Abgehört Die wichtigste Musik der Woche
Tom Petty & The Heartbreakers - "Hypnotic Eye"
(Warner, seit 1. August)
Vor ziemlich genau acht Jahren schrieb ich an dieser Stelle zu Tom Petty: "Solange Sie Bartträger sind, wird sich keine Frau mehr bei Ihnen melden und kein flüchtiger Bekannter hält Sie auf der Straße mit Belanglosigkeiten auf. Deshalb unser Tipp an die männlichen Leser: Legen Sie die neue und sehr gute Tom-Petty-Platte auf und lassen Sie sich dabei einen Bart wachsen - man wird sie dann gleich doppelt ächten."
Schon bald darauf kam man ohne Bart in keine Kneipe mehr rein, und irgendwann gab es nur noch Bärte, selbst die "Bachelorette" wählte für ihr Bett-Date gezielt den langmähnigen, "empfindsamen", tätowierten Hänger im wahnhaften Peter-Közle-Modus (circa 1994). Aber an den uns in der Jetztzeit besonders durch ihre Facebook-Fotos vom Melt!-Festival bekannten Jungbärten (die durchaus über 40 sein können, das fällt heutzutage nicht mehr auf) wird "Hypnotic Eye" wohl gnädig vorbeirauschen.
Euer Verlust, Leute, denn was die jetzt schon legendären Auftritte der letzten Tour vorwegnahmen, ist nun auf "Hypnotic Eye" zu besichtigen: Die Heartbreakers in der Form ihres Lebens, Petty mit ein paar der ungezähmtesten und anrührendsten Songs seit "Wildflowers". Das Riff aus "American Dream Plan B" könnte natürlich auch von Helmets "Betty" stammen, und die ersten Sekunden des überwältigenden "Red River" evozieren "Don't You (Forget about Me)".
Doch Pettys Säuseln, sein Näseln und Sehnen, sein "Lebensdrang nach Freiheit" (Peter Maffay, "Steppenwolf", 1979) sind unverkennbar, unkopierbar, ungestillt: "I'm gonna walk her down to Gypsy Town/ Find a spirit queen I've seen around/ Paint her body up in mud/ Let the river wash it all away". Was Mike Campbell und Scott Thurston auf dieser Platte an den Gitarren leisten, ist exquisit: Die Heartbreakers als hochpräzises Uhrwerk, als magisches Pendel universeller Befindlichkeiten und Macht aus dem Reich der Schatten: "Could be thinking of love/ Might be thinking of hate/ I guess it pretty much could go either way".
Neben dem unfassbar gut abgehangenen Abspann "Shadow People" ragt vor allem das raffinierte "Full Grown Boy" heraus: Auf dem Abhang wird, weit weg, gelacht, doch die Stimmen kommen näher. "How am I gonna tell her that I love her?" When the rain washes you clean you'll know. (8.3) Jan Wigger
Friedrich Liechtenstein - "Bad Gastein"
(Heavy Listening Records, seit 25. Juli)
Ich war noch nie in Bad Gastein, dennoch verknüpfe ich mit dem Kur- und Wintersportort in Österreich etliche Kindheitsträumereien. Meine Großeltern waren nämlich mehr als einmal dort und hatten von ihren Besuchen, wahrscheinlich in den späten Fünfzigern, Andenken-Plaketten mit bunten Bergmotiven mitgebracht, die nun leuchtend neben den in Holz geschnitzten Dürer-Händen im dunklen, dämmerigen Treppenaufgang zum ersten Stock ihres Hauses hingen, wo ich kurioserweise oft spielte, wenn ich zu Gast war. Einige kleinere dieser Plaketten zierten auch den Gehstock meines Opas, mit dem ich gerne Luftgitarre spielte. Bad Gastein, ein sagenumwobener Fabelort, ein in die Fantasie entrücktes, sagenhaft reiches und glamouröses Bergreich, in das sich auch Friedrich Liechtenstein auf seinem Debütalbum träumt.
