Russland stärkt seine Südflanke – der Konflikt mit der Ukraine ist nur eine der Fronten

Russland sieht im Konflikt mit Kiew um das Asowsche Meer keinen Nutzen in der Diplomatie. Der Kreml fühlt sich wie bei der Krim-Annexion 2014 im Recht. Strategisch denkt Moskau dabei bis in den Nahen Osten.

Markus Ackeret, Moskau
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Die Ukraine hat angesichts der jüngsten Eskalation den Kriegszustand ausgerufen. (Bild: Sergey Dolzhenko / EPA)

Die Ukraine hat angesichts der jüngsten Eskalation den Kriegszustand ausgerufen. (Bild: Sergey Dolzhenko / EPA)

Der 22. Februar 2014 ist der Stichtag, der aus russischer Perspektive die Beziehungen zur Ukraine in ein Davor und ein Danach einteilt. An dem Tag stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten des ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada, für die Absetzung des bereits aus Kiew abgereisten Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Er war für die Mehrheit der Parlamentarier und wohl auch des Volkes nach allem, was in den Tagen und Wochen zuvor auf dem Maidan geschehen war, an der Staatsspitze nicht mehr tragbar.

Aus Sicht Janukowitschs, seiner Getreuen und auch der russischen Führung war das ein Umsturz, der eine Kettenreaktion auslöste: den (wohlorchestrierten) Aufruhr im Osten des Landes, der in einen blutigen Krieg ausartete mit der Abkehr von Donezk und Luhansk vom ukrainischen Zentralstaat, und den Verlust der Halbinsel Krim, die sich Russland einverleibte. Diese Prämisse ist auch der Kern des russischen Umgangs mit der Eskalation im Asowschen Meer vor Wochenfrist.

Verachtung für Poroschenko

Die russischen Staatsmedien, die Regierung und der Präsident ordneten die Schüsse auf die ukrainischen Kriegsschiffe, die Festnahme von 24 Seeleuten und die Beschlagnahmung der drei Boote schnell in dieses Schema ein. So konnte aus Moskauer Sicht kein Zweifel an der provokativen Absicht der Ukrainer bestehen, und der eigentliche Schuldige war sofort identifiziert: der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der um seine Wiederwahl zittern muss. Er nutzt laut Moskau die Krise, um seinen angeblichen Auftraggebern in Amerika und Europa die Ukraine in Erinnerung zu rufen und von seinem innenpolitischen Versagen abzulenken.

Indem sie Poroschenko als Handlanger Washingtons darstellten und Präsident Putin ihn am Wochenende gar noch zur «Partei des Krieges», mit der ohnehin kein normales Auskommen zu finden sei, erklärte, drückten die Russen ihre tiefe Verachtung für das politische Ringen in der Ukraine aus.

Zugleich kündigte Putin erleichterte Niederlassungsbestimmungen für Ukrainer in Russland an und einfachere Einbürgerungsverfahren – eine asymmetrische Reaktion auf die Einreisebeschränkungen für russische Männer, die Kiew am Freitag beschlossen hatte. Viele Russen tun sich auch 27 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion mit der Vorstellung schwer, die Ukraine als unabhängigen Staat und die Ukrainer als eigenständige, ebenbürtige Nation zu begreifen.

Obwohl Putin das Vorgefallene herunterspielte und die unverbrüchliche Nähe der beiden Völker betonte, gab es nicht den leisesten Versuch einer bilateralen diplomatischen Klärung. Auch an einer internationalen Vermittlung, etwa im Rahmen des von der deutschen Kanzlerin vorgeschlagenen Normandie-Formats, ist der Kreml nicht interessiert. Aus russischer Sicht ist die Sachlage so klar, dass es keinerlei Debatten darüber bedarf. Das Land fühlt sich im Recht und nimmt dafür auch neue Sanktionen in Kauf, genauso wie 2014.

Recht und Realität

Die Konfrontation zwischen Russen und Ukrainern im Schwarzen und im Asowschen Meer schwelte seit Monaten, ja seit der Annexion der Krim durch Moskau. Entzündet hat sie sich jetzt, oberflächlich, an den unterschiedlichen Rechtsstandpunkten und der Frage, wie mit einer Realität umgegangen wird, welche die Ukrainer aus guten Gründen nicht einfach hinnehmen wollen.

Als eine der Konsequenzen der Ereignisse vom Frühjahr 2014 steht heute die Strasse von Kertsch de facto (jedoch nicht de iure) vollständig unter russischer Kontrolle. Der Vertrag von 2003, der den Status des Asowschen Meeres und auch den freien Schiffsverkehr durch die Meerenge für Schiffe der beiden Staaten regelt, gilt zwar formal noch, aber schon vor vier Jahren wies der russische Aussenminister Sergei Lawrow darauf hin, dass das Verfahren zur Durchfahrt nun ausschliesslich eine russische Angelegenheit sei.

Schwarzes Meer

Schwarzes Meer

Bis mit dem Bau der Brücke von Kertsch – die ihrerseits einen Rechtsbruch darstellt – begonnen wurde, nahm davon kaum jemand Kenntnis. Die russische Provokation war wohl auch nicht von langer Hand für den vorletzten Sonntag geplant. Aber als die Ukrainer ihrerseits nicht nach der Realität, sondern nach dem Vertrag von 2003 handeln wollten, nutzte Russland das mit brachialen Methoden aus. Es dürfte auch Rache mitschwingen für die Beschlagnahmung des Fischerboots «Nord» im März durch die Ukraine; dessen Kapitän wartet noch auf den Gerichtsprozess wegen Verletzung des Grenzregimes. Genau das wirft jetzt Moskau auch den ukrainischen Seeleuten vor.

