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Meinung Krisen in Europa

Wir erleben die Rückkehr der deutschen Frage

Anton von Werners Gemälde „Berliner Kongress“ – ein Kongress, der im Sommer 1878 die europäischen Großmächte in der deutschen Hauptstadt versammelte Anton von Werners Gemälde „Berliner Kongress“ – ein Kongress, der im Sommer 1878 die europäischen Großmächte in der deutschen Hauptstadt versammelte
Anton von Werners Gemälde „Berliner Kongress“ – ein Kongress, der im Sommer 1878 die europäischen Großmächte in der deutschen Hauptstadt versammelte
Quelle: picture-alliance / akg-images
Die altbekannten geopolitischen Probleme des 19. Jahrhunderts tauchen wieder auf: Russland ist auf dem Kontinent zurück, Europa ist schwach, und Deutschland droht plötzlich wieder allein dazustehen.

Es mutet an wie eine Sinnestäuschung. Dabei will der Eindruck nicht weichen, das noch junge Jahrhundert führe politisch eher das 19., denn das ihm vorausgegangene 20. fort. So scheint es, als würde das eine oder andere gewichtige Gemeinwesen sich entlang angeblich längst abgelebter Muster politischen Handelns neu aufstellen. Solche Wahrnehmung gilt in erster Linie Wladimir Putins Russland. Mit dem Verfall der Sowjetunion war Russland aus Mitteleuropa zurückgeflutet. Gegenwärtig macht es offenbar Anstalten, sich als unabkömmlicher Machtfaktor, als Arbiter Europas ins Spiel zu bringen.

Dazu bedient es sich in auffälliger Weise der Sprache der Geopolitik, und dies vor einer Geschichtskulisse die so manche Konturen des 19. Jahrhunderts aufweist. In Abweichung zum vormaligen ideologisch aufgeladenen Gegensatz zwischen Ost und West in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt sich eine Unterscheidung zwischen Russland und dem Westen, zwischen Russland und Europa ein, die jene abgelebt erscheinende Vergangenheit evoziert. Diese Unterscheidung beruht auf der Wiederkehr von Elementen der Tradition, des Glaubens und den Maßgaben der Geografie.

Russland geriert sich als Hüter althergebrachter Werte. Eine Bastion des Konservativismus angesichts eines vorgeblich in Verfall begriffenen Westens.

Gedächtniskulisse des 19. Jahrhunderts

Im Verlaufe des letzten Jahrzehnts hat sich in Moskau offenbar die Einsicht durchgesetzt, ein Anschluss Russlands an die westliche Lebensweise werde dem Land entweder nicht gelingen oder nicht gut bekommen. Statt anstehender Modernisierung gab es der Rohstoffextraktion Vorrang, vornehmlich im Bereich der Energieträger Erdgas und Erdöl.

Dan Diner ist Historiker. Er lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist ehemaliger Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur am Historischen Seminar der Universität Leipzig
Dan Diner ist Historiker. Er lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist ehemaliger Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur am Historischen ...Seminar der Universität Leipzig
Quelle: picture alliance / dpa

Eine Art der Wertschöpfung, die eine Verfestigung eines sich inzwischen etablierten autokratischen Regimes nach sich zog. So wurde die Annäherung der Ukraine an Europa und damit an den Westen im Kreml nachgerade als Kampfansage, ein letztendlich auch Russland zu erfassen drohender Regimewechsel verstanden. Der mit der russischen Annexion der Krim erfolgte Paukenschlag sollte die Kehre Russlands vor aller Welt sichtbar machen. Die russische Föderation, so war verlautbart worden, werde sich vom Westen fürderhin nicht weiter herumschubsen lassen.

Es sei jetzt an Russland, Sprache, Begriffe und Modi der großen Politik zu bestimmen – und dies vor einer dem 19. Jahrhundert entliehenen Gedächtniskulisse. Mittels einer Strategie zwiespältigen Handelns bei porös zu haltenden Grenzen, vornehmlich nach Westen und nach Süden hin, wird die unmittelbare Nachbarschaft Russlands in chronische Unsicherheit und Unruhe versetzt. Begleitet wird diese Politik von einer in vollem Gange sich befindlichen grundständigen Militärreform. Es scheint, als kompensiere Russland darüber sein strukturelles Entwicklungsdefizit.

