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AUTOREN Der Biker von Bombay

Mit seinem Buch »Shantaram« hat sich der australische Ex-Sträfling Gregory David Roberts neu erfunden, in einer Stadt, die aus Neuanfängen gemacht ist. Eine Motorradfahrt. Von Matthias Matussek
Von Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 38/2008

Auf dem Couchtisch der Suite im 27. Stock des Oberoi-Trident-Hotels in Bombay liegen drei Schlagringe, ein Schnappmesser und Shakespeares Werke. Gregory David Roberts, der Autor, greift zum Schnappmesser.

Es ist ein fieses Ding, der kleine Finger sitzt in einer Messingfassung, die verhindert, dass einem die Waffe aus der Hand geschlagen werden kann. »Sie nennen es ,attra-wallah'«, erklärt er seinen Freunden Tino und Judith, »mit dem kannst du gleichzeitig schlagen und schlitzen.«

Nicht, dass er Shakespeares Poesie nicht schätzen würde, er kennt jede Zeile, und viele wären geeignet, die Welt dort unten zu besingen, die Übergrößen und die Elenden in diesen schrundigen Schluchten, die Fürsten und die Diebe, die Mächtigen und die Ohnmächtigen Bombays.

Was für eine Bühne da ausgebreitet ist! Die Theaterlichter des geschwungenen Marine Drive, die Liebespaare am Strand und die verfaulenden Art-déco-Kulissen der Promenade dahinter. Die Stadt schmückt sich in diesen Tagen, sie flicht ihre Glühgirlanden für den elefantenköpfigen Gott Ganesha unten im Straßengewirr von Colaba, Blumen für den schlauen, den geschäftssinnigen, den Erzählergott.

Doch das Leben ist kein Poesiealbum, deshalb, Tino, »das Messerblatt immer nach außen, immer nach unten, das ist am wirkungsvollsten im Nahkampf«, und er puncht in die Nacht, und seine Muskeln erinnern sich an das Todesballett aus einem vergangenen Leben, und er spiegelt sich im Panoramafenster der Suite mit ihren goldenen Buddhas und ist Shantaram.

Shantaram, Mann des Friedens, ausgerechnet so hatten sie ihn getauft, die Dörfler aus Maharashtra, ihn, den Kämpfer in den Straßen Bombays, das sich heute Mumbai nennt, und »Shantaram« heißt der Welt-Bestseller, den er über diese Zeit geschrieben hat und der jetzt auf Deutsch erschienen ist*.

Es ist eine dralle Literatur der Muskeln, der Liebe, der Auflehnung und Gefahr. 13 Jahre lang hat er an den tausend Seiten geschrieben, die ersten Fassungen wurden von Gefängniswärtern vernichtet, blutbesudelte Manuskriptseiten, erarbeitet »unter Tränen und Jubel«, wie er den Lesern der englischen Ausgabe anvertraut.

In seinem Buch erzählt Roberts sich selber, wie jeder zweite Romancier, doch er hat ein bisschen mehr erlebt als andere. Was für eine Fülle an Rollen und Neuanfängen: junger Vater in Melbourne, Dichter, Junkie, Bankräuber mit Spielzeugpistole, verurteilt zu neunzehn Jah-

ren, ausgebrochen nach drei, im Gebrodel Bombays Mafia-Soldat, Slumdoktor, Waffenschieber, Bollywood-Schauspieler, später Afghanistan-Kämpfer, rückfälliger Junkie, Held.

Dann der Bürgerkrieg in Sri Lanka, Kurier des Todes, Sänger einer Rockband, neuerlich festgesetzt. In Frankfurt-Preungesheim, so erzählt er, sei er inhaftiert gewesen mit deutschen Terroristen und Hamas-Kämpfern ... aber das ist schon die Fortsetzung, an der er gerade arbeitet.

Heute ist er respektierter Geschäftsmann und Philanthrop, eine Bombay-Kultfigur. Die Hotelsuite bewohnt er umsonst, drei bis vier Monate im Jahr. Den Rest des Jahres kann die Zimmerflucht gemietet werden, mitsamt Schlagringen, Schnappmesser und Shakespeare - als »Shantaram«-Suite.

