Millionen Menschen reisen täglich über den Globus, treffen sich an Flughäfen, in Stadien, beim Karneval. Menschenmassen schieben sich in Bussen und Bahnen durch Millionenstädte. Das macht es Erregern wie dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 leicht, sich auszubreiten. Forscherinnen und Forscher versuchen, solche Pandemien, also die weltweite Verbreitung einer Krankheit, vorherzusehen. Wie das geht, erklärt der Seuchenforscher René Niehus, der in Harvard forscht.

ZEIT ONLINE: Herr Niehus, in Italien sind mehr als 880 Menschen (Stand: 29. Februar) am neuen Coronavirus erkrankt, die Zahl wächst weiter. Mittlerweile gibt es auch neue Fälle in Deutschland, Kroatien, Österreich und der Schweiz. Es scheint, als ob sich das Virus europaweit ausbreiten könnte. Konnte man das vorhersagen? 

René Niehus: Es war nicht vorhersehbar, dass sich das Virus in Italien so weit ausbreiten würde. Tatsächlich können wir bei vielen Fällen immer noch nicht nachvollziehen, wie sich die Menschen angesteckt haben. Es zeichnet sich schon seit vergangener Woche ein ungünstiges Szenario ab: Das Virus scheint auch ohne deutliche Symptome übertragbar zu sein. Strategien, die darauf beruhen, Infizierte zu entdecken und zu isolieren, werden deshalb relativ wenig Effekt haben. Stattdessen müssen wir alle ganz generell der Verbreitung entgegenwirken: zum Beispiel, indem wir Menschenmengen meiden, Meetings über Skype statt persönlich machen, Reisen absagen und uns oft die Hände waschen. Es zeichnet sich eine Pandemie ab.

Der gebürtige Bielefelder René Niehus ist ursprünglich Mikrobiologe. Heute forscht er am Zentrum für übertragbare Krankheiten der T.H.-Chan-Hochschule für Gesundheitswesen der amerikanischen Harvard-Universität. © René Niehus

ZEIT ONLINE: Manches können wir ja heute schon sehr gut vorhersehen, zum Beispiel das Wetter. Warum können wir den Verlauf einer Pandemie nicht so einfach prognostizieren?

Niehus: Über das Wetter wissen wir relativ viel, denn wir messen es ja schon seit Jahrzehnten sehr genau. Beim jetzt ausgebrochenen Coronavirus ist das anders, es ist ein ganz neues Virus. Wir kennen zwar die Virusfamilie, aber dieser spezielle Typ war uns bis Dezember 2019 noch nicht bekannt. Am Anfang wussten wir gar nichts über den Erreger. Selbst Schätzungen, die ganz einfach klingen, sind deshalb schwer – zum Beispiel die Zahl der Fälle, die wir morgen in Wuhan, der chinesischen Stadt, in der das Virus nach bisherigen Erkenntnissen zuerst ausgebrochen ist, erwarten müssen. Wir wissen nicht einmal sicher, wie viele Fälle es heute gibt. Um wirklich gute Vorhersagen treffen zu können, braucht es viel Zeit, aber die haben wir beim Coronavirus nicht.

ZEIT ONLINE: Teilweise fehlen bisher bestimmte Daten aus China. Stellt das ein Problem für die Modellierung dar?

Niehus: China hat eine unglaubliche Leistung erbracht: Wenn in China Daten darüber erhoben werden, wie viele Menschen sich infiziert haben, dann sind die oft sekundenschnell auf der ganzen Welt verfügbar. Zudem arbeitet eine der besten Forschungsgruppen in Hongkong daran, die Epidemiologie des Virus zu erforschen – also die Verbreitung, die Ursachen und die Folgen. In Wuhan gibt es einfach nicht genug Kapazität, Ansteckungen zu bestätigen, außerdem gibt es viele Erkrankungen mit leichten Verläufen. Die Daten aus der Stadt sind davon stark beeinflusst. Daher ist es schwer, grundlegende Eigenschaften der Epidemie abzuschätzen. Zum Beispiel sind wir uns noch nicht sicher, wie lange es dauert, bis sich die Anzahl der Infizierten verdoppelt, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Infektion erkannt wird, oder wie viele Leute, die das Virus bekommen, ins Krankenhaus gehen oder daran sterben. Viele wichtige Vorhersagen hängen davon ab, was wir über diese Eigenschaften wissen. Diese Unsicherheit überträgt sich auch auf unsere Ergebnisse.

ZEIT ONLINE: Wie kann man unter solchen Bedingungen überhaupt Vorhersagen treffen?

Niehus: Man puzzelt genetische, medizinische und sonstige Informationen zusammen und fragt sich bei jedem Baustein, wie er unser gegenwärtiges Bild vom Virus verändert. Am Anfang, als das Virus völlig neu war, kannten wir erst nur die Virusfamilie und wussten, dass es wahrscheinlich von Tier zu Mensch übertragen wurde. Dann haben wir schnell gemerkt, dass auch eine Übertragung von Mensch zu Mensch möglich ist – eine große Veränderung für das Spielfeld des Virus. Jetzt gibt es mehr und mehr Hinweise darauf, dass auch Menschen mit wenigen Symptomen das Virus übertragen können. Das verändert das Szenario wieder und wird es schwer machen, das Virus davon abzuhalten, sich auszubreiten. In diesem Rennen mit dem Virus versuchen wir vor allem, verlässliche Daten zu benutzen.