Konfliktlagen der Gegenwart

Russlands undurchsichtiges Agieren belastet die historische Schütterzone europäischer Politik – von der Ostsee, hinab zum Schwarzen Meer, durch die Ägäis hindurch, bis hin zur Levante. Der ethnisch-religiös eingefärbte syrische Bürgerkrieg ist willkommenes Einfallstor, ein gleichsam nach allen Richtungen einsetzbarer Hebel für den großen Auftritt Russlands – seiner Rückkehr in die Weltpolitik. Tatsächlich stehen die Verhältnisse zunehmend unter russischem Vorbehalt – „sous l’oeil des Russes“, wie es im 19. Jahrhundert hieß.

Hierzu scheint auch die vormalig gültig gewesene südliche Konfliktkonstellation – der lang andauernde historische Gegensatz zwischen dem Osmanischen Reich bzw. der Türkei und Russland aufs Neue aktiviert zu werden. Dass die militärische Parteinahme Russlands für das Regime Assads zunehmend mit Argumenten arbeitet wie „Moskau schützt die Christen des Orients wie auch heterodoxe Muslime vor der tödlichen Bedrohung durch eine um sich greifende radikalisierte sunnitische Orthodoxie“, ist mit den auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden historischen Gedächtnisschichten kompatibel.

Solche Konstellationen kommen den realen Konfliktlagen der Gegenwart durchaus entgegen. So der in die tiefe Vergangenheit zurückreichende Umstand, dass das zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich von heterodoxen Muslimen und orthodoxen Christen getragene Regime Assads und dessen vornehmlich agrarischem Milieu erwachsenen Militärs einer städtischen sunnitischen Bevölkerung gegenüberstehen, deren administrative und ökonomische Funktionseliten auf die osmanischen Zeit zurückgehen.

Folgen europäischer Desintegration

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Dass Assad mit russischer Unterstützung gegen das eigene Volk Krieg führe, ist insofern nur zum Teil richtig. Im Prinzip führt er inzwischen einen ethnisch-religiös eingefärbten Feldzug gegen die als andere und als feindlich empfundene sunnitische Mehrheit. So gesehen kommt dem entsetzlichen Schlachten in Syrien auch der Charakter ethnisch-religiöser Säuberungen zu.

Die davon ausgelöste gewaltige Fluchtbewegung stellt die Kohäsion der Europäischen Gemeinschaft in Frage. Russland dient der zunehmende Verlust europäischen Zusammenhalts nicht zuletzt dazu, die in die Ukraine, also in seinen Vorhof vorgedrungene Europäische Gemeinschaft zurückzuwerfen, sie womöglich zu zerschlagen. Ob dies kalkuliert oder zustimmend in Kauf genommen wird, ist unerheblich. Mittels seiner Rolle als Präzeptor der syrischen Frage verfügt Russland jedenfalls mit über das Schicksal Europas. Und ins Epizentrum einer solchen Tendenz europäischer Desintegration rückt Deutschland ein, genauer: die Wiederkehr der deutschen Frage.

Deutsche Frage und europäische Einigung sind auf das Engste miteinander verzahnt. Die Ursprünge der europäischen Idee entsprangen nicht zuletzt dem politischen Willen, Deutschland als das größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste europäische Gemeinwesen nach zwei verheerenden Weltkriegen, die zuvörderst deutsche Kriege waren, zu neutralisieren.

Mit der Fluchtbewegung von Zigtausenden Migranten, vornehmlich aus Syrien, wächst Deutschland so etwas wie eine moralische Hegemonie in Europa zu

Diese Neutralisierung kam im europäischen Gewand daher und war in ökonomischer Semantik verkappt. Die deutsch-französische Aussöhnung gehört zu ihrem Kernbestand. Dieses Vorhaben vollzog sich im Zeichen des Kalten Krieges und wurde von diesem befördert. Mit der Vereinigung Deutschlands, dem Zerfall der Sowjetunion, dem Rückzug Russlands auf sich selbst und der voranschreitenden Auszehrung der Nato war dem europäischen Einigungsprozess das stützende Geländer entzogen.

Dabei nahm das Gewicht Deutschlands zu. War die frühe, vielleicht allzu frühe Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung, des Euro, zuerst und infolge der deutschen Vereinigung politisch dazu gedacht gewesen, die deutsche Währungssouveränität bzw. die Unabhängigkeit der Bundesbank nicht nur auf französische Initiative hin zu beschneiden, offenbarte sich die Gemeinschaftswährung nach fast zwei Jahrzehnten und im Zeichen der Krise als eine verdeckte DM.

