In der Nacht zum Montag verriet Donald Trump mit zwei Kurznachrichten seine Strategie für die Zeit nach dem US-Truppenabzug aus dem von Kurden, sunnitischen Arabern und Christen selbstverwalteten Nordsyrien. Trump warnte die Türkei davor, die Kurden anzugreifen, schrieb jedoch im gleichen Tweet über die Schaffung einer 32 Kilometer großen Sicherheitszone.
Wo die genau liegen und wer sie bilden soll, dazu äußerte sich der Präsident nicht näher. In jedem Fall ist diese Zone genau das, was Ankara seit Jahren zum „Schutz vor kurdischen Terroristen“ fordert und bereits in anderen Landesteilen Syriens militärisch durchgesetzt hat.
Aber nun taucht plötzlich ein neues, unerwartetes Problem auf, das Ankaras Syrienpolitik über den Haufen werfen könnte. Die al-Qaida-nahe Organisation Hayat Tahrir al-Scham (HTS) hat die Kontrolle über die Provinz Idlib und Teile von Hama übernommen.
Die von der Türkei unterstützten Rebellenmilizen wurden vernichtend geschlagen. Die Herrschaft der Dschihadisten ist nun für das syrische Regime und seinen Verbündeten Russland ein idealer Vorwand, endlich ihre geplante Offensive auf die letzte Rebellenbastion im Land zu starten. Mit der Rückeroberung dieser Region im Nordwesten des Landes könnte das Assad-Regime seine Macht endgültig konsolidieren. Die Türkei und ihre angeschlossenen Rebellen würden einen Teil ihres Mitspracherechts bei Friedensverhandlungen über die Zukunft Syriens einbüßen.
Seit über zwei Jahren bekämpfen sich syrische Rebellengruppen bereits in Idlib. Milizen eroberten Gebiete, um sie dann erneut zu verlieren. Waffenstillstandsabkommen hielten nie lange. Im Januar wendete sich nun das Blatt überraschend schnell zugunsten der HTS, die sich früher Nusra-Front nannte und bis heute auf der Liste internationaler Terrororganisationen steht.
In nur wenigen Wochen vertrieb die aus rund 25.000 Kämpfern bestehende Dschihadistenallianz die rivalisierenden Milizen, die sich unter dem Namen Nationale Armee zusammengeschlossen haben. Die Türkei hatte den Verbund der mehrere Dutzend zählenden Rebellengruppen trainiert und bezahlt.
Zu diesen Milizen zählt Nour al-Din Zinki, die es durch die Enthauptung des zwölfjährigen Jungen Abdullah Issa Mitte 2016 in Aleppo zu unrühmlicher Bekanntheit brachte. Auch Ahrar al-Scham, eine der mächtigsten islamistischen Bewegungen des syrischen Bürgerkriegs, hatte sich Ankara angeschlossen. Aber nun mussten sich die Rebellengruppen den Dschihadisten der HTS geschlagen geben und ihre eigene Auflösung unterschreiben.
Die rund drei Millionen Bewohner der Provinz Idlib erwartet nichts Gutes. „Jetzt sind wir Zielscheibe der Russen und des Regimes“, sagt Youssef, ein Bewohner der Stadt Idlib, über WhatsApp. Youssef ist nicht sein richtiger Name, denn er hat Angst vor Repressalien. „Ich will nicht verhaftet werden wie so viele andere.“
HTS hat in den vergangenen sechs Monaten in den Gebieten unter ihrer Kontrolle viele Hunderte von Menschen verhaftet. Die Dschihadisten machen Jagd auf alle, die als ihre Kritiker gelten. Immer wieder hatte es Proteste gegen die rigide Herrschaft der Islamisten gegeben.
