bern): Höflichkeit als Schmiermittel des Staatsapparates und kommunikativer Kitt in republikanisch verfassten Gemeinwesen der alten Eidgenossenschaft
Brita Rang (Frankfurt am Main): „The graces, the graces, remember the graces“- Lord Chesterfields Briefe an seinen bürgerlichen Sohn (1774)
Ruth Florack /Rüdiger Singer (Göttingen): Politesse, Politik und Galanterie: Zum Verhältnis von Verhaltenslehre und Unterhaltungsliteratur um 1700
Milos Vec (Frankfurt am Main): Höflichkeit als selbstregulative Norm. Beobachtungen zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der deutschen Aufklärung

Sektion III: Ausland/Fremde/Diplomatie
Dorothea Nolde (Bremen): Von Peinlichkeiten und Pannen: Höflichkeit als Medium und als Hindernis der Kommunikation auf höfischen Europareisen des 16. und 17. Jahrhunderts
Sabine Schülting (Berlin): Performances of (im)politeness in cultural encounters between England and the Ottoman Empire
Matthias Köhler (Münster): Höflichkeit, Strategie und Repräsentation. Friedensverhandlungen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert

Abendvortrag
Helmut Lethen (Wien): Anthropologien der Höflichkeit

Sektion IV: Gelehrtenrepublik
Sebastian Kühn (Berlin): Beleidigung und verletzte Ehre. Über Rituale der Unhöflichkeit von frühneuzeitlichen Gelehrten
Robert Seidel (Frankfurt am Main): Disputationen über die Höflichkeit - Frühneuzeitliche Verhaltenslehren im Spiegel des akademischen Kasualschrifttums
Karl H.L.Welker (Frankfurt am Main): Höflichkeit als Kommunikationsform:Mösers Korrespondenz
Elisabeth Stein (Wuppertal): „Et carmen tuum ... et epistolas recepi. Carmen non placuit, sed perplacuit.“ Höflichkeit in humanistischer Korrespondenz des 15. Jahrhunderts?

Sektion V: Tisch, Bett, Körper
Rita Casale (Zürich): Die Physiognomik der Leidenschaften als Angelegenheit des Staates
Michael Maaser (Frankfurt am Main): Die aufgehobene Tafel. Höflichkeit bei Tisch in der Neuzeit
Andreas Pečar (Rostock): Höflichkeit und Abstammung. Inklusion und Exklusion in der Sphäre des höfischen Adels am Beispiel Giacomo Casanovas


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