Wer spielt hier eigentlich für wen?

Co-Regisseur Jörg Karrenbauer über das Konzept von „Remote Erlangen“

Sollte Ihnen im Oktober eine Horde von 50 Menschen in Erlangen auffallen, die sich mit Kopfhörern ausgestattet, ihren Weg durch die Stadt bahnen, dann haben diese Menschen gerade ein besonderes Theatererlebnis „auf den Ohren“. Bei „Remote X“ von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi/Jörg Karrenbauer) werden die Teilnehmer von einer künstlichen Stimme gesteuert, wie man sie aus GPS-Navigationsgeräten oder von Ansagen in Bahnhöfen kennt. Gemeinsam erschließt sich die Gruppe die Stadt, wobei es nicht um eine Tour zu stadtspezifischen Sehenswürdigkeiten geht. Gefärbt von der Stimme im Ohr, ergibt sich der Blick auf die Umgebung: Kollektives Erleben und individuelles Reflektieren der gemeinsamen Handlungen bedingen sich hier.
Im Interview mit net:works erläutert der Co-Regisseur Jörg Karrenbauer Konzept, Idee und eigene Erfahrungen mit dem interaktiven Audiowalk.

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Foto: Rimini Protokoll

net:works: Euer Projekt heißt „Remote X“. Wofür steht dieser Titel?

Remote oder remote controlled hat im Englischen zwei Bedeutungen: Fernsteuerung, ferngesteuert sein – aber es meint auch „außerhalb“ vom Zentrum. Bei uns behält es diese Doppeldeutigkeit. Zum einen wird das Publikum von einer Stimme ferngesteuert, ähnlich einem GPS-System, zum anderen starten wir die Tour auch außerhalb der Stadt. Und das „X“ steht für die Stadt, in der die Tour stattfindet. Es gibt einen dramaturgischen roten Faden und das Konzept wird an die jeweilige Stadt angepasst.

net:works: Ihr habt „Remote X“ schon in verschiedenen Städten weltweit durchgeführt, darunter in Berlin, New York, Sao Paulo, Moskau. Ihr sagt, dass jede neue ortsspezifische Version auf der Dramaturgie der Vor-Stadt aufbaue und das Stück fortschreibe. Was bedeutet das für „Remote Erlangen“?

Erlangen wird die 22. Stadt sein. Als wir 2013 in Berlin anfingen, haben wir noch viel mit Audio-Einspielungen im Sinne von Reportagen gearbeitet. Dann wurde uns aber der Bezug des Zuhörers zu einer Stimme wichtiger als die fachlichen Informationen eingespielter Experten. Und was die Städte angeht, so schreiben wir die Dramaturgie des Stücks immer weiter und passen die Texte dem Verlauf der Tour in der jeweiligen Stadt an. Im Laufe der verschiedenen Städte sind so Orte dazugekommen, die wir versuchen auch in die Dramaturgie der nächsten Stadt einzubauen. Da finden sich natürlich Parallelen zwischen den Städten. Größere Unterschiede gibt es, wenn es Richtung Innenstadt geht. Die Distanzen sind oft andere, wobei die in Erlangen tatsächlich viel größer sind, als ich erwartet hatte. Aber es gibt jetzt nichts Erlangen-Spezifisches, außer, dass man – zumindest soweit wir die Tour bisher geplant haben – immer über den großen Uniklinik-Komplex stolpert. Was schon besonders ist in Erlangen, dass er sich so weit in das Stadtzentrum hineinschiebt.

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Jörg Karrenbauer

net:works: Die besondere Herausforderung an Erlangen sind die – man glaubt es kaum – großen Distanzen?

Ja tatsächlich! Es gibt eine große Fülle an Friedhöfen und Kirchen, was zwei unserer Orte sind, die wir gerne einbinden. Zum einen macht es die Auswahl schwer, zum anderen sind die Distanzen zu den Orten, die uns noch interessieren, zu Fuß doch recht groß.

net:works: Schreibt ihr euch mit dem „Remote X“-Konzept mehr in die Stadt ein oder ist es eher umgekehrt, dass sich die Stadt in „Remote X“ einschreibt?

Es geht mehr in Richtung Beobachtung, wie sich eine Gruppe von 50 Leuten in der Stadt verhält. Das hängt natürlich davon ab, wie die Gruppe mit der Stadt interagiert und wie die Passanten darauf reagieren. Dabei versuchen wir das Verhalten der Gruppe und das der Menschen drumherum möglichst präzise vorherzusagen. Die Tour ist auch ein Spiel damit, wie vorhersagbar unser Verhalten innerhalb einer Gruppe oder, von außen betrachtet, auf eine Gruppe ist. Und wie vorhersagbar ist unser Leben im Alltag bereits, damit wir von all den technischen Hilfsmitteln unterstützt werden können. Um nichts anderes geht es ja bei vielen Technologien, als eine Vorhersagbarkeit von menschlichem Verhalten.

net:works: 50 Personen pro Tour: So eine Gruppe wird in Erlangen wohl auch auffallen.

Wenn alle plötzlich stehen bleiben und die gleiche Bewegung machen, dann erregt das natürlich Aufmerksamkeit. Dabei ist meine Erfahrung: Je größer die Stadt, desto weniger reagieren die Leute auf die Gruppe. Vielleicht weil sie denken, sie müssten sich irgendwie dazu verhalten oder sie werden in irgendwas hineingezogen. Großstädter sind eher in der Lage Ungewohntes oder Irritierendes auszublenden. In kleineren Städten sind die Leute mehr verbunden mit der Stadt. Sie fühlen sich eher verantwortlich und wollen wissen was da vorgeht. Ob man die Polizei rufen muss oder ob man mitmachen kann. Auf der einen Seite ist die Reaktion der Passanten abhängig von der Größe der Stadt, auf der anderen Seite aber auch von der Mentalität. In Brasilien oder Indien sind die Leute viel partizipativer, fangen spontan an mitzutanzen. In Hannover oder Berlin passiert das eher selten. Das Spiel – Wer beobachtet wen? Wer performt für wen? – ist ein wichtiger Bestandteil der Tour. Dabei geht es auch um die Theatralität unseres Alltags und wann wir anfangen, etwas als Performance wahrzunehmen.

net:works: Wir sind auf jeden Fall gespannt, wie die Erlanger reagieren werden. Vielen Dank für das Gespräch!

„Remote Erlangen“ vom 10. bis 24. Oktober in Erlangen. Link zur VeranstaltungKartenvorverkauf: Link

Wie Rimini Protokoll Erlangen erkundet haben: Blogbeitrag

 

Rainer Hertwig am 30. September 2015