Gregory Roberts, das ist der Poet als Biker. Er hat einen geradezu albernen Brustumfang, ein blonder Zopf schlängelt sich über die indische Bluse. Der 56-Jährige hält sich in Form. Jeden Morgen 45 Minuten lang Gewichte im Gym, dann fünf Zwei-Minuten-Einheiten am Sandsack. Wird so jemand auf der Frankfurter Buchmesse als Schriftsteller ernst genommen werden?

Man sollte es. Manches ist kitschig, vieles ist genau beobachtet, die miesen Absteigen, die Dorfclans, die Asketen in ihrem Haschisch-Wahn, die Sklavenmärkte der Kinder, der verrückte indische Tanz der Erscheinungen.

Und das Leben, ist es nicht manchmal auch kitschig? Shantaram liebt eine Prinzessin, Françoise von Sturdza, die mit einem rumänischen Fürsten verheiratet war. Sie ist Chefin einer Indien-Charity mit Sitz in Genf, trägt Rajasthan-Brokat. Sie ist die Prinzessin und er der Pirat mit dem Bierfass-Brustkorb, sie erzieht ihn bisweilen mit einer fragend erhobenen Braue, und er bekocht sie, wenn sie von der Arbeit kommt, und lässt ihr ein Schaumbad ein.

Für einen, der sich neu erfinden musste, konnte es keine bessere Wahl geben als Bombay, die Stadt, die aus Neuanfängen gemacht ist. Roberts kam wie die meisten: getrieben von der vagen Hoffnung, die schlechte Vergangenheit abzustreifen und eine Zukunft zu gewinnen.

Gut 130 000 Neuankömmlinge strömen Jahr für Jahr auf diese Halbinsel, sie rieseln ein aus Maharashtra und den Überschwemmungsgebieten Bihars, sie kommen aus Nepal und Iran hierher, sie fliegen ein aus den Emiraten und Lagos und immer mehr auch aus New York und Paris, und sie machen aus dieser sumpfigen kleinen Landzunge mit gegenwärtig rund 14 Millionen Einwohnern eine der am dichtesten bevölkerten Städte der Welt.

Täglich pressen Vorortzüge weitere Millionen in die Downtown, Bombay ist schierer Hochdruck, und jetzt hat die Stadt den ehrgeizigsten aller urbanen Pläne: Bis 2020 sollen alle Slums verschwinden. Slums sind Platzvergeudung. Bombay muss in die Höhe. 2025 wird Bombay, so ist errechnet worden, mit 26,4 Millionen die zweitgrößte Stadt der Welt, nach Tokio, sein.

Bombay, ein Name wie dunkler Trommelschlag, ein Moloch am Arabischen Meer, ein Geruch aus Salz und Curry und Fäulnis, aus Blütenduft und dem Weihrauch an Tausenden von Altären und Schreinen, eine Kakophonie aus Hindi-Schlagern und Hupen, aus ständigem Hämmern und Schreien, ständigem Aufbau und ständigem Verfall, geweiht der Mumbadevi, der dunklen Hindu-Göttin.

»Ich habe Bombay nicht gewählt«, sagt Gregory Roberts, »Bombay hat mich gewählt« - er weigert sich, die Umbenennung in Mumbai mitzumachen. Er wurde zum Grenzgänger zwischen Ost und West, zum weißen Inder, und dass er der Mafia das Geschäft mit gefälschten Pässen reorganisierte, ist eine hübsche Pointe für eine globalisierte Welt der Migrationen und der kulturellen Mimikry.

»Shantaram«, das ist ein Leben in Cinemascope, diese Qualität hat Hollywood-Star Johnny Depp gespürt, und er hat sich die Filmrechte gesichert, und Russell Crowe ärgerte sich, denn er war selber hinter ihnen her und der Chance, in diese Rolle zu steigen: Shantaram, der Abenteurer des neuen Jahrtausends, der Mann, der sich immer neu erfindet.

