Das intellektuelle Gewissen

Studenten erleichtern mit dem Integrationsprojekt «Offener Hörsaal» Flüchtlingen erste Kontakte mit der hiesigen Universität.

Valerie Zaslawski, Basel
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«Ich möchte mein in der Heimat begonnenes Studium hier beenden»: der syrische Flüchtling Husein Alabdullah. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

«Ich möchte mein in der Heimat begonnenes Studium hier beenden»: der syrische Flüchtling Husein Alabdullah. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

«In Syrien war ich Klassenbester, studierte Geologie im Bachelor und bekam bereits eine Stelle an der Universität Aleppo zugesichert. Doch dann kam alles anders», erzählt Husein Alabdullah. Der 26-Jährige kam vor knapp zwei Jahren in die Schweiz und besitzt mittlerweile einen F-Ausweis, ist also vorläufig aufgenommen. Im Frühjahrssemester 2016 hat er an der Universität Basel am Pilotprojekt «Offener Hörsaal» teilgenommen, das vergangenes Jahr von einer Gruppe Studenten ins Leben gerufen worden war.

Prinzip der Gleichbehandlung

21 Geflüchtete durften als Hörer den Veranstaltungen beiwohnen, indes keine Kreditpunkte erwerben. Denn die Teilnahme am Projekt bedeutet keine Zulassung zu einem regulären Studium. Auch handle es sich nicht um ein «Gratisstudium», wie Mitgründer Jakob Merane erklärt. Die Projektkosten deckte die Nachhaltigkeitsstelle der Universität Basel. In Zukunft sollen Stiftungen ihren Beitrag leisten.

Auch an anderen Schweizer Universitäten gibt es derartige Projekte: In Genf dürfen Flüchtlinge im Rahmen von «auditeurs – réfugiés» sogar Prüfungen ablegen; in St. Gallen unterstützt eine «Taskforce Migration» die Neulinge beispielsweise bei der Immatrikulation. Auch Alabdullah hat sich diesem Prozedere unterzogen; die Antwort der Universität steht noch aus. «Ich möchte keine Zeit verschwenden und mein in der Heimat begonnenes Studium hier beenden», sagt er.

Geht es um den Studienzugang, wird die Situation für die Geflüchteten oftmals kompliziert. Zwar hat der Aufenthaltsstatus laut Swissuniversities, der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen, mit dem Zulassungsentscheid nichts zu tun. Auch im Asylgesetz sind keine Bestimmungen vorgesehen, welche den Zugang von Asylsuchenden zu den Universitäten einschränken.

Es gelte aber das Prinzip der Gleichbehandlung, sagt Generalsekretärin Martina Weiss. Die Zulassung erfolgt aufgrund der schulischen beziehungsweise akademischen Vorleistung; diese muss die Zulassungsbedingungen erfüllen. Studienanwärter aus den meisten Fluchtländern müssen für die Bachelorstufe eine Ergänzungsprüfung bestehen, deren Vorbereitungskurse teuer sind. Zudem stellen fehlende Dokumente oder mangelnde Sprachkenntnisse eine Hürde im Aufnahmeverfahren dar.

Swissuniversities setzt sich auf politischer Ebene für einen Abbau solcher Hürden ein. Wenn auch derzeit Handlungsoptionen geprüft werden, wünscht sich Jurastudent Merane mehr Einsatz seitens der Universitäten: Bei einer derartigen Katastrophe für die Menschen müssten sie als intellektuelles Gewissen der Gesellschaft eine Vorreiterrolle einnehmen. «Es ist keine Frage des Könnens, sondern eine des Wollens.»

Zwischen Stuhl und Bank

In der Tat ist die Frage in erster Linie politisch: Auf gesetzlicher Ebene greifen die Integrationsmassnahmen erst, sobald der Status der Asylsuchenden geklärt ist. Dies gilt sowohl für den Arbeitsmarkt als auch für den Bereich Bildung. Mit der Abstimmung vom 5. Juni über die Revision des Asylgesetzes soll das Asylverfahren beschleunigt werden. Derzeit befinden sich in der Schweiz knapp 33 000 Menschen im Asylverfahren. Rund 80 Prozent der Flüchtlinge sind unter 35 Jahre alt. Wie Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission, erklärt, fallen diese jungen Erwachsenen oftmals zwischen Stuhl und Bank. Aufgrund der fehlenden Struktur – sie haben in ihrem Heimatland zwar eine Schule besucht, können hier aber nicht direkt in den Arbeitsmarkt integriert werden – hat der Bund das Pilotprogramm «Flüchtlingslehre» lanciert. «Ein Schritt in die richtige Richtung», findet Leimgruber. Die ankommenden Menschen müssten entsprechend ihren Qualifikationen gefördert werden. Sie brauchten Anreize und Perspektiven. Für begabte Menschen solle auch ein Hochschulstudium möglich sein. Mit der Sozialhilfe würden nur die minimalen Lebenskosten finanziert – mit dem Ziel einer möglichst raschen Arbeitsmarktintegration. Leimgruber plädiert aber für ein längerfristiges Denken, für ein Finanzierungssystem, das die Weiterbildung mitdenkt. Das Talent sei oftmals da, dessen Nichtberücksichtigung eine Verschwendung der Ressourcen.

In Deutschland hat das Bildungsministerium erst diese Woche hundert Millionen Euro gesprochen, die bis zum Jahr 2019 in Integrationsprojekte investiert werden sollen. Diese helfen Flüchtlingen, die einen Schulabschluss aus ihrer Heimat mitbringen, zu studieren. «Wer das Zeug dazu hat, soll bei uns studieren können», wird Bildungsministerin Johanna Wanka im «Spiegel» zitiert.

Fehlende Förderkultur

Bei Förderprojekten dieser Grösse lässt Kritik nicht lange auf sich warten: Flüchtlinge bekämen eine Sonderbehandlung, lautet der Vorwurf. Ist die Finanzierung von Hochschulabschlüssen für Flüchtlinge Aufgabe des Staates? Nein, findet Leimgruber. Nicht nur. Er sieht hier ein Feld für Stiftungen, die Menschen mit bestimmten Qualifikationen über Stipendien fördern könnten, oder für einzelne Wirtschaftszweige.

Gemäss Leimgruber fehlt der Schweiz eine Förderkultur: «Wir behandeln alle gleich», sagt er mit ironischem Unterton, «deshalb ist die Maturitätsquote in strukturstarken Gegenden viermal höher als in strukturschwachen.» Wissenschaftlich liesse sich aber kein Zusammenhang zwischen Einkommen und Intelligenz feststellen, es müssten also andere Mechanismen am Werk sein. Manche Menschen hätten bessere Chancen auf eine Ausbildung, sagt er und fordert strukturelle Gegenmassnahmen. «Sonst führt die angebliche Gleichheit immer zu Ungleichheit.»