Auch Liechtenstein, ein 55-jähriger Lebenskünstler aus Berlin, spielte nicht nur oft in einem Treppenaufgang, er lebte zeitweise sogar in einem; als schmückender Eremit in der Architektur-Preziose L-40 in Mitte, wo der mittellose Ex-Puppenspieler, Ex-Schauspieler und Ex-Theatermacher Asyl fand. Das war, bevor er mit dem zum Edeka-Werbespot umgedeuteten Elektro-Schlager "Supergeil" erst zum viralen YouTube-Phänomen und dann zum Maskottchen der deutschen Event-Schickeria wurde. Zusammen mit den musikalischen Avantgarde-Künstlern Carl Schilde und Anselm Venezian Nehls nahm er nun ein Album auf, das so gar nicht den Erwartungen dieses nach griffigen Pop-Splittern gierenden Klientels entsprechen dürfte. Es sind vielmehr die halb biografischen, halb fiktiven Erinnerungen eines Mannes, der viel, vielleicht zu viel von der Welt gesehen hat und das eitle Treiben in Hedonismus-Hochburgen wie Bad Gastein aus der Warte des lakonischen Beobachters bespiegelt. Die Welt der Reichen aus der Sicht des Flaneurs, der auf Partys zwar den weltgewandten Unterhalter gibt, am nächsten Tag aber den Smoking zurück zum Verleih gibt und im Café um den Espresso bettelt. Bad Gastein, das ist auch eine Folie, die Liechtenstein über den langsam verblassenden Glanz und die blätternde Glorie Berlin-Mittes legt.
Mit der sonoren Stimme eines lebensweisen Chansonniers schwelgt er in Erinnerungen vom verlockenden "Elevator Girl" und zitiert das bekokste Wiener Lebensgefühl Falcos in "Kommissar d'Amour", zitiert dabei Kraftwerk, Italo-Pop und den kühl dahinpluckernden Synthiepop der Achtziger. Das ist manchmal herrlich schwachsinnig ("Goldberg & Hirsch"), manchmal aber auch von einer raum- und tiefgreifenden Grandezza, die jede mehrfach ironisierte Geste durchbricht, im zehnminütigen Sprechgesang "Belgique, Belgique" zum Beispiel, Liechtensteins singulärem Meisterstück. Darin erzählt er eine schillernde, delirierende Eulenspiegelei seines Lebens von 1958 bis heute, von der schönen Brüsseler Vermietertochter Brigitte, der deutschen Krankenschwester Barbara, seiner Wandlung vom Go-Go-tanzenden "Delphinmann" über den Tod durch Ausrutschen als "Kugelfisch" beim Boccia-Spielen. "Aber das war nicht schlimm", sagt Liechtenstein, bevor der bis dahin eher getragene Song gegen Ende in fröhliches Disco-Gehüpf kippt, "ich machte Platz für mein zweites Ich", den "Elevatorman": "Ich sag' euch, das Leben kann sehr kurz sein, wenn man sich auf zu wenig Dinge konzentriert".
Die drei wohlfeilen Coverversionen von Bacharach, Armstrong und Waits am Ende hätte er sich dann auch schenken können. Allemal staunenswerter sind seine eigenen, tragisch-komischen Nostalgiegeschichten vom Schelm, der im Fahrstuhl des Lebens mehrmals rauf und runter gefahren ist und gerade mal wieder obenauf ist. Überraschend geil. (7.7) Andreas Borcholte
White Fence - "For The Recently Found Innocence"
(Drag City/Rough Trade, seit 1. August)
Neulich nochmal durch Tim Presleys frühe Werke "White Fence" und "Is Growing Faith" gehört, bevor ich dann sein mittlerweile achtes Album auflegte. Was für einen Quantensprung der Mann in nur vier Jahren vollbracht hat! Von verspulten, im heimischen Schlafzimmer auf Vierspurgerät aufgenommenen Songs wie "Slaughter on Sunset Strip" mit ihren einfach mal mittendrin wechselnden Rhythmen und Geschwindigkeiten oder irgendwo geklauten, dilettantisch geloopten Drums ist nicht viel geblieben. Was sich bereits auf "Cyclops Reap" letztes Jahr andeutete, wird auf "For The Recently Found Innocent" endgültig manifest: Die Zeit der vermurmelten, verhallten Lo-Fi-Spinnereien ist vorbei. Erstmals nahm der in L.A. lebende Presley eine Platte außerhalb der eigenen vier Wände auf, und zwar in der Garage seines Kumpels Ty Segall, der mit Presley zusammen nicht nur 2012 das hervorragende Psychedelic-Rockalbum "Hair" aufnahm, sondern bei den neuen Stücken dann auch gleich die Drums übernahm.