Seit »Shantaram« ist Bombay eine Top-Adresse für die One-World-Romantik der Popkultur, so hip, dass Madonna Anfang des Jahres einflog, um sich von Roberts durch Shantarams Reich führen zu lassen, das schließlich nicht nur aus Elend und Gefahr und mächtigen Chillums mit Haschisch besteht, sondern auch aus einer Philosophie esoterischer Wissenschafts- und Ganzheitslehren. Ja, eigentlich ist »Shantaram« überhaupt kein Mafia-Buch, sondern millennische Erbauungsliteratur, der Durchbruch zum besseren Menschen, ganz von heute.

An diesem Abend sind Roberts und seine Prinzessin eingeladen ins Restaurant des Taj Hotels am Gateway of India. Michael Bedner, Chef eines internationalen Innenarchitekturbüros, ist neugierig auf ihn, seine Frau hat ihm von dem Buch vorgeschwärmt und vom Autor, von Folter und von Rosenblättern, einer unwiderstehlichen Mischung.

Bedner ist gut gelaunt. Er wird Mukesh Ambani helfen, sein neues Domizil zu gestalten, er muss später noch bei ihm vorbei. Muskesh Ambani, mit 43 Milliarden Dollar der fünftreichste Mann der Welt, hat sich einen Turm aus 27 Stockwerken genehmigt, mit Helikopter-Landeplatz, Kino und Gärten für die engste Familie und Quartieren für rund 600 Angestellte.

Phallischer Kapitalismus, der Reichtum verschwindet in die Höhe, das Kastenwesen im neuen Bombay ist religionsneutral, es ist strikt ökonomisch, so wie überall auf der Welt. Nach ein wenig Globalisierungsgeplauder über Lamm-Curry - die Chinesen liegen vorn, die Inder schließen auf - gesteht Bedner, dass auch er mal im Knast saß, 1967 in Berkeley. »14 Tage lang Pritsche«, ruft er dramatisch aus.

Gregory Roberts lächelt höflich, die Damen schauen peinlich berührt zur Seite. Goldene Regel: Begib dich nie in einen »pissing-contest« mit einem Mann, der aussieht wie Schwarzenegger und dessen Roman so beginnt: »Viel Zeit und viel Welt brauchte ich, um zu lernen, was ich weiß über die Liebe, über das Schicksal und über die Entscheidungen, die wir treffen, doch das Wesentliche verstand ich in einem einzigen Augenblick, als ich an eine Wand gekettet war und gefoltert wurde.«

Es gibt eine ganze Reihe guter Bombay-Romane und überzeugender Helden, Vikram Chandras Inspektor Sartaj Singh etwa oder den wendigen Saladin Chamcha aus Salman Rushdies »Satanischen Versen«, doch es ist die eine Sache, von ihnen zu lesen, und eine ganz andere, mit einem von ihnen auf einer Royal Enfield Bullet 500 durch den Straßenwirrwarr zu düsen wie am nächsten Morgen mit Gregory Roberts alias Shantaram, dem Biker mit dem Zopf.

Immer wieder fliegen ihm Grüße zu, man kennt ihn hier in Colaba, Blicke von barfüßigen Frauen in Saris, die Wasserkanister auf dem Kopf balancieren, und von Angestellten, die in ihre Handys brüllen.

Verkommene Figuren in Lumpen vor einer Diätklinik, die »natürliche Gewichtsreduzierung« garantiert, Gestalten, die wieder verschwinden hinter einem Bus, auf dem die New Yorker Frauenriege aus »Sex and the City« eine weitere Staffel ankündigt, tatsächlich, die Welt ist flach, überall läuft der gleiche Käse.

Kleine Jungs, die an Ampeln Bücher verkaufen. Von »Shantaram« sind rund 60 000 Raubkopien im Umlauf. Motorradfahrer rufen ihm zu. Kurzkritiken in Englisch und Marathi folgen. »Wann kommt die Fortsetzung?« »Demnächst.« Er hustet. Bombay hängt wie ein grauer Lappen im Mund, im Stadtverkehr nimmt man das Vergiftungsäquivalent von zwei Schachteln Zigaretten täglich zu sich.