Nach ihrem erfolgreichen Feldzug kann HTS weiter ihr Ziel verfolgen, einen Kleinstaat mit Gerichten und Verwaltung auf der Basis der Scharia auszubauen. Ihr Anführer, Abu Muhammad al-Dschaulani, war 2011 nach Syrien gereist, um eigentlich einen Ableger des Islamischen Staats (IS) zu gründen. Stattdessen schloss er sich al-Qaida an. Das machte er 2016 zwar offiziell rückgängig, was aber gemeinhin nur als Versuch gewertet wurde, sich ein positiveres Image zu verschaffen.
„Das Leben unter HTS ist nicht gut, aber besser als eine Offensive des Regimes und Russlands“, behauptet Youssef, der junge Mann aus Idlib. „Sie standen doch schon einmal kurz davor.“ Das war im September vergangenen Jahres. Die Vorbereitungen liefen damals auf Hochtouren. Niemand wusste, ob und wann die syrische Armee und Russland den Angriff tatsächlich auf die letzte Bastion der syrischen Rebellen starten würden.
Der letzte Fluchtpunkt
Dabei galt Idlib als eine von ursprünglich vier Deeskalationszonen in Syrien. Sie war der letzte Fluchtpunkt von vielen Zehntausenden Rebellenkämpfern und ihren Familien, die aus jenen Landesteilen kamen, die das Assad-Regime Stück für Stück zurückerobert hatte.
Die Türkei und auch die UN warnten damals vor einer „humanitären Katastrophe“, sollte es tatsächlich zu einer Offensive in Idlib kommen. Am 17. September kam dann der Wendepunkt. Der russische Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Erdogan einigten sich auf eine demilitarisierte Pufferzone. Die syrische Armee und die Rebellen wurden durch einen 15 bis 25 Kilometer breiten Streifen voneinander getrennt.
Das Abkommen hielt bis zur Machtübernahme der HTS, einer strikten Gegnerin der Pufferzone und von Verhandlungen mit dem Regime. Am vergangenen Wochenende griffen die Dschihadisten bereits Stellungen der syrischen Armee in Aleppo und in der Nähe von Hama an.
In den vergangenen Tagen entsandte die türkische Armee Militärkonvois über die Grenze nach Syrien. Unklar ist bisher noch, ob damit die neun Beobachtungsposten in Idlib verstärkt werden, die die Türkei eingerichtet hat, um die syrische Armee auf Abstand zu halten.
Sporadische Angriffe der syrischen Armee
Allerdings gibt es für das türkische Militär wenig Unterstützung. Die syrischen Hilfstruppen sind in sichere Gebiete geflüchtet. Dazu zählt die Kurdenenklave Afrin, die weiterhin unter der Kontrolle der Türkei und der syrischen Rebellen steht. Allein 4000 Mann der Nour-al-Din-Zinki-Miliz haben, laut türkischen Medienberichten, in Afrin Unterschlupf gefunden.
Große Truppenbewegungen der syrischen Armee gab es bisher nicht. Die Luftwaffe flog einige sporadische Angriffe in Idlib, und Artillerie feuerte auf Stellungen der Dschihadisten. Für das Assad-Regime wäre die Provinz ein letzter großer Puzzlestein, mit dem es seine Macht endgültig konsolidiert.
Idlib ist ein Herzstück Syriens. Aleppo ist dann auf dem Landweg erneut mit Lattakia und Damaskus verbunden. Mit Idlib hätte das Regime – bis auf die von der Türkei besetzten Gebiete entlang der Nordgrenze und die Region östlich des Euphrats – fast zwei Drittel des Landes fest in der Hand.
So dürfte sich die Entwicklung zur Wiederanerkennung von Damaskus als legitimem Vertreter Syriens weiter beschleunigen. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ihre Botschaft in Damaskus wiedereröffnet. Andere arabische Staaten wollen folgen.
Und Saudi-Arabien plädiert für die Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga. Der Sitz war der syrischen Regierung 2011 aberkannt worden aufgrund des brutalen Vorgehens des Regimes gegen die Demonstranten. Schritt für Schritt wird Präsident Assad, der vor nicht allzu langer Zeit noch „der Schlächter des eigenen Volks“ genannt wurde, auf dem internationalen Parkett wieder hoffähig.