Mittels der gemeinsamen Währung werden bei allen immer wieder geschlossenen europäischen Kompromissen die Parameter deutschen Wirtschaftens der Euro-Zone auferlegt und so europäisch verallgemeinert. Und dies bis in das weiche Gewebe von Gemeinwesen hinein, deren Kulturen des Produzierens und Haushaltens den in der Währung verschlüsselten Maßeinheiten nicht zu entsprechen vermögen. Gänzlich unbeabsichtigt stellt sich in Europa eine materielle deutsche Hegemonie ein.

Ein präzedenzloser Wandel

Mit der Fluchtbewegung von Zigtausenden Migranten, vornehmlich aus Syrien, wächst Deutschland – und dies nicht zuletzt aufgrund seiner der nazistischen Vergangenheit wegen sich selbst auferlegter ethischer Maßgaben – so etwas wie eine moralische Hegemonie in Europa zu, eine Rolle, die von anderen wenig gelitten sein dürfte. So drückt die Deutschland zugewachsene materielle und moralisch-hegemoniale Rolle das Land aus Europa heraus.

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Euro-Krise und Flüchtlingskrise rütteln an den Verankerungen Europas. Die Folgen dürften sich in demokratisch verfassten Gemeinwesen im Wahlverhalten niederschlagen. Noch reflektieren die Parteien in ihrer gegenwärtigen Aufstellung politisch die Zeit davor – vor dem präzedenzlos eingetretenen Wandel. Besonderer Gefährdung sind die sozialdemokratischen Parteien in Europa ausgesetzt. Schließlich handelt es sich bei der klassischen Sozialdemokratie im Kern um eine Partei sozialer Anwartschaft – der historisch eingegangenen Verbindung von National- und Wohlfahrtsstaat erwachsen. Im Prinzip schließen sich Strukturen sozialer Anwartschaft und Einwanderung aus.

Die der Not der Gegenwart entsprungene Einwanderung richtet sich nolens volens gegen die Legitimität einer kumulierten Vergangenheit. Praktisch wird diese tektonische Spannung im europäischen, vor allem im deutschen Kontext noch eine Weile durch den angehäuften gesellschaftlichen Reichtum abgefedert und damit gestreckt. Nichtsdestotrotz dürften die ebenso vorhersehbaren wie zu befürchtenden Verschiebungen in der Parteienlandschaft genau dort ihr Epizentrum haben. Bis es zu einer solchen Offenbarung kommt, vermag sich die Politik noch geborgter Zeit zu bedienen.

Eine aus dem Ruder laufende Renationalisierung

Dan Diners Buch „Das Jahrhundert verstehen (1917-1989). Eine universalhistorische Deutung“ ist jüngst bei der Deutschen Verlagsanstalt (DVA), in neuer Auflage erschienen
Dan Diners Buch „Das Jahrhundert verstehen (1917-1989). Eine universalhistorische Deutung“ ist jüngst bei der Deutschen Verlagsanstalt (DVA), in neuer Auflage erschienen
Quelle: verlag

Die sich denkbar abzeichnende Veränderung der Parteienlandschaft könnte vor dem Hintergrund einer befürchteten Desintegration der Europäischen Gemeinschaft von Erschütterungen erfasst werden die auf die Wiederkunft Russlands zurückgehen. Bei einer aus dem Ruder laufenden Renationalisierung Europas würden alte, auf Konstellationen des 19. Jahrhunderts verweisende Tendenzen überhandnehmen. Die Etablierung einer russischen Partei wäre nicht ausgeschlossen, auch und vor allem nicht in Deutschland. Dies hätte weitreichende Folgen sowohl für das deutsch-polnische wie das deutsch-französische Verhältnis.

Einem Buhlen europäischer Gemeinwesen untereinander um das Wohlwollen Russlands wären Tür und Tor geöffnet. Ein Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Gemeinschaft würde einer solchen Tendenz massiv Auftrieb geben. Gleichwohl ist zu hoffen, ein solches Szenario möge sich als eine in Luft auflösende Schimäre erweisen und das 19. Jahrhundert als eine ganz und gar abgeschlossene Epoche.

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