Die Madonna-Tour durchs mythische Shantaram-Gelände also, durchs alte, in die Breite wuchernde Bombay zwischen den neuen Hochhaus-Silhouetten mit ihren Shopping-Malls und Rolls-Royce-Showrooms. Roberts hat einen 100-Rupien-Schein unter den Ring geschoben, das ist der inoffizielle Tarif für das Fahren ohne Helm.

Die Tour muss beginnen vor dem Biker-Laden Happy Cycle in Colaba, genauer: vor einer grünen Enfield, einem wunderhübschen Ding mit zwei Auspufftöpfen und Extra-Bling. Sie sollte eigentlich an diesem Tag von Johnny Depp über den Marine Drive gefahren werden, einmal den ganzen Bogen und zurück, aber Johnny musste wieder einmal absagen. »Bring sie zurück in die Garage«, sagt Roberts zu Abdul, der für ihn diesen und zwei andere Läden schmeißt, die Erlöse wandern in die Shantaram-Stiftung zur Bekämpfung der Tuberkulose.

Abdul wiegt bedauernd mit dem Kopf. Er lässt Milchtee kommen, der nach Nelken und Vanille schmeckt, erzählt, dass am Abend wieder in der Nähe gedreht wird, Bollywood ist so viel schneller als Hollywood, ständig spielt und singt sich die Stadt etwas vor mit ihren Hindi-Filmen, während die »Shantaram«-Verfilmung auf 2009 verschoben wurde.

Nasir kommt hinzu, weißes Hemd, dunkle Sonnenbrille, Roberts rechte Hand. Früher Haschischdealer und Messerstecher und Shantarams Gegner. Jetzt ist Nasir fromm und hat drei Töchter. Er weiß immer noch, wo man die fiesen Messer besorgen kann, doch heute ist Nasir ein Mann des Friedens und der Aussöhnung.

Mit einer Ausnahme: Pakistan. In der Pakistan-Frage muss endlich etwas passieren, sagt Nasir. Sie geben keine Ruhe in Kaschmir. Sein Vorschlag: Alle Inder sollten sich an der Grenze aufstellen und dann nach drüben pissen und alle wegschwemmen. »Pakistanische Muslime schauen auf uns indische Muslime herab, als wären wir nur halbe Menschen.«

Françoise will nun weiter ins Café Leopold, mal das Gesicht in Ordnung bringen, Ruß klebt überall. Im Leopold beginnt jeder vernünftige Bombay-Trip, beginnt auch »Shantaram«.

Das Restaurant, britisch-kolonial, ist ohne Türen. Propeller an den Decken, die Crew serviert Globetrottern und Geschäftsleuten ein gutes Tandoori Chicken oder Mutton Tikka. Hippies mit Latschen und Perlen im Haar. Einer von ihnen steht vor der Toilettentür und putzt sich die Zähne am Waschbecken.

»Würde ich nicht machen«, sagt Roberts.

»Ich reise schon seit drei Monaten, ohne krank zu werden«, sagt der Hippie lässig. »Der hat ein paar schlimme Tage vor sich«, sagt Roberts später am Tisch. Die Truppe ist ein wenig melancholisch. Die Mafia alten Stils gibt es nicht mehr. »Sie hatte so was wie Ehre«, meinte Roberts. Nasir nickt. Heute geht es nicht mehr um Haschisch, sondern um religiösen Terrorismus, der alles vergiftet, um Korruption, und um Immobilien, das vor allem.

Heute warten auf Roberts im Leopold keine deutschen Prostituierten und französischen Lebemänner und afghanischen Mafiosi mehr, sondern Autogrammjäger: Schüchtern tritt eine Lady aus Melbourne an den Tisch und bittet, ihr »Shantaram«-Exemplar zu signieren. Es sind vorwiegend Ladys, die Roberts um Autogramme bitten. Doch da ist noch eine zweite Gruppe, die Shantaram verehrt: Kickboxer.

Gerard streckt Roberts die Pranke entgegen. Er hat eine seiner Lesungen in Australien erlebt, mit Freunden und ein paar tausend anderen Leuten. Es war wie ein Erweckungsgottesdienst. Auch Gerard hat einen Roman geschrieben, und auch der dreht sich um Liebe und Erlösung. Es ist die männliche Antwort auf weibliche Bekenntnisliteratur, Karen Duves »Taxi« auf Testosteron, der Plot: Ein Rausschmeißer verliebt sich in eine Stripperin. Ob Roberts eine gute Agentin empfehlen könne?

