Medienethik: Der Taumelflug der totalen Vielfalt

von , 2.11.09

In den letzten Jahren ließen Unternehmensberater nur ein Mantra gelten: Reduktion auf das Kerngeschäft. Dieses Motto musste jeder beten, der als professionell gelten wollte. Nun galt plötzlich auf den Münchner Medientagen das Motto „Diversify or Die? Die Transformation der Medien“. Eine wunderbare Provokation: hier meine grundsätzlichen Erfahrungen, Thesen, Reflexionen zu dem Thema.

Es war einmal… So beginnen Geschichten von Medienunternehmen, die sich einst auf ein Kerngeschäft konzentrierten, das sie traditionell betrieben und für das sie sich kompetent und zuständig hielten. Damals gab es nur wenige Verteilungswege. Die Herstellung der Produkte war teuer und setzte einen großen Apparat voraus. Man grenzte sich von den Konkurrenten ab und versuchte, seinen Marktanteil zu erweitern. Man hatte seine Klientel, seine „Gemeinde“. Abonnenten und Inserenten, Hörer und Seher boten eine verlässliche Basis. Man war überzeugt, in alle Zukunft würde es so weitergehen.

Ging es aber nicht. Technische Innovationen vervielfältigten und beschleunigten die Verteilungswege. Die dazu nötigen Geräte wurden billiger, flexibler und ständig besser. Kleine Produktionseinheiten mit schlanker Organisation, großer Effizienz und ohne lähmende Selbstzweifel verbilligten die Herstellung der Produkte. Heute reagieren Medien überall und fast gleichzeitig mit den Ereignissen. Die medialen Supermächte, die eben noch glaubten, die Welt gehöre ihnen, sahen sich plötzlich von kleinen und flinken Konkurrenten geplagt. Wir haben gelernt, was asymmetrische Kriege sind. Man kann ebenso gut vom asymmetrischen Kampf um die Claims und Ressourcen der Medienlandschaft sprechen.

Die frühere Formel „Mehr Anbieter = mehr Konsum“ funktioniert auch nicht mehr. In den 1990er Jahren wuchs das tägliche Zeitbudget der Mediennutzer noch durch die explosive Ausweitung der sogenannten Neuen Medien. Inzwischen stagniert dieses Wachstum und wird sich durch zusätzliche Informations- und Unterhaltungsangebote in der Summe nicht mehr wesentlich vergrößern. Es könnte durch Übersättigung und Überdruss sogar wieder schrumpfen. Die Lebenszeit des Einzelnen ist das nicht beliebig verlängerbare Gut. Der DVD-Recorder daheim hat auch den Sinn, die aufgezeichneten Filme dann nicht mehr sehen zu müssen. Das bedeutet:

Ein begrenztes Areal, um das eine wachsende Anzahl von Anbietern konkurriert und das man nicht durch Verdrängung besetzen kann, wird immer kleinteiliger parzelliert. Wer in diesem unübersichtlichen Markt als Anbieter nur auf eine Karte setzt, kann vielleicht ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln und in seiner Nische überleben, er kann das Spiel aber auch sehr schnell verlieren. Großbetriebe dürfen dieses Risiko der „einen Karte“ nicht eingehen. Sie müssen sich verändern. Sie werden zum medialen „Shopping-Center“. Sie bieten ein Dach und geeignete Facilities, um Vielfalt zu erzeugen, diese vorzuhalten und hohe Standards zu sichern. Die Parole heißt: diversifizieren oder untergehen.

An erster Stelle steht heute der „Content“. Dann erst fragt man sich, in welchem Medium und auf welchen Kanälen man sich seiner bedient.
Die großen Corporations etwa der Filmwirtschaft Hollywoods sind heute nur noch Teil diversifizierter Konglomerate aus Sendern, Kabel- oder Satellit-Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlagen bis hin zu eigenen Ladenketten, in denen die Fernsehlieblinge als Plüschtier, T-Shirt oder CD / DVD verkauft werden. Diese Konzerne verteilen ihre Produkte durch ungezählte Kanäle. Der Kinofilm, der früher nur die Lichtspieltempel mit großer Reklameleinwand, Lauflicht und rotem Samtvorhang bespielte, tummelt sich heute viel häufiger im Heimkino mit Groß-Bildschirm oder Beamer, Video-on-Demand im Computer oder in iPod oder Handy. Das noch junge E-Book wird das alte Buchmedium radikal verändern. Man wird seine gesamte Bibliothek vom Großen Brockhaus bis zum neuesten Mankell-Krimi, von der Morgenzeitung bis zur Fachzeitschrift an der Bushaltestelle bei sich haben.

Die Diversifizierung von Geschäftsmodell und Angebot eines Medienunternehmens beansprucht in der Startphase beträchtliche Ressourcen, und es braucht seine Zeit bis das nun komplexere Gebilde rundläuft und seine Vorzüge erweist. Andererseits gibt es mögliche Synergieeffekte durch die partielle Vernetzung mit schon bestehenden Geschäftseinheiten. Gewinnbringende Massenprodukte können defizitäre, aber wichtige und imagefördernde „Sonderanfertigungen“