Klingt folglich alles ein bisschen ausgereifter und professioneller: Die Gitarren perlen, und überhaupt sind die einzelnen Instrumente im transparenten Sound voneinander unterscheidbar. Aber das allein musste nicht unbedingt zu einem guten Album führen. Ein guter Freund und langjähriger Kenner der auf Sixties-Psychedelia abonnierten Bay-Area-Szene um Segall und John Dwyer (Thee Oh Sees), zu der auch Presley gerechnet werden muss, sagte angesichts der polierten Produktion: "Hätte sich ja auch herausstellen können, dass er im Grunde gar keine guten Songs schreibt. Oder nicht singen kann."
Derartige Befürchtungen bewahrheiten sich zum Glück nicht. Im Gegenteil: Mit seinen inhaltlich lose zusammenhängenden Geschichten über Kaputte und Gescheiterte, die dem langen Arm des Gesetzes gerade noch mal entkommen sind, liefert Presley einige seiner besten und melodisch souveränsten Songs ab, klanglich wie üblich im "Nuggets"-Kosmos zwischen 13th Floor Elevators, Strawberry Alarm Clock, Beatles, Action und frühen Who ("Like That") verortet. "Sandra (When the Earth Dies"), "Goodbye Law", "Arrow Man" und "Raven on White Cadillac" sind nur einige dieser mit verblüffendem Pop-Appeal ausgestatteten Kleinode, die Presley anscheinend ohne große Mühe komponiert. Angeblich hat er mehr als 40 Songs auf Halde, obwohl er seit 2010 ein oder mehrere Alben pro Jahr veröffentlicht.
All das ist natürlich pure, nostalgische Retromanie. Aber wenn Sie dieses Jahr bereits die sehr guten Retro-Psychedelic-Platten von Temples, Quilt und Parquet Courts gekauft haben, dann machen Sie um Himmels Willen nicht den Fehler, dieses hier zu vergessen! Und in ein paar Wochen erscheint dann auch das gefühlt 25. Album von Ty Segall. (7.7) Andreas Borcholte
Comet Gain - "Paperback Ghosts"
(Fortuna Pop!/Cargo, seit 18. Juli)
22 Jahre Comet Gain, aber 30 Jahre "Sehnsucht" von Purple Schulz. Heute gäbe es keinen Ort mehr für diesen Jahrhundertsong, die "Volkskrankheit" Depression an sich scheint ja weitgehend erforscht (das heißt nicht heilbar) zu sein, und als Jochen Distelmeyer auf dem "Heavy"-Stück "Nur mit dir" Purple Schulz zitierte, merkte das eh niemand. "Wer völlig normal ist, ist auch ein Idiot", sang Schulz in "Nie genug", doch "Sehnsucht" blieb unerreicht, weltweit, Rüdiger hatte damit ja auch alles gesagt und diesen zutiefst hoffnungslosen, erschütternden Brocken Traurigkeit den deutschen Konsumenten auch noch als Hitsingle untergejubelt.
Comet Gain, Magistratsbeamte der Niedlichkeit und "Abgehört"-Lieblinge, sehen noch Hoffnung und Möglichkeiten (wenn auch vielleicht nur in England). Auch wenn es vorbei ist mit den tradierten Weisheiten, kann man die Kerzen irgendwann wieder anzünden: "We are holding on to life/ Because heaven, heaven is a lie". Doch nicht nur "Long after Tonite's Candles are Blown" ("Fall in love with what we were/ We plan to go back there"), sondern beinahe alles auf "Paperback Ghosts" ist wie langsam zerfallendes Pergamentpapier, wie eine Tagträumerei aus dem 18. Jahrhundert, rückwärtsgewandt und nostalgisch, klar.
Aber das muss so sein, denn diese Band hat einmal "The Ballad of a Mix Tape" geschrieben, den genialen Logbucheintrag eines Vernarrten: Fanzines, 45s, The Chills, The Go-Betweens, dramatisch aufgeladen, aber real. "Breaking Open the Head Part 1" ist fast schon harsch, ansonsten Wohlklang, schnarrende Orgeln, fallende Blätter, und mit "(All the) Avenue Girls" auch ein Nachfolger für "The Fists in the Pocket". Bei den Geheimzirkeln Indie-Pop und Twee-Pop stehen wir Normalos (trotz "Tigermilk"-Erstpressung auf 180-Gramm-Vinyl) aber weiterhin vor geschlossenen Toren. Und das ist auch sehr, sehr gut so. (6.9) Jan Wigger
Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)