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E-Mail-Dauerfeuer Wer sortiert, verliert

Sie haben Elektropost, und zwar jeden Tag viel zu viel davon? Lassen Sie's einfach laufen - jeder Versuch, Mails durch ausgefuchste Systeme zu sortieren, macht nur Scherereien. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher von IBM. Moment mal: Ist das nicht jene Firma, die der Welt Lotus Notes verkauft?
Foto: Corbis

Es ist eine harte Attacke auf jeden Ins-Büro-Geher: Am Montagmorgen Rechner an, Mail-Programm gestartet, in die Inbox gelugt - und schon krachen dem bis dahin grundlos fröhlichen Angestellten zweihundertfuffzich neue Mails ins Gesicht.

Arrgghh. Da sind sie wieder, die kleinen Zeitfresser: Sie rieseln in den Rechner, klackern im Smartphone, schreddern die Geduld.

Wieder ist der übliche Spam durch alle Filter geflutscht. Mit polyglotten Offerten für Penisverlängerungen oder gefälschte Uhren, mit Notrufen nigerianischer Diktatorenwitwen, die partout nicht wissen, wohin mit den vielen Millionen. Dazwischen mischen sich Reiseunternehmen, PR-Agenturen, Veranstaltungstrompeter. Die können etwas besser Deutsch als die Viagra-Dealer, sonst aber nicht viel, zum Beispiel nicht ihre Verteiler arbeitsweltkompatibel gestalten. Klick, klick, klick, weg, weg, weg. Irgendwo in all dem Unrat lagern Mails, die beantwortet oder wenigstens zur Kenntnis genommen werden wollen. Und einige wenige Perlen.

Klar, Elektropost ermöglicht flinke und kompakte Kommunikation, ohne sie geht es in den meisten Berufen längst nicht mehr. Mit ihr aber auch nicht so recht. Wer nur 200 Mails pro Woche erhält, kommt damit meist noch klar. Um weit mehr als tausend zu ertragen, braucht es ein robustes Gemüt - denn allein das Mail-Sichten fordert Aufmerksamkeit und verschlingt Energie. In ihrem Berufsleben verplempern Führungskräfte damit zusammengenommen drei kostbare Jahre, ergab eine europaweite Befragung des britischen Henley Management College.

Eine ausgeklügelte Ordner-Architektur verbrennt am Ende Zeit

Viele denken: Da geht doch was. Es ist ein quasi technisches Problem. Also muss es dafür technische oder organisatorische Lösungen geben. Fünf Forscher haben sich im IBM-Auftrag näher damit beschäftigt, wie Mail-Empfänger versuchen, das Problem der täglich heranbrandenden Fluten in den Griff zu bekommen. Sie unterscheiden zwei Haupttypen:

  • Die einen lassen die Mails einfach in ihre Inbox plumpsen. Um Informationen zu finden, verzichten sie auf ernsthafte Sortierversuche. Stattdessen verlassen sie sich außer auf ihr Gedächtnis vor allem auf die Suche, meist durch simples Scrollen durch den Mail-Eingang.

  • Die anderen zeigen ein Verhaltensmuster, das professioneller, vielleicht auch nerdiger wirkt. Sie entwerfen komplexe Ordnerstrukturen und sortieren so ihre Mails, etwa nach Absendern, Dringlichkeit, Inhalten oder Betreff-Stichworten. Das Ziel: den Eingang überschaubar zu halten und relevante Mails schneller zu finden, möglichst auf einen Blick.

Die Mitarbeiter des IBM-Forschungsinstituts in San José (Kalifornien) beobachteten 345 erfahrene Nutzer bei insgesamt 85.000 Mail-Zugriffen. Das Ergebnis ist eindeutig, das Modell Sickergrube überlegen: Die Mails schlicht im Eingang zu belassen und bei Bedarf zu suchen, ist effizienter und spart Zeit. Wer sich dagegen ein ausgeklügeltes System aneignet, scheitert häufiger daran, wichtige Informationen zügig zu finden.

Dauerhafte Notwehr: "Ich versuche, nicht abzusaufen"

Für ihre Untersuchung  verwendeten die IBM-Mitarbeiter das Mail-Programm Bluemail, das auf das verbreitete System Lotus Notes leicht zugreifen kann, aber im Aufbau auch Ähnlichkeiten zu Googlemail hat. Eine deutliche Mehrheit der Nutzer entschied sich im Alltag für einen simplen Umgang mit den Mails, ohne großes (Vor)Sortieren. Nur 13 Prozent legten eine komplexe Ordner-Architektur an, in der Hoffnung, dass der Aufwand sich auszahlt.

Das trat jedoch nicht ein, im Gegenteil, sie brauchten mehr Zeit für die Suche und arbeiteten weniger effizient. Als typischen Grund für ihre Mail-Strukturen nannten sie zum Beispiel: "Ich versuche, nicht abzusaufen." Denn ein überfüllter Mail-Eingang wirke wie eine To-do-Liste - also wie eine ständige Handlungsaufforderung, ein Druckinstrument, ein pochendes schlechtes Arbeitsgewissen.

So ein Ordnersystem sei meist eine Reaktion auf die Mail-Flut, folgern die Forscher. Reine Notwehr sozusagen. Fälschlich werde oft angenommen, dass man gar keine Zeit mehr für den Aufbau von Ordnungsstrukturen habe, wenn man sehr viele Mails bekomme. Als sehr hilfreich werten sie gute Suchfunktionen und die Verdichtung von Informationen durch Threads. Dagegen werde das Ordnen und Suchen durch Tags, also häufige Stichworte, von den Nutzern kaum akzeptiert, so die Mitarbeiter von IBM.

Ausgerechnet IBM... Jenes Unternehmen also, das mit Lotus Notes viel Geld verdient: Das überladene, nur sehr bedingt alltagstaugliche Datenbank- und Mail-System quält jeden Tag viele Millionen Angestellte, weil sie von ihren Arbeitgebern zur Nutzung gezwungen werden. Bereits seit 2007 lädt die Web-Seite "I hate Lotus Notes"  alle Nutzer dazu ein, den Frust über diesen "Angriff auf ihren Lebenswillen" zu teilen, statt zu verzweifeln, zu zerbrechen oder sich gleich aufzuhängen. Dass IBM sich mit Mail-Programmen der Zukunft beschäftigt, ergibt viel Sinn - die Gegenwart ist für viele Mail-Nutzer schmerzhaft genug.