Die alte Freundschaft ist vorbei – Seite 1

Gastautor Günter Seufert forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu türkischer Innen- und Außenpolitik.

Gegensätzlicher als Mehtap Yılmaz und Angela Merkel kann man ein und dieselbe Angelegenheit nicht zum Thema machen. Autorin Yılmaz schreibt für die türkische Zeitung Akit, dem radikalsten Blatt an der Seite von Recep Tayyip Erdoğan, dem Präsidenten der Türkei. Sollten die Nato und die Europäische Union, sagt Yılmaz, noch länger unbeteiligt zusehen, wie Donald Trump mit seinen Dollars die Sicherheit der Türkei untergräbt, wird Erdoğan die Europäer die Zeche zahlen lassen. "Dann öffnen wir die Flüchtlingsschleuse so weit, dass man in Europa künftig im Stehen schläft."

So drastisch formuliert es die Bundeskanzlerin natürlich nicht. Doch sagt sie, dass niemand ein Interesse daran haben kann, dass die Türkei wirtschaftlich und politisch instabil wird. Sie tut das in klarem Bewusstsein darüber, dass in erster Linie Europa die Folgen tragen wird, wenn in der Türkei die Dinge noch weiter aus dem Ruder laufen.

Dabei geht es nicht nur um Flüchtlingspolitik. Erdoğans Drohung an die Adresse Donald Trumps, dass die Türkei sich neue Bündnispartner und neue Freunde suchen wird, zielt auf die türkische Mitgliedschaft in der Nato. Auch hier ist Europa stärker verwundbar als die USA. Denn Donald Trump erscheint das Bündnis, das im Kalten Krieg zentrales Instrument der Politik Amerikas gewesen ist, heute schon fast verzichtbar. 

Geostrategisch von unschätzbarem Wert

Doch für Europa ist die Nato noch immer der zentrale Schutzschirm. Das gilt besonders im Hinblick auf Russland, das jetzt erneut als primäre Gefahrenquelle wahrgenommen wird. In der Türkei lagern – zumindest offiziell – auch heute noch strategische Atomwaffen der USA. In Anatolien befindet sich die zentrale Radarstation für den Raketenabwehrschirm der Nato. Und in Izmir, in der Ägäis, befindet sich das Allied Land Command, die Befehlsstelle des Bündnisses für Einsätze von Bodentruppen. 

Keiner dieser Standorte ist zufällig ausgewählt worden. Die Lage der Türkei ist geostrategisch von unschätzbarem Wert. Das Land befindet sich an der Schnittstelle zwischen Europa und dem Nahen Osten, ist direkter Nachbar von Russland und ein Korridor zum Kaukasus sowie nach Zentralasien. Von ihrem Stützpunkt İncirlik in Südost-Anatolien führen die USA und ihre Verbündeten die Einsätze gegen den "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak.

Ohne oder gar gegen Ankara ist eine Funktion Europas im Nahen Osten nur schwer denkbar. Das gilt für diplomatische Bemühungen, für Friedenseinsätze, aber auch konkret für den Wiederaufbau Syriens. Noch schlimmer wäre es, wenn die Türkei – wie ihre südlichen Nachbarstaaten – noch tiefer ins Chaos rutschen und unregierbar würde.

Doch unabhängig von ihrer geografischen Lage ist die Türkei auch rein militärisch ein Schwergewicht. Unter den 29 Nato-Mitgliedern hat sie nach den USA die größten Streitkräfte im Bündnis. Ankara gibt absolut und anteilsmäßig mehr Geld fürs Militär aus als zwei Drittel der Nato-Mitglieder, zudem hat sich in den letzten Jahren die türkische Rüstungsindustrie enorm entwickelt.

Die Wirtschaftskrise wird nichts zum Besseren wenden

Würde sich die Regierung in Ankara tatsächlich Richtung Moskau wenden, würde sich das globale Machtgleichgewicht verändern. Dann müssten die restlichen Nato-Partner viel tiefer in die Tasche greifen. Und auch der Ausgleich zwischen den südlichen und östlichen Nato-Mitgliedern in Europa würde sich dann schwieriger gestalten. Denn wie die Bundesrepublik ist die Türkei ein Land, das sich nicht nur von östlichen (und nördlichen) Nachbarn herausgefordert fühlt, sondern stets auch nach Süden blicken muss.

All dies sollte beim Nachdenken darüber, wie sich Deutschland und die Europäische Union in diesem Konflikt verhalten, mitgedacht werden. Die Hoffnung, eine schwere Wirtschaftskrise würde automatisch zu einer Schwächung der Regierung Erdoğans und der anschließenden Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse führen, ist wenig realistisch.

Zu tief sind weite Teile der Bevölkerung im Kokon einer Weltsicht gefangen, nach der sich der gesamte Westen gegen die Türkei verschworen hat. Zu zersplittert ist die Opposition, und zu schmerzhaft werden die Folgen der türkischen Finanzkrise für die Türken sein, als dass von heute auf morgen geordnete Verhältnisse und Demokratie wiederkehren könnten.

Hinzu kommt, dass sich die Türkei und die USA zwar aktuell über Zölle und daneben über eine Reihe anderer Dinge streiten, doch dass hinter der Entfremdung zwischen beiden Staaten strukturelle Veränderungen stehen, die nicht rückgängig gemacht werden können. Die ursprünglichen Grundlagen der türkisch-amerikanischen Partnerschaft, der Kalte Krieg sowie die Bedrohung der Türkei durch die Sowjetunion, bestehen nicht mehr. Die Regierungen in Washington und Ankara haben keine gemeinsame Vision für den Nahen Osten, sondern kommen sich dort mittlerweile regelmäßig in die Quere. 

Die Türkei bleibt ein schwieriger Partner

Das Ende des Kalten Krieges hat der Türkei nicht nur in Zentralasien und auf dem Balkan neue Aktionsräume eröffnet, sondern auch im Nahen Osten. Seit dieser Zeit sucht die Türkei einerseits ihre Stellung im Nahen Osten zu stärken. Andererseits fürchtet das Land die Folgen amerikanischer Nahostpolitik, die aus seiner Perspektive die Destabilisierung nahöstlicher Staaten zur Folge hat und dadurch den Kurden des Irak, Syriens und damit auch denen der Türkei Freiräume schafft.

Die erste Station der türkisch-amerikanischen Entfremdung entlang dieser Konfliktlinie war 1991 die Einrichtung von Flugverbotszonen im Irak Saddam Husseins, die den Boden für die Entstehung des kurdisch-föderalen Teilstaats im Nordirak bereiteten. 2003 versagte Ankara den USA beim Sturz Saddam Husseins die Eröffnung einer Nordfront von türkischem Boden aus. 2010 weigerte sich die Türkei, Sanktionen gegen den Iran mitzutragen, nachdem Washington zuvor einen von der Türkei und Brasilien ausgehandelten Kompromiss mit Teheran rundweg abgelehnt hatte. 

In den Jahren davor hatte die Regierung in Ankara zudem – von Washington misstrauisch beäugt – gute Beziehungen zu Damaskus aufgebaut, die jedoch mit dem Beginn der arabischen Aufstände ins Gegenteil umschlugen. Ab 2013 beschuldigten die USA die Türkei, in Syrien Dschihadisten auszurüsten, und seit 2014 kooperiert Washington nun schon mit den Kämpfern der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), die Ankara mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) gleichsetzt. Der Streit in dieser Frage hält bis heute an.

Es gibt deshalb weder in der Innen- noch in der Außenpolitik ein Zurück zur türkisch-amerikanischen Freundschaft der früheren Jahrzehnte und Ähnliches gilt für das Verhältnis Ankaras zur Europäischen Union. Die Türkei wird ein schwieriger Partner bleiben. Damit sie Partner bleiben kann, muss sie stabil sein.