Katarina Hagstedt und Martin Inderbitzin sammeln Geschichten von Überlebenden. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Katarina Hagstedt und Martin Inderbitzin sammeln Geschichten von Überlebenden. (Bild: Simon Tanner / NZZ)

Leben mit Krebs: Warum ein junges Zürcher Paar positive Geschichten zum Umgang mit der Krankheit erzählt

Ermutigende Geschichten können Patientinnen und Patienten stärken. Davon ist ein Zürcher Paar überzeugt. Es spricht aus Erfahrung – und möchte diese mit anderen teilen.

Melanie Keim
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Als sich sein Bruder vor sechs Jahren entschlossen hatte, am «Züri-Triathlon» teilzunehmen, griff Martin Inderbitzin spontan zum Telefon und meldete sich ebenfalls an. Es sollten seine ersten 1,5 Kilometer im Wasser, 40 Kilometer auf dem Rad und 10 Kilometer auf der Laufstrecke am Stück sein. Genauso wie die Chemotherapie, in der er zu jenem Zeitpunkt steckte, seine erste war, war auch der Triathlon eine Premiere.

Noch geschwächt von der Therapie, begann der damals 32-Jährige, der zuvor nie Ausdauersport betrieben hatte, mit einem irrwitzigen Training. In Joggingschuhen schlurfte er den Spitalgang entlang, mit Infusionen verkabelt setzte er sich auf den Hometrainer, und wieder zu Hause kämpfte er sich ins Hallenbad. Drei Monate später überquerte er als stolzer Finisher die Ziellinie.

Inderbitzin hat diese Geschichte schon etliche Male erzählt, als Motivationsredner vor Patienten, Forschern und Managern sowie auf «My Survival Story». So heisst eine von ihm initiierte Internetplattform, auf der Krebspatienten von ihrem Umgang mit der Krankheit erzählen – in kurzen Videos, die selbst in schlechter körperlicher Verfassung verdaubar sind. «Meine Idee war, dass Krebspatienten bei ihrer Google-Suche nicht nur Zahlen finden, sondern persönliche Geschichten, die ihnen Mut machen», erklärt der promovierte Neurowissenschafter.

Als er 2012 die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs mit einer Überlebenschance von 5 Prozent erhielt, schöpfte er selbst Hoffnung aus der Geschichte eines Überlebenden, die der Arzt beiläufig erwähnt hatte. «Ich brauchte jedoch eine Weile, bis ich verstand, welchen Effekt solche Geschichten haben können», sagt er. Ausschlaggebend war das Erlebnis, dass seine eigene Erfahrung jemanden in seinem Umfeld stärkte. Eine Freundin seiner Mutter druckte seinen Blog, in dem er über seine Therapie, sein Training und den Triathlon schrieb, auf Papier aus und nahm ihn mit zu ihrer Chemotherapie.

Der Kampf zurück in den Alltag

An diesem Morgen sitzt in einem Zürcher Café auch Katarina Hagstedt, Inderbitzins Frau. Die gebürtige Schwedin reiste 2016 mit ihrem Mann zwischen zwei Krebs-Screenings einmal um die Welt, um Geschichten von Krebskranken zu sammeln. «Wir wollten nicht in unserem gewohnten Chemo-Umfeld bleiben und hatten mit diesem Projekt etwas, um uns am Leben festzuhalten», erzählt Hagstedt rückblickend. Ihr Mann, der während seines Neurobiologiestudiums an der ETH mit Making-ofs von Filmen sein Geld verdiente, reiste mit der Kamera, sie mit einem Audio-Recorder.

Hagstedt erzählt am Treffen, wie sie durch einen Zufall zur Podcast-Produzentin wurde. 2015 begleitete sie ihren Mann nach Solothurn zu einem Workshop, der im Zusammenhang mit der Förderung der Plattform stand. Er war durch eine erneute Chemotherapie zu schwach, um alleine teilzunehmen. Als dort jemand die Idee eines Audio-Podcasts aufwarf und Hagstedts warme, starke Stimme ins Spiel brachte, war sie, die damals im Online-Marketing arbeitete, sofort begeistert. Noch am selben Abend machte sie im Hotelzimmer in Solothurn die ersten Aufnahmen mit ihrem Smartphone.