Zum ersten Mal sind Risse spürbar zwischen Roberts und seiner Prinzessin. Françoise möchte nichts mit Gerard zu tun haben, das wird schnell klar, doch Roberts fachsimpelt gern. Über Messerwunden und F. Scott Fitzgerald, und bisweilen ist nicht klar, ob die beiden über die Literatur oder das Kickboxen reden. Ein klassischer Dialog.

»Du musst die Regeln erst mal kennen, dann kannst du sie brechen.«

»Rushdie kennt die Regeln genau, und er schreibt gut.«

»Fitzgerald war zu betrunken, um sie zu beherrschen.«

Sie sprechen über das Training mit Gewichten und narrative Techniken, und Roberts stampft Hemingway in Grund und Boden. »Gegen den trete ich jederzeit an«, sagt er. Wer der Champ ist? »Lawrence Durrell mit dem ,Alexandria-Quartett', ganz klar.« Gerard nickt. »Shakespeare ist auch nicht schlecht«, meint er. In seiner Geschichte kommt King Lear vor. Und ein Rad aus Flammen.

Sie klingt so wunderbar, diese Fachsimpelei, bunt wie Kühlergrill-Malerei, aber auch nicht weniger kenntnisreich als die Gruppe 47, nur dass es hier eher um die Kriegserlebnisse der Komfortgesellschaft geht, um Drogen, Dealer und verratene Liebe.

Weiter zur Haji-Ali-Moschee auf dem Pier, ein wichtiger »Shantaram«-Schauplatz. Die Moschee, die draußen im Meer schimmert, ist in diesen Stunden schwer erreichbar, Wellen brechen über den Pier herein. Vor jedem größeren Mafia-Gefecht sind sie hier rausgefahren. »Auf dem Weg nach draußen hast du deine Sünden mitgenommen und dort gelassen, und auf dem Weg zurück warst du bereit zu allem, auch zu sterben.« Gerard nickt, das macht Sinn, spirituelle Reinigung - Wettkämpfe werden im Kopf entschieden.

Auf dem Weg zum Slum am Fischmarkt führt Roberts ihm das kleinste Fitnessstudio der Welt vor. Eine einzige Kraftmaschine mit verschiedenen Funktionen, die Flügel fürs Armpressen enden Millimeter vor der Wand. Kenner unter sich, auch Madonna war beeindruckt, die Workout-Internationale weiß: 80 Kilo auf der Pressbank sind überall 80 Kilo, ob im Zuchthaus, im Slum oder im Reebok-Studio auf der Upper West Side. Auch die Arbeit am Körper ist Tempelarbeit, ist Arbeit am Werk.

Mit Madonna im Frühjahr ging es dann weiter zum Slum, und 150 Fotografen haben geguckt, wie Madonna auf den Slum geguckt hat, auf den Babasaheb Ambedkar Nagar im Schatten des World Trade Centre Mumbai. Jetzt ist weniger los, und der Slum ist sowieso seit Jahren keiner mehr. Keine Rattenschwärme mehr, keine Überflutungen und Feuersbrünste.

Die Karton- und Plastikplanen sind geziegelten Behausungen gewichen, überdachte Räume, manche zweistöckig, Kleine-Leute-Gegenden, die man in Brasilien Favelas nennt.

Kisan, der Bidi-Verkäufer, lädt seinen alten Freund Shantaram auf sein Dach ein. Dort oben weht tatsächlich eine leichte Brise, zwischen den freischwingenden illegalen Stromleitungen kann man einen trüben grauen Streifen Meer erkennen. Die Tochter hat Tee gebracht, die Männer sprechen über die Hochzeiten und Todesfälle in der Bekanntschaft, und Nasir erklärt Gerard seine Philosophie: »Freunde können dich verraten, aber dein Messer, das bleibt immer bei dir.« Françoise verdreht die Augen.

