Petticoat und Holocaust – Seite 1

Kann man sich noch eine Zeit vorstellen, in der Auschwitz nicht jedem eingebrannt war als Inbegriff des Bösen und unentrinnbarer deutscher Schuld? Es gab diese Zeit, sie reichte bis in die 1960er Jahre. Es war die scheinbar unbeschwerte Ära des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, von Petticoat, Nierentisch und fröhlicher Schlagermusik. Die Deutschen arbeiteten, feierten, konsumierten, als gäbe es kein Gestern, und sie bemühten sich mit aller Kraft, den Krieg, die Nazi-Zeit und ihre eigene Mitverantwortung für die NS-Verbrechen zu verdrängen. 

Dann aber stieß der Frankfurter Journalist Thomas Gnielka 1958 auf Dokumente mit den Namen von KZ-Wachleuten. Fünf Jahre später begann der Frankfurter Auschwitzprozess, der größte und wohl wichtigste Prozess der bundesdeutschen Geschichte. Und ein Wendepunkt in der Aufarbeitung des Holocaust.

Kann man darüber und über die dramatische Vorgeschichte des Prozesses einen Spielfilm drehen, der dazu noch unterhält und nicht als bleischwere Geschichtsstunde daher kommt? Der Regisseur Giulio Ricciarelli und die Produzenten Uli Putz und Jakob Claussen haben es mit Im Labyrinth des Schweigens getan. Sie haben sich an diesen Stoff gewagt, der so noch nie im Kino erzählt wurde. Gelungen ist ihnen ein zweistündiges Werk, das eindringlich und beklemmend ein fast vergessenes Kapitel bundesdeutscher Geschichte schildert. 

Hauptprotagonist ist der fiktive junge Staatsanwalt Johann Radmann, gespielt von Alexander Fehling (Goethe!). Wie alle Neulinge muss er sich mit langweiligen Verkehrsdelikten beschäftigen. Da sorgt ein Journalist im Gerichtsgebäude für Aufruhr: Ein Freund von ihm hat einen Lehrer als ehemaligen Auschwitz-Aufseher wiedererkannt, doch niemand will seine Anzeige aufnehmen.

Radmann wird als Einziger hellhörig. Er wittert seine Chance, einem richtigen Kriminalfall nachzugehen, und nimmt gegen den Willen seines direkten Vorgesetzten Ermittlungen auf. Schon bald merkt er, auf welch gigantisches Verbrechen er gestoßen ist. Überall begegnet man ihm mit Ablehnung und Verleugnung: Die einen haben in jenen Jahren von Auschwitz noch nie etwas gehört, andere wollen das ehemalige Vernichtungslager und alles, was damit verbunden ist, vergessen. Nur Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, gespielt von dem großartigen Theatermimen Gert Voss, unterstützt Radmann. Er möchte die in Auschwitz begangenen Verbrechen schon lange an die Öffentlichkeit bringen, für eine Anklage fehlte ihm aber bis dahin die juristische Handhabe. Er beauftragt den jungen Staatsanwalt, die Ermittlungen zu leiten.

Der versucht zunächst als Einzelkämpfer herauszufinden, was in Auschwitz passiert ist. Er befragt Zeugen, durchforstet Akten, sichert Beweise und verirrt sich irgendwann im Labyrinth der Mordmaschine mit ihren Tausenden Tätern – und seinem eigenen Ehrgeiz.

Kein hollywoodartiges Heldenepos

Ricciarelli vermeidet es in seinem Regiedebüt zum Glück, ein hollywoodartiges Heldenepos zu stricken. Der Film gewinnt seine Stärke vielmehr daraus, dass er zwar klar Position für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bezieht, aber auch andere Sichtweisen zulässt. Auch seine Charaktere zeichnet er keineswegs eindimensional. So ist Radmanns Gegenspieler, Oberstaatsanwalt Walter Friedberg, der die Ermittlungen für überflüssig und aussichtslos hält, keineswegs ein unverbesserlicher Alt-Nazi, sondern war – äußerst selten in der Nachkriegsjustiz – nicht einmal in der NSDAP. Friedberg will nach vorne schauen und wehrt sich dagegen, alte Wunden aufzureißen. "Wollen Sie, dass jeder junge Mensch in diesem Land fragt, ob sein Vater ein Mörder war?"

Diese Frage muss sich auch Radmann stellen, als er herausfindet, dass sein seit 1945 vermisster geliebter Vater wie Millionen andere Parteigenosse war. Der junge Staatsanwalt erkennt erst ziemlich am Ende, dass es gar nicht so sehr darum geht, die ohnehin unsühnbare Schuld am Holocaust juristisch zu ahnden, sondern darum, den Deutschen die Augen zu öffnen und sie mit der Wahrheit von Auschwitz zu konfrontieren. Begangen "von ganz normalen Menschen", wie Fritz Bauer betont.

Der Regisseur und sein Team haben sich akribisch mit dem Auschwitzprozess beschäftigt, sie lasen die Gerichtsakten, ließen sich von einem Historiker beraten und sprachen mit dem letzten noch lebenden Staatsanwalt, der seinerzeit die Ermittlungen betrieben hatte. Das merkt man dem Film in vielen Szenen an. Gleichwohl ist Im Labyrinth des Schweigens keine weitere trockene Geschichtsdoku, sondern ein mitreißender Spielfilm.

In der Realität endete der Frankfurter Auschwitzprozess 1965 mit überwiegend milden Haftstrafen. Die meisten Verurteilten kamen nach wenigen Jahren wieder frei. Und doch hat er die Welt verändert: Es war das erste Mal, dass ein Volk Verantwortliche für Kriegsverbrechen selbst vor Gericht stellte. Angesichts der aktuellen Kriege in Syrien, im Irak, der Ukraine und vielen anderen Ländern hat das nichts an Bedeutung verloren. Nicht nur deshalb lohnt es sich, sich diesen Film anzuschauen.