Letztes Jahr ist nun ihr englischsprachiger Audio-Podcast erschienen, in dem sie in acht aufwühlenden Episoden einen Bogen schlägt – von der Erstdiagnose ihres Manns weiter zu der Nacht ein Jahr später, als sich das Paar in einem Zürcher Nachtklub kennenlernte. Und von dort zu ihrer Weltreise und den Geschichten von Krebskranken rund um den Globus. So spricht in Tokio eine Betroffene über die Tabuisierung von Krebs in Japan, in New York klagt eine Künstlerin darüber, immer stark sein zu müssen, und in Grossbritannien treffen die beiden einen «survivor», dem vor allem die Rückkehr nach der Genesung schwerfiel.

Die Angst vor der Normalität holt schliesslich auch das Paar ein, das nach dieser ersten Weltreise erneut aufbricht, über den Atlantik segelt und weiterreist, selbst als ein dritter Tumor eine weitere Chemotherapie erfordert und Hagstedt ihren Mann im Rollstuhl ins Flugzeug schieben muss.

Mit der Angst umgehen

«Von überall hörten wir, wie inspirierend wir seien. Doch dieses Bild des dynamischen Paars, an dem wir ja auch selbst festhielten, wurde irgendwann zur Last», sagt Hagstedt. Sie verschweigt weder im Gespräch in Zürich noch in ihrem Podcast, dass sie eine Zeit lang davonrannten vom Alltag in ihrer Zürcher Wohnung und von der Angst vor diesem Krebs, der immer wieder zurückkehren konnte. «Die eigene Verletzlichkeit und Ängste zu teilen, kann andere auch stärken», ergänzt Inderbitzin. Er spricht auf seinem Blog und seinem Youtube-Channel denn auch über Rückschläge. Etwa darüber, dass vor rund einem Monat wieder ein Tumor entdeckt wurde.

Inderbitzin erhält regelmässig sehr persönliche Mails, in denen Patienten und Angehörige schildern, wie ihnen die Geschichten geholfen hätten, mit der Krankheit umzugehen. Für die Art und Weise, wie er selbst über seinen Umgang mit der Krankheit spricht, wurde er allerdings auch schon kritisiert. Seine Geschichte sei zu gross und könne destruktiv wirken, bekam der Zürcher, der dieses Jahr seinen zweiten Marathon absolvierte, zu hören. «Meine sportlichen Eskapaden sind meine ganz persönliche Art und Weise, mit meiner Angst umzugehen», sagt Inderbitzin und fügt hinzu, dass seine Geschichte auch schlicht nicht für alle stimmen könne.

Auf der wachsenden Plattform, auf der Betroffene über Instagram auch eigene Geschichten teilen können, möchten die beiden jedoch möglichst diverse Geschichten abbilden. Der Begriff «survival story», Überlebensgeschichte, ist zudem auch nicht als Geschichte des Sieges gegen den Krebs zu verstehen. «Überleben heisst nicht, nicht zu sterben», erklärt Inderbitzin. «Mit Überleben meine ich einen Prozess, wie man mit dem Leben umgeht, bis man irgendwann stirbt.»

Unter der Bettdecke

Während Inderbitzin heute neben der Arbeit an der Plattform zahlreiche Vorträge hält, in denen er das Wissen aus seiner früheren Forschung zu Stress mit seinen persönlichen Erfahrungen verknüpft, arbeitet Hagstedt unter anderem an einer deutschen Adaption ihres Podcasts, der diesen Frühling haarscharf einen Webby-Award verpasst hat – die Auszeichnung wird auch als «Oscar des Internets» bezeichnet.

Wie die Quereinsteigerin mit ihrem unabhängig produzierten Podcast ihren Platz neben Produktionen grosser Medienhäuser wie Bloomberg oder der «Huffington Post» fand, ist wieder eine grosse Geschichte. Hagstedt startete nicht nur ohne Radio- und ohne Audio-Erfahrung. Sie nahm ihren gesprochenen Text auch nicht in einem professionellen Studio auf, sondern unter der Bettdecke und in einer mit Schaumstoff ausgekleideten Nische der gemeinsamen Wohnung in Zürich. Kürzlich hat sie für ihr Werk am Schweizer Audiofestival Sonohr einen Preis gewonnen.

Martin Inderbitzins Erfahrung, dass positive Geschichten Krebspatienten stärken können, soll nun auch wissenschaftlich überprüft werden. Während eine Pilotstudie am Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich noch in Planung ist, geht Inderbitzin wieder mit Tempo und grossen Schritten vorwärts: Er träumt bereits von einer klinischen Anwendung motivierender Geschichten während einer Krebstherapie.

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