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Bombendonner, der Bauchgrummeln auslöst

Noch eine Comicrepo über Kurdistan? Noch zwei, drei, viele! Um die Jahrtausendwende entdeckte die neunte Kunst die Welt und ihre Krisen wieder; und seither hat die – mal mehr, mal weniger kolorierte – Narration im Kästchenformat einen Drive und eine Dringlichkeit bekommen, von der mancher Theatermacher nur träumen kann.

Medienforscher sehen in den Qualitäten der Comicrepo sogar hilfreiche Hinweise für den serbelnden Printjournalismus: Der erzählerische Reportmodus des Comics versuche sich gar nicht erst in Objektivität, und deshalb entstehe auch kein Fake-News-Verdacht. Die Bildchentechnik und ihre äusserst langsame Genese, die oft eingeklinkten Selbstporträts und Selbstreflexionen schaffen von vornherein Distanz zur Sache – und Raum für die Subjektivität des Reporters. Vielleicht hat diese künstlerische Ehrlichkeit in der Tat zur Hausse des Genres beigetragen, die in Frankreich etwa das – jüngst auch im Zürcher Kaufleuten gefeierte – Erfolgsmagazin «Revue XXI» hervorbrachte. Zeichner wie auch unser TA-Künstler Felix Schaad verschränken die klassische ComicÄsthetik mit dem entlarvenden Blick der Zeitungskarikatur und dem Bekenntnis zur privaten Sicht. Es ist, als hätten sie dabei sich selbst neu gefunden. Wie, zeigen drei neue Bände aus Frankreich, Grossbritannien und Italien.

Von Mosul nach Paris

Da graben Künstler in ihren Kindheiten, um den Weg zum Chaos von heute aus einem persönlichen Blickwinkel nachzuzeichnen: so die eben auf Deutsch erschienene autobiografische Recherche «Mohnblumen aus dem Irak» («Coquelicots d'Irak») von Brigitte Findakly und Lewis Trondheim in der Nachfolge der sensationellen «Persepolis»-Bände der Iranerin Marjane Satrapi.

Findakly, 1959 in Mosul geboren, verbrachte dort 14 glückliche Jahre. Während Diktatoren kamen und gingen, Verfolgungen bis ins Nachbarhaus stattfanden, gings bei der Tochter eines irakischen Zahnarzts und einer Französin häufig bunt und fröhlich zu. Findaklys Mann, der französische Zeichner Trondheim, gibt den Erinnerungen denn auch eine zarte Kinderbuchanmutung (Farben und Szenario: Findakly). Sepiafarbene Kinderfotos verleihen dem Buch zudem eine Prise nostalgiegetränkter Authentizität. Als die Zeiten härter wurden, siedelte die Familie nach Paris über – und erfuhr dort Ablehnung, Rassismus, gesellschaftlichen Absturz. Findakly integrierte sich mit Mühe, ging eine Gratwanderung zwischen irakischer höherer Tochter aus christlichem Haus und emanzipierter Französin: Im Band wird sichtbar, was so ein Kulturschock bedeutet. Und die Halbirakerin schildert, wie schwierig es für sie ist, dass die Familie inzwischen teils dankbar in den neuen Hass auf die Muslime eintaucht.

Als Helferin im Flüchtlingscamp

Andere Comickünstler schauen nicht zurück, sondern greifen aktiv in die Gegenwart ein und erzählen davon, wie die preisgekrönte Britin Kate Evans. Ihr Band «Threads from the Refugee Crisis» übers wilde Flüchtlingscamp bei Calais, wo sie ehrenamtlich mithalf, wurde kürzlich publiziert, und Evans sagt dazu frei heraus: «Ich bin der Wahrheit verpflichtet, verwende aber emotionale Strategien und Spannungsbögen», um diese Wahrheit zugänglicher zu machen.

Die mit dem pinkfarbenen Haarschopf zeichnet sich mitten im Matsch des mittlerweile aufgehobenen Camps. Sie schildert den Schrecken, der sie überfällt, wenn sie Kinder im Alter ihrer eigenen zwei sieht, die keine Perspektive, kein sicheres Dach über dem Kopf haben. Sie reflektiert die Rolle als privilegierte Helferin. Auf einem Comicpanel trägt ein Helfer das gleiche Top wie der Flüchtling vor ihm: Solche Details sind für Evans essenziell. Sie möchte «die Idee überwinden, dass der Flüchtling ‹other› ist, das Andere». Es sei legitim, das Abbild mit extra Bedeutungsbrocken anzureichern. «Die Schöpfung einer Graphic Novel: Das dauert. Daher ist ‹Threads› schon beim Erscheinen ein historisches Dokument und nicht 1-zu-1-Gegenwart. Aber während sich die Situation in Calais geändert hat, verknöchert die Festung Europa mehr und mehr.»

Kate Evans versteckt ihren politischen Impetus also nicht. Zerocalcare, der 1983 geborene, italienisch-französische Künstler, mit bürgerlichem Namen Michele Rech, geht noch weiter und lässt eben diesen Impetus nicht einfach unhinterfragt stehen. In seiner neuen Graphic Novel «Kobane Calling» bietet er «Gesichter, Worte und Kritzeleien» von seinen Trips nach Erbil, Kobane, aufs Klo und in die Kandil-Berge zu den PKK-Kämpfern – und zudem seine privaten Gründe für die lebensgefährlichen Expeditionen: Es sind auch Abgründe. Überhaupt bekommen all die Aporien, in denen wir Westler mit der Komfortzone und mit dem guten Willen zur besseren Welt uns regelmässig verheddern, hier eine fassbare Gestalt. Samt bösen Pointen obendrauf. Zerocalcare ist so etwas wie der Milo Rau des aktuellen Comicschaffens.

Er wills genau wissen, hat sich zu einer Art Journalist mit besonderem Zugang gewandelt wie einst Comicreportage-Pionier Joe Sacco. Doch der eher kühl-zurückhaltende Beobachterposten Saccos hat beim römischen Comicblogger ausgedient. Zerocalcares rund 270-seitiges Buch verpasst dem etablierten Comicgenre Reportage ein meisterhaftes Make-over: mit urbanem Chic, intelligenten Verfremdungen und – man trauts kaum zu sagen angesichts des Sujets – mit Witz. «Kobane Calling» stellt alle anderen in den Schatten, ist Stateof-the-Art in der Comicrepo und eine grossartige Reiseschilderung.

Expedition 1 findet 2014 statt: Acht Leute aus autonomen Zentren Roms sind unterwegs in ein türkisches Dorf an der syrischen Grenze in der Nähe von Kobane, um Medikamente hinzubringen und eine Medienkampagne aufzubauen. Aber «nein, nicht einmal diese konkreten Gründe verschaffen mir wirkliche Klarheit darüber, warum ich diese Reise mache», stellt der Typ mit den dicken, schwarzen Augenbrauenriegeln fest: Bereits seit vielen Publikationen diskutiert er, oft hitzig, mit seinem imaginären Freund, dem Gürteltier Armadillo. Selbstironisch lässt Zerocalcare Jugenderinnerungen Revue passieren, alte Kränkungen, neue Narzissmen. Zwischenrein schiebt er ein bisschen selbst gebastelte Infografik («wenn ihr schon alles wisst, könnt ihr das skippen wie die Werbung vor den Youtube-Videos»).

Wieso tut er sich das an, fragt er sich, als er nachts auf einem Hausdach steht, wo es «Ratatata» macht und «Tum.Tum» und sein Herz panisch schlägt. «Ratatata ist der IS», weiss ein Veteran. «Hörst du Tum.Tum.Tum, sind wir es.» Ausserdem gibts noch MG-Feuer plus «Boom»: die Amerikaner. Ohne MG-Feuer: der IS.

Auf der zweiten Tour, nach Syrien im Sommer 2015, in die de facto autonome Region Rojava, will Zerocalcare herausfinden, ob das dortige Experiment der direkten Demokratie tatsächlich funktioniert: Sind die Frauen da wirklich gleichberechtigt? Wird ethnische, kulturelle, religiöse und sexuelle Freiheit tatsächlich gewährt? Und, nicht zuletzt, stimmt die Behauptung, die ihm eine Zeitung frech in den Mund gelegt hat: «Wenn kein Krieg wäre, würde ich da hinziehen, ohne gross zu zögern»?

Aber eine Comicreportage à la Zerocalcare beschränkt sich niemals auf Recherche und Report. Die Zeichnungen wimmeln nur so von Bezügen zu popkulturellen Comicuniversen, zitieren auch gern «Barbapapa» und «Peppa Pig» und Lyrics der Band Atarassia Grop. Auf diese Weise klopft der Künstler sie – und sich – immer wieder auf Herz und Neigung ab. Objektive Abbildung geht gar nicht! Es spaziert das Mammut, das man in seinem römischen Lieblingsviertel Rebibbia ausgrub, in schöner Regelmässigkeit durch die Seiten und quält ihn mit mammutschwer drückenden Fragen. Und zu den Dialogen bekennt er: Er habe Kürzungen vorgenommen, «die die Wirklichkeitstreue verändern, da bin ich ganz ehrlich». Dann zeichnet er auf ein paar wirren Panels eine ehrliche Langversion – zum Sichhinschmeissen vor Lachen – und fragt: «Nun, würdest du so einen Comic lesen wollen? Ich nicht. Man versteht einen Scheiss.»

Manchmal muss Zerocalcare die Menschen auch um ihrer Sicherheit willen unkenntlich machen: weil sie zum Beispiel mit der PKK sympathisieren. So erfahren wir von einem überdimensionalen Ziegenkäse und einer Olive – «glorreiche Symbole der kurdischen Identität und davon, dass sie nicht wissen, was ein gutes Frühstück ist» –, wie man zu den Guerilleros kommt. Der Zeichner trifft in den Bergen auf einen der PKK-Gründer. Hier der Terrorist, der seit 40 Jahren im Kriegszustand lebt, gejagt von der Türkei, kämpfend gegen den IS. Da der Künstler, dessen Hauptprobleme Redaktions-Deadlines sind, die überbordende Fruchtbarkeit seiner Freunde, der Look seiner Wohnung und der Seelenzustand seiner allzeit besorgten Mamma (als Glucke dargestellt). Hier Kobane, ein «Freiluftmuseum der Schande der Menschen; dessen, was man geschehen liess». Da das gemütliche Rebibbia.

Gewissensfragen, Lebenslehren

Und was ist mit den zahllosen zivilen Opfern auf allen Seiten? «Es erscheint mir ein wenig zu einfach, wenn du jemandem, nachdem du ihn umgebracht hast, weil er dir dazwischengelaufen ist, sagst, ‹Entschuldige, das wollten wir nicht›», merkt einer von Zerocalcares mentalen Sparringpartnern an. Und Zerocalcare räumt ein, er habe darauf keine gute Antwort. Noch während er das Buch zeichnet – wie erwähnt, ein sehr langwieriger Prozess –, sterben zwei seiner Interviewpartner im Kampf. «Ich habe keine Zauberformeln», gesteht der Zeichner. Immerhin schenkte ihm das reformierte Rojava «einen Hoffnungsschimmer für die Menschheit». Er behauptet nicht, dass dieser demokratische Konföderalismus in Rebibbia funktionieren könne, erklärt er dem Mammut. Doch die Terrortoten zu instrumentalisieren, um ständig mehr Räume zu schliessen, sei eine Schweinerei: Darum klettert auf dem Bild zu dieser Debatte das Schwein einer Anime-Serie auf eine rettende Palme. «Glaub nicht, dass du jemandem das Leben lehren könntest. Du sprichst mit einem haarigen Elefanten, der vor 200 000 Jahren gestorben ist», kontert das Urtier.

Die Weltveränderung ist eine mühsame Arbeit, die am Ende «bei mir selbst beginnt»: Zerocalcare ist auf sich zurückgeworfen und auf die Erkenntnis, dass es keine Abkürzungen gibt, «keine Cheats wie bei ‹Doom›, um die Level zu überspringen.» Aber er bleibt unterwegs. Und nimmt uns derart geschmeidig mit auf seinen harten, hochironischen und blutig ernsten Trip – hinein in das Dilemma, das Durcheinander und die Konflikte –, dass wir uns von widerborstigen Stachelschweinen in handzahme Meersäuli verwandeln.