ZEIT ONLINE: Herr Piot, das HI-Virus bedroht seit den 1980er Jahren die Menschheit, dank bahnbrechender Therapien muss die Diagnose "HIV-positiv" zwar heute nicht mehr zwangsläufig den Tod durch eine Aidserkrankung bedeuten. Die traurige Wahrheit ist aber auch: Aids ist noch immer mitten unter uns, trotz aller Ziele, die Krankheit zu besiegen.

Peter Piot: Das ist richtig. Aus der Aids-Epidemie ist eine Endemie geworden. Das heißt, dass das Virus heute in den meisten Ländern der Welt heimisch ist. Wir treten aber gerade in eine neue Phase ein, was die Antwort auf Aids angeht. Anfangs haben wir die Augen vor der Epidemie verschlossen. Um die 2000er ist sie dann auf der Agenda der Vereinten Nationen gelandet und in den am schwersten betroffenen Ländern begannen Programme, um die Infizierten zu behandeln. Und jetzt müssen wir am Ball bleiben.

ZEIT ONLINE: Kann das gelingen?

Piot: Wir haben doch schon alles, um Aids zu besiegen: Labortests und Arzneimittel, die die Krankheit ein Leben lang unterdrücken. Von den 38 Millionen Infizierten weltweit bekommen heute fast 20 Millionen antiretrovirale Medikamente. Deshalb ist die Sterblichkeit in den vergangenen zehn Jahren auf die Hälfte gesunken. Das ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte.

ZEIT ONLINE: Die Vereinten Nationen wollen die Epidemie bis 2030 sogar beenden.

Peter Piot ist Mikrobiologie und einer der Entdecker des Ebola-Virus. Er ist einer der weltweit führenden Infektiologen. Von 1994 bis 2008 leitete er als erster Direktor das Aids-Programm der Vereinten Nationen, UNAids. Seit 2010 leitet er die renommierte London School of Hygiene and Tropical Medicine. © Heidi Larson

Piot: Ich bin Optimist, aber ich glaube nicht, dass das realistisch ist, auch wenn es gut ist, ehrgeizige Ziele zu haben. Wir dürfen nicht den Eindruck vermitteln, dass alles gut ist. Wir haben immer noch viel zu viele Neuansteckungen pro Jahr. Das Ziel der Vereinten Nationen ist es auch, weltweit auf nur noch eine halbe Million Neuerkrankungen im Jahr 2020 zu kommen. Momentan haben wir aber noch fast zwei Millionen. Das macht 20 Millionen in zehn Jahren. Allein in Südafrika stecken sich jedes Jahr 300.000 Menschen an.

ZEIT ONLINE: Wie lässt sich das ändern?

Piot: Hier geht es nicht nur um medizinische Fragen, sondern auch um praktische Überlegungen: Halten sich die Infizierten an ihren Behandlungsplan? Haben sie überhaupt einen? Kommen sie an ihre Medikamente? Wie sorge ich dafür, dass die Lieferketten nicht unterbrochen werden? Gerade auch in Kriegen oder Bürgerkriegen, die Millionen Menschen betreffen wie in der Demokratischen Republik Kongo. Darüber hinaus leben in Subsahara-Afrika 220 Millionen Menschen zwischen 15 und 25, 2030 werden es 350 Millionen sein. Wir müssen erreichen, dass sich hier möglichst wenige anstecken. Vor allem um junge Frauen im südlichen Afrika, also in Südafrika, Namibia, Swasiland und Simbabwe, mache ich mir Sorgen. Jedes Jahr infizieren sich zwei bis fünf Prozent der Frauen, die Sex haben, neu mit HIV. Wenn sie dreißig sind, ist also jede Dritte infiziert. Dass der Kampf gegen Aids in manchen Ländern so schlecht vorangeht, hat oftmals weniger finanzielle als vielmehr politische Gründe, nicht nur in Afrika.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das? Haben Sie ein Beispiel?

Piot: In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und Zentralasien, beobachten wir gerade eine Katastrophe: Allein im vergangenen Jahr haben sich dort 200.000 Menschen neu angesteckt. Dort gibt es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer ein großes Alkohol- und Drogenproblem. Die Menschen stecken sich vor allem über verunreinigtes Spritzbesteck mit HIV an. In Westeuropa gibt es überall saubere Nadeln für Drogennutzer und das hat die HIV-Raten massiv gesenkt. Aber in der ehemaligen Sowjetunion ist das politisch nicht akzeptiert. Ich war häufig in Russland und habe versucht, Politiker zu überzeugen. Das ist radikal gescheitert. Dazu kommt, dass schwule Männer diskriminiert werden und kaum Zugang zu Therapien bekommen.

ZEIT ONLINE: Ein Problem also, dass Ärzte nur bedingt lösen können ...

Piot: Absolut. Die Prävention kann nur dann gelingen, wenn wir über das Leben und die Kultur der verschiedenen Menschen nachdenken. Die Sozialwissenschaften wie die Anthropologie werden im Kampf gegen Aids genauso wichtig werden wie die Biomedizin. Wir müssen die Programme noch stärker auf die Menschen zuschneiden. Wenn es darum geht, Diagnostik und Behandlung zu den Patienten zu bringen, macht es einen Riesenunterschied, ob Sie ein schwuler Mann in Russland, der türkischen Provinz oder in Berlin sind.