In Russland herrscht keine Euphorie über diese Entwicklung. Es ist, das konstatieren auch eher regierungsfreundliche Kommentatoren, ein Spiel mit dem Feuer des Krieges. Für einen schnellen, erfolgreichen Feldzug zur Gewinnung einer Landbrücke entlang des Asowschen Meeres von Mariupol bis Tschonhar oder Melitopol gäbe es einige Fürsprecher in Moskau, woran der Militärpublizist Pawel Felgengauer erinnert. Andere aber geben zu bedenken, dass sich Russland dann endgültig als Kriegspartei definieren müsste.

Was Putin Poroschenko vorwirft – militärische Provokationen zur Steigerung der eigenen Popularität –, kennt er aus eigener Erfahrung. Aber der Vergleich mit der nationalen Erregung, welche die Einverleibung der Krim auslöste, ist irreführend. Das Asowsche Meer ist nicht die Krim und damit kein historischer Sehnsuchtsort der Russen. Auch der Konflikt in der Ostukraine allein hätte zu dieser Jubelstimmung nicht ausgereicht. Und ein offen deklarierter Krieg mit der Ukraine wäre innenpolitisch schwer zu vermitteln.

Am Kaspischen Meer tut sich etwas

Russlands Ausgreifen im Asowschen Meer hat einen geostrategischen Hintergrund und weist weit über die engere Region hinaus. Dessen faktische Kontrolle über das Binnengewässer macht es der Ukraine fast unmöglich, den im Bau befindlichen Marinehafen von Berdjansk sinnvoll zu nutzen. Nach der Annexion der Krim, die strategisch von unschätzbarem Wert ist, strebt Russland auch (wieder) die Kontrolle über das Schwarze Meer an, wo es allerdings auf den Widerstand der Nato-Anrainerstaaten stösst.

Im Schatten davon steht das dritte Meer an Russlands Südflanke, das Kaspische Meer. Es ist, obwohl ebenfalls ein Binnengewässer, strategisch ebenfalls von grosser Bedeutung und spielte auch in diesem Jahr in den Konflikt mit der Ukraine hinein: Über den Wolga-Don-Kanal verlegte Moskau zwei Kriegsschiffe aus dem Kaspischen ins Asowsche Meer, die für Angriffe auf Küstengebiete geeignet sind.

Im Kaspischen Meer ist Russland zielstrebig daran, seine Position auszubauen. Unter anderem mit grossen und kleineren Raketenkreuzern, Artillerie- und Landebooten ist die Kaspische Flotte gut ausgestattet. In den vergangenen Monaten fanden mehrere Manöver statt, die offiziell der Terrorabwehr dienten, deren Szenarien laut Militärexperten eher für eine Küsteninvasion im Schwarzen oder Asowschen Meer taugen.

In Kaspisk, südlich der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala, bauen Streitkräfte den neuen Marinestützpunkt der kaspischen Flotte, deren Haupthafen derzeit noch in Astrachan liegt. Diese südrussische Stadt im Wolgadelta liegt aber geografisch, klimatisch und strategisch ungünstig: hundert Kilometer von der eigentlichen Küste entfernt und am Nordende des Kaspischen Meeres, wo dieses im Winter gefriert.

Kaspisk ist zentraler gelegen: Im Hinterland der unruhige Nordkaukasus, im Süden Aserbaidschan, Iran und gegenüber der kasachische Hafen Aktau. Von hier aus greift Russland in den Nahen Osten aus – ein Marschflugkörper vom Typ Kalibr wurde bereits aus dem Kaspischen Meer in Richtung Syrien abgefeuert.

Sichern von Handelsrouten

Für Kasachstan und Turkmenistan ist das Kaspische Meer eine wichtige Exportroute, und Chinas Seidenstrasse-Initiative verbindet hier Zentralasien mit den Staaten des Südkaukasus und dem Schwarzen Meer. Diese Handelsrouten will Russland kontrollieren. Die vorläufige Einigung auf den Status des Kaspischen Meeres Mitte August zementiert Russlands Vormachtstellung vor allem militärisch: Der Vertrag sieht vor, dass nur Anrainerstaaten präsent sein dürfen. Immer wieder gab es Spekulationen über amerikanisches Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Kasachen in deren kaspischen Häfen.

Eine alte sowjetische Idee aus den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts löst dagegen gerade in Russland wenig Begeisterung aus: ein Kanal vom Kaspischen ins Asowsche Meer, für den Kasachstan und China lobbyieren. Er brächte zwar auch Russland Vorteile, gerade bei der Verschiebung von Marineeinheiten zwischen dem Schwarzen, dem Asowschen und dem Kaspischen Meer. Aber es hätte mit seinen südrussischen Regionen die ökologische Last zu tragen und würde indirekt mithelfen, die kasachischen, aserbaidschanischen, turkmenischen und auch chinesischen Exportrouten zu diversifizieren.

Das ist Zukunftsmusik. Je mehr Russland seine Interessen im Nahen Osten sichern will, desto bedeutsamer sind die südlichen Meere. Die Krim ist der Ankerpunkt und das Asowsche Meer ein Verbindungsglied dafür.

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