Gastkommentar

Moral – ein Kostenfaktor

Welches Kalkül veranlasst ein Unternehmen, vorsätzlich zu betrügen?

Thomas Beschorner und Martin Kolmar
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Auf VW rollt eine Klagewelle zu. (Bild: Fabian Bimmer / Reuters)

Auf VW rollt eine Klagewelle zu. (Bild: Fabian Bimmer / Reuters)

Die Manipulation der Abgaswerte von Volkswagen und eine Vielzahl von Verfehlungen anderer Unternehmen werden flächendeckend mit Kopfschütteln diskutiert. Welches Kalkül veranlasst ein Unternehmen, vorsätzlich zu betrügen?

Unternehmen planen strategische Entscheidungen sehr sorgfältig. Sie fertigen Untersuchungen und Analysen an, die über die Chancen und Risiken unternehmerischer Entscheidungen informieren. Wenn wir davon ausgehen, dass die Informationen, die Journalisten in wenigen Tagen recherchiert haben, in ähnlicher Form auch dem Volkswagen-Konzern vorlagen, stellt sich die Frage nach der Rationalität bewusster Täuschungen. Wie könnte eine solche Rechnung aussehen?

Eine Möglichkeit besteht darin, finanzielle Risiken als potenzielle Kosten in der Erfolgsrechnung zu berücksichtigen. Da der erwartete Ertrag die potenziellen Kosten übersteigt, entscheidet sich ein Unternehmen für den Betrug. Bei Entscheidungen unter Unsicherheit können sich Investitionsprojekte rentieren – oder auch nicht.

Recht und Moral sind in diesem Fall nicht etwas, an das man sich «unbedingt» hält, sondern zwei von vielen Kontextfaktoren, denen keine spezielle Bedeutung zukommt. In einer Gesellschaft, die Steuerhinterziehung als «Steueroptimierung» bezeichnet und Strafen für Geschwindigkeitsübertretungen und falsches Parkieren als Preiszuschlag wahrnimmt, erstaunt es kaum, dass Tugenden wie Ehrlichkeit, Mässigung und Gerechtigkeit eine strategische Grösse werden.

Ein erster Reflex, um diesem Problem zu begegnen, ist der Ruf nach stärkeren Regulierungen und Kontrollen. Die Vorstellung, Verantwortung systematisch an Institutionen abzugeben, ist fester Teil der westlichen Denktradition der Neuzeit. Anders als bei Aristoteles, der den guten Staat dadurch ausgezeichnet sah, dass er den Bürgern dabei hilft, gut zu werden, hat sich seit Niccolò Machiavelli ein anderes Verständnis durchgesetzt: Es sei nun einmal so, dass der Mensch seinen Eigeninteressen folge. Somit liege die gesamte Verantwortung für eine gelingende Gesellschaft auf der Regelebene des Staates. Welch eine moralische Entlastung für den Einzelnen!

Die Delegation von Verantwortung an Regelsysteme wird durch ein Machbarkeitsethos noch verschärft. Innerhalb dieser Rationalitäten beherrscht man sein Metier – technisch und damit auch gesellschaftlich: «Vorsprung durch Technik».

Die meisten Menschen sind fest davon überzeugt, dass sie das Richtige tun – auch im moralischen Sinne. Aber sie unterscheiden sich in ihrer Einschätzung, was das Richtige ist. Die psychologische Forschung und die experimentelle Ethikforschung liefern dafür eine Erklärung: Menschen bauen sich Geschichten, die ihr Handeln für sie selbst erklärbar und rechtfertigbar machen. Dabei geht es nicht primär um Wahrhaftigkeit, sondern um die Stabilisierung des eigenen Handelns.

Ein nach allgemeinem Verständnis ethisch fragwürdiges Verhalten ist dabei umso einfacher zu rechtfertigen, je besser es in die grösseren kulturellen Narrative einer Gesellschaft passt. Jahrzehnte einer ideologischen Interpretation der Idee, dass sich in einer Marktwirtschaft Eigeninteresse automatisch in Gemeinwohl übersetzt, waren hierbei sicherlich ebenso wenig störend wie die verbreitete Vorstellung, dass die einzige Pflicht des Unternehmens die Gewinnerzielung sei. In einem solchen kulturellen Milieu fällt es nicht schwer, das eigene Verhalten jenseits von moralischen Kategorien wahrzunehmen.

Es ist kein Zufall, dass die jüngsten Vorfälle bei Volkswagen in einem technischen Produktionszweig vorgefallen sind. Doch wir sollten technisch-ökonomisches Denken nicht mit technikaffinen Unternehmen und Branchen gleichsetzen. Die auch heute noch an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten vermittelten Inhalte speisen sich aus einem den Naturwissenschaften nahen Denken. Da werden Gleichgewichtspunkte zwischen Angebot und Nachfrage errechnet und in Unternehmen Hebel umgelegt und wird an Schrauben gedreht, damit «die Sache funktioniert».

Schwierigkeiten mit der Moral gibt es im Grunde gar nicht, da sie in diesem Denken nicht relevant ist. In fortschrittlicheren Ansätzen ist Moral ein Produktionsfaktor – mehr nicht.

Die Angelegenheit ist ernst, denn wir können hier beobachten, dass sich Unternehmen durch arglistige Täuschungen ausserhalb von demokratischen Ordnungen stellen und diese durch ihre Praktiken unterminieren. Deutlich zeigt sich: Das Informationsgefälle zwischen Management und Mitarbeitenden, zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit schafft Spielräume, die einen Keil zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl treiben.

Diese und eine Vielzahl anderer moralischer Probleme in der Wirtschaft deuten in dieselbe Richtung: Die Informationsvorsprünge und die Tragweite von unternehmerischen Entscheidungen schaffen eine besondere, auch moralische Verantwortung für die Menschen, die solche Entscheidungen fällen. Wir müssen darauf hinwirken, dass Verantwortung als ein besonderes Privileg gesehen wird – und nicht als Kostenfaktor.

Thomas Beschorner ist Professor und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. Martin Kolmar ist Professor und Direktor der Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie an der Universität St. Gallen.

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