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  4. Kandel: Der Rechtsstaat muss seine Sprachlosigkeit überwinden

Meinung Kandel und die Folgen

Der sprachlose Rechtsstaat hat keine Chance mehr

Staatsanwaltschaft legt Revision gegen Urteil im Mordfall Kandel ein

Im Mordfall Kandel kehrt auch nach dem Urteil keine Ruhe ein. Die Staatsanwaltschaft legt Revision gegen das Urteil von achteinhalb Jahren Haft eingelegt. Sie würde vor demBundesgerichtshof stattfinden.

Quelle: WELT / Lukas Axiopoulos

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Die Ursachen für die aktuelle Krise des Rechtsstaats liegen tief. Die Bevölkerung versteht ihn einfach nicht mehr, eine gefährliche Abwärtsspirale droht. Das lässt sich am Urteil im Fall Kandel gut beobachten. Was die Justiz nun tun muss.

Krisensymptome, wohin man auch schaut. Der Rechtsstaat duldet Parallelgesellschaften und Scharia-Justiz. Der Rechtsstaat wird missbraucht. Entscheidungen werden durch immer neue Rechtsmittel hinausgezögert. Die rechtmäßige Abschiebung selbst von Straftätern gelingt nicht. Gerichte brauchen – aus welchen Gründen auch immer – immer länger, um Urteile zu sprechen. Und die Urteile selbst? Immer öfter schütteln weite Teile der Bevölkerung verständnislos den Kopf, wenn sie Urteile hören.

Ist die Lage wirklich so schlimm? Oder ist das Gerede von der Krise des Rechtsstaats nur verantwortungslose Panikmache? Schaut man sich die relevanten Statistiken genauer an, zeigt sich: Der deutsche Rechtsstaat leistet objektiv gute Arbeit. Regelmäßige repräsentative Umfragen zeigen: Seit Jahrzehnten sind Gerichte und Justiz die staatlichen Institutionen, denen die Bürger mit am meisten vertrauen.

Die öffentliche Wahrnehmung ist aber eine völlig andere. Im Fokus stehen die – erschreckenden, haarsträubenden oder gar absurden – Fehler und Pannen des Rechtsstaats. Aber ist das der Kern der Krise? Auch Richter sind nur Menschen – und Menschen machen Fehler, immer und überall. Fehlurteile sollen nicht sein. Sie werden sich aber nicht immer vermeiden lassen.

Wo also liegt das Problem? Das lässt sich am aktuellen Urteil des Landgerichts Landau im Fall Kandel gut beobachten. Der Täter, ein afghanischer Flüchtling, hatte seine Ex-Freundin erstochen. Anfang September wurde er in erster Instanz wegen Mordes zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das versteht der Normalbürger nicht. Steht auf Mord nicht lebenslänglich?

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Selbstverständlich ist es richtig, dass im Jugendstrafrecht die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Hier geht es auch um den Schutz der jugendlichen Täter, die resozialisiert werden sollen. Und die verhängte Freiheitsstrafe ist rechtlich kaum zu beanstanden. Sie hält sich im Rahmen dessen, was das Jugendstrafrecht für Mord vorsieht. Das Urteil ist sicher kein Fehlurteil. Wo also liegt das Problem? Das Problem ist die Sprachlosigkeit des Rechtsstaats.

Im Fall Kandel hat der Pressesprecher des Gerichts kurz und knapp mit der Öffentlichkeit kommuniziert. Der Kern seiner Aussage war: Die Nichtöffentlichkeit in Jugendstrafsachen beziehe sich nicht nur auf den Prozess an sich, sondern auch auf die Gründe des Urteils. Mit anderen Worten: Die Öffentlichkeit erfährt gar nichts. Das Volk, in dessen Namen das Urteil gesprochen wurde, wird über den Prozess und das Urteil nicht informiert. Diese – arrogante oder/und unbeholfene – Pseudokommunikation befeuert Verschwörungstheorien nicht nur im Netz, und sie nährt Vorurteile gegenüber der Justiz.

Warum hat das Gericht der Öffentlichkeit und den Medienvertretern nichts über die rechtsstaatlichen Hintergründe und Probleme des Falles erzählt? Was ist die Besonderheit des Jugendstrafrechts? Und warum ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ so wichtig? Warum hat das Gericht das nicht erklärt und kommuniziert – etwa über Twitter? Das wäre auch möglich gewesen, ohne gegen den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit des Verfahrens zu verstoßen.

Die Ursachen für die aktuelle Krise des Rechtsstaats liegen tief. Weite Teile der Bevölkerung verstehen den Rechtsstaat nicht mehr. Und sie haben das Gefühl, dass die rechtsstaatlichen Institutionen nicht mehr für Gerechtigkeit und für Sicherheit stehen.

Dieses Gefühl wird dann durch unverständliche Entscheidungen von Gerichten, die im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und der Berichterstattung stehen, immer weiter verstärkt. Letztlich geht es um Gefühle und einen fortschreitenden Verlust von Vertrauen in den Rechtsstaat. Das ist eine explosive Mischung, die eine gefährliche Abwärtsspirale auslösen kann.

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Rechtsstaat und Justiz tun sich mit Gefühlen eher schwer. Aus guten Gründen versuchen sie, Emotionen weitgehend aus rechtlichen Verfahren herauszuhalten. Das ist nichts anderes als der Versuch, möglichst vernünftig und objektiv zu urteilen. Trotzdem dürfen die negativen Emotionen der Bürger nicht ignoriert werden. Unverständnis, Enttäuschung, Angst und Wut führen dazu, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren geht. Und das ist fatal.

Ohne das Vertrauen seiner Bürger kann der Rechtsstaat auf Dauer nicht funktionieren. In einer Demokratie lässt sich das Recht nicht mit Gewalt durchsetzen. Es ist auf die Akzeptanz seiner Bürger angewiesen. Und das geht nicht ohne ein Minimum an Vertrauen in den – komplizierten und manchmal unverständlichen – Rechtsstaat.

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Der Rechtsstaat ist in all seinen Facetten und Verästelungen sehr komplex. Er ist aber keine Kopfgeburt realitätsfremder Juristen. Seine Grundidee ist eindrucksvoll und einfach: Er garantiert Freiheitsrechte für die Bürger gegenüber dem Staat. Eine unabhängige Justiz wacht darüber, dass der Staat diese Rechte nicht verletzt. Ohne Rechtsstaat gibt es keine Bürgerfreiheit. Er ist das Gegenmodell zum Machtstaat, in dem das Recht des Stärkeren herrscht.

Wie kommt der Rechtsstaat aus der Krise? Er muss seine Sprachlosigkeit überwinden. Er muss sich gegenüber seinen Bürgern erklären. Alles, was mit dem Etikett Rechtsstaat versehen wird, verstehen und akzeptieren die Bürger automatisch? Ein Gerichtsurteil erklärt sich selbst? Diese paradiesischen Zeiten sind vorbei.

Die Justiz muss alle Kommunikationskanäle nutzen, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Warum soll ein Gericht nicht ein Urteil per Twitter erklären? Es ist höchste Zeit für eine Revolution der Kommunikationskultur im Rechtsstaat und in der Justiz. Der sprachlose Rechtsstaat hat keine Chance in der Mediengesellschaft.

Autor Volker Boehme-Neßler ist Rechts- und Politikwissenschaftler. Er lehrt Verfassungsrecht und Internetrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Autor Volker Boehme-Neßler ist Rechts- und Politikwissenschaftler. Er lehrt Verfassungsrecht und Internetrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Quelle: Privat
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