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EU-Gipfel Hollande und Merkel vereint im Zorn auf Obama

Eigentlich wollte Kanzlerin Merkel sich beim EU-Gipfel als Reformerin Europas präsentieren. Doch nun droht der Verdacht, dass US-Geheimdienste ihr Handy überwachten, das Treffen zu überschatten. Denn auch Frankreichs Staatschef Hollande beschwert sich über Obama.
Merkel und Hollande: Telefonbeschwerden bei Obama

Merkel und Hollande: Telefonbeschwerden bei Obama

Foto: ? Laurent Dubrule / Reuters/ REUTERS

Angela Merkel mag als gelernte Physikerin Versuchsanordnungen. Ihr Auftritt beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag und Freitag sollte ein Versuch der besonderen Art sein: Die Kanzlerin wollte wichtige Zutaten einer Reform der europäischen Institutionen sorgfältig bereit legen, auch deren Vermischung vorbereiten.

Und dann passierte, was dem gewieftesten Wissenschaftler passieren kann - es kommt etwas dazwischen: Wie das Bundeskanzleramt am Mittwoch als Reaktion auf eine SPIEGEL-Recherche bekanntgab, war Merkel möglicherweise über Jahre hinweg Ziel US-amerikanischer Geheimdienste.

Eine Überprüfung durch den Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik haben Merkel veranlasst, sich am Mittwoch direkt bei US-Präsident Barack Obama zu beschweren. In dem Telefongespräch mit Obama machte Merkel klar, "dass sie solche Praktiken, wenn sich die Hinweise bewahrheiten sollten, unmissverständlich missbilligt und als völlig inakzeptabel ansieht", sagte ihr Sprecher Steffen Seibert. "Dies wäre ein gravierender Vertrauensbruch. Solche Praktiken müssten unverzüglich unterbunden werden." Außenminister Westerwelle hat für den Nachmittag den US-Botschafter einbestellt - ein ungewöhnlicher Vorgang in den deutsch-amerikanischen Beziehungen.

Auch Hollande beschwerte sich bei Obama

Die Affäre soll beim EU-Gipfel zur Sprache kommen. "Ich denke, dass wir das teilweise im Europäischen Rat diskutieren werden", sagte die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite, Litauen führt derzeit die EU-Ratspräsidentschaft.

Die Praktiken der US-Geheimdienste werden in Brüssel auch zum wichtigen Thema, weil Frankreichs Präsident François Hollande diese unbedingt debattieren möchte. Merkel und Hollande werden auf dem Gipfel über die Spionagevorwürfe beraten.

Die französische Regierung hatte nach Berichten über das massive Ausspähen französischer Bürger - mehr als 70 Millionen Telefonate sollen binnen eines einzigen Monats abgehört worden sein - bereits den US-Botschafter in Paris einbestellt. Tagsdrauf hatte Hollande Barack Obama persönlich am Telefon und beschwerte sich massiv: "Inakzeptabel" seien solche Spionageaktivitäten zwischen Freunden und Verbündeten, sie verletzten die "Privatsphäre der französischen Bürger". Zuvor hatte sich Frankreichs Premierminister Jean-Marc Ayrault "zutiefst schockiert" gezeigt.

Die Franzosen wollen, dass die geplante EU-Datenschutzverordnung "rasch" umgesetzt werden soll. Denn die Konsultationen der Europäer mit den Amerikanern über ihre Abhörprogramme, die nach den ersten Snowden-Enthüllungen eingeleitet wurden, seien "unzureichend". Am Mittwoch hatte das EU-Parlament weiter den Druck erhöht, als es in einer Resolution die Aussetzung des Swift-Abkommens mit der USA zur Übermittlung europäischer Bankdaten forderte.

Das ursprüngliche Ziel der Bundesregierung für den Gipfel dürfte durch den Spähverdacht in den Hintergrund geraten: Reformbereitschaft in Europa zu signalisieren, laufenden Koalitionsverhandlungen zum Trotz. Erst hatte Merkel nach SPIEGEL-Informationen erwogen, der EU-Kommission mehr Rechte einzuräumen, etwa bei der Überwachung von Staatshaushalten der Mitgliedstaaten. Dann ließ das Kanzleramt am Mittwoch streuen, wie Berlin sich eine Einigung zur Abwicklung maroder europäischer Banken ausmalen könne.

Deutschland will Gesprächsbereitschaft signalisieren

Als Kompromissvorschlag wäre demnach eine europaweite Haftung für 130 Großbanken denkbar, nicht aber für sämtliche 6000 Banken im Euro-Raum. Geriete eine Institution in Schieflage, sollten zudem nach einer "Haftungskaskade" zunächst Eigentümer und Gläubiger zur Kasse gebeten werden, erst ganz am Ende der Steuerzahler. Und vor allem: Nationale Parlamente müssten allen staatlichen Rettungspaketen ihre Zustimmung erteilen, insbesondere natürlich der Deutsche Bundestag, dies sei schließlich im Grundgesetz ausdrücklich so vorgesehen.

All diese realen oder gestreuten Vorschläge haben eines gemeinsam: Sie sind nicht neu, einige werden seit Jahren debattiert. Originell ist höchstens ihre Verknüpfung. Dass sie nun überhaupt kursieren, wird in Kommissionskreisen als "ermutigendes Zeichen" gewertet. So könne der Druck aufrechterhalten werden, bis zum Jahresende die politischen Weichen etwa für eine europäische Bankenunion zu stellen.

Das Problem des deutschen Reformvorstoßes: In Berlin gibt es noch keine Große Koalition. Die SPD sitzt in Brüssel lediglich durch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz mit am Tisch, der auch für die Sozialdemokraten in den Verhandlungen mit CDU/CSU die Europathemen betreut.

Es gehe bei den Berliner Reformvorschlägen eher um "Vorwärtskommunikation", heißt es in Brüsseler Kreisen. Deutschland wolle Gesprächsbereitschaft signalisieren, nachdem sein Wahlkampf die Europapolitik lange lähmte. Außerdem solle der Blick darauf gelenkt werden, dass neben Deutschland auch andere Mitgliedstaaten Zweifel gegenüber manchen Reformschritten hegten - etwa einer zu starken Rolle der EU-Kommission bei der Bankenabwicklung.

Merkels Tenor lautet also: Ja, aber. Zugeständnisse bei der wichtigen Bankenunion, wenn andere Mitgliedstaaten im Gegenzug akzeptieren, sowohl bei der Reform ihrer Arbeitsmärkte als auch ihrer Verwaltungen härter kontrolliert zu werden. Denn dass andere Mitgliedstaaten in diesen Punkten ihre Hausaufgaben bereits erledigt haben, glaubt Berlin nicht. Daher drängt Deutschland weiter auf Strukturreformen in Europa.

Wie dieser Mix aus Zuckerbrot und Peitsche genau funktionieren kann, wird also frühestens beim nächsten Gipfeltreffen im Dezember auf der Tagesordnung stehen. Vorerst steht nur fest, was am Donnerstag und Freitag nicht entschieden wird: das Asylproblem. Sicherlich ist es, auch auf Druck Italiens, durch das Drama vor Lampedusa ein Thema. Aber konkrete Maßnahmen wird es kaum vor den Parlamentswahlen im Mai 2014 geben, schließlich soll das heikle Thema populistischen Parteien nicht weiter Auftrieb geben.