Dann kommt die Sprache auf die Typen des Baukonsortiums, die in letzter Zeit hier auftauchen. Sonnenbrillen, Geldkoffer und schweres Geschütz, um die Koffer zu sichern. Die Siedlung soll verschwinden, soll Hochhäusern weichen, und die Männer bieten Geld und Gratiswohnung.

Der große Bombay-Umbau-Plan läuft. Einige haben ihre Buden bereits verkauft, der Preis für Kisans Hütte liegt mittlerweile bei rund 30 000 Dollar, aber er wartet noch ab. Der Preis wird steigen, sie brauchen sein Grundstück, seines und die übrigen, für ihre ehrgeizigen Stadtentwicklungspläne. »In gut zehn Jahren sollen die Slums beseitigt sein?« Er schüttelt den Kopf. »Das glaubt doch keiner.«

Roberts wird respektiert, er wird geliebt, und es hat eine große Poesie, zu erleben, wie er eingewoben ist in diese Siedlung, in dieses Leben. Er steckt dem Bügler über seine Theke Malaria-Tabletten zu, er schäkert mit der Mutter seines Patenkindes, schaut in der Casino-Höhle bei den Carrom-Spielern vorbei, spricht hier ein paar Worte, gibt dort einen Klaps, er hat sich in diesen Ort, in diese Familien eingeschrieben, hier lebt er als Shantaram.

Schließlich setzt sich der Shantaram-Konvoi wieder in Bewegung, hinaus zur Afghanischen Kirche, in der sich die Mafia-Bosse früher zu ihren Konferenzen trafen, und danach in den Park Colaba Woods, wo Roberts auf den Bollywood-Star Rahul Bose trifft, einen alten Freund und Seelenverwandten.

An diesem Nachmittag dreht Bose für die britische Hilfsorganisation Oxfam einen Clip mit Kindern, auf einem Cricket-Feld. Mit Scarlett Johansson und anderen ist er ehrenamtlicher »Botschafter« der Organisation. Er hilft, wie Roberts, wie die Prinzessin, das Helfen ist überhaupt die Sache im neuen Millennium, es macht glücklicher als jede Droge.

Sein Geld verdient sich Bose als Action-Figur. Abends muss er auf die Gala seines neuen Films auf den roten Teppich.

»Hast du Lust mitzukommen?«

Roberts schüttelt den Kopf.

»Mallika Sherawat ist auch da.« Roberts lacht. Sherawat ist Bollywoods Antwort auf Angelina Jolie, nur vollbusiger.

»Ich rette die Nation in dem Film«, sagt Bose.

»Wird Zeit, dass es einer tut«, sagt Roberts und lacht.

Sie reden über das heimlich aufgenommene Video, das in diesen Tagen ständig ausgestrahlt wird, in dem einem Politiker ein geradezu albern hoher Stapel von Rupien zugeschoben wird. »Wir hätten keinen Hunger, keine Kindermortalität, keinen Analphabetismus, wenn die Korruption nicht so verbreitet wäre«, sagt Bose.

Was er an Roberts schätzt? »Er hält, was er verspricht«, sagt Bose. Nicht schlecht für einen ehemaligen Junkie, der ein neuer Mensch geworden ist.

Aber auch der ist erledigt, abends, zurück im Hotel. Roberts fiebert unter einer Malaria-Attacke. Françoise ist besorgt. Roberts lässt sich im Sofa am Panoramafenster nieder, neben den Schlagringen, den Messern, den Shakespeare-Bänden, und er schaut hinunter auf den Marine Drive mit seinem Gewimmel. Dann lächelt er.

Das Leben ist manchmal doch ein Poesiealbum: Die hohen Ganesha-Figuren werden ins Meer getragen in fröhlichen Prozessionen zwischen Blumen und Weihrauch. Ganesha, der Gott der Künstler und der Kaufleute. Roberts mag ihn. Für jede neue Unternehmung wird Ganesha um Hilfe angefleht.

»Er ist ein optimistischer Gott«, sagt Roberts. »Er ist der Gott Bombays.« Und ganz sicher der Shantarams.

* Gregory David Roberts: »Shantaram«. Aus dem Englischen vonAlmut Münch und Sibylle Schmidt. Goldmann Verlag, München; 1088Seiten; 24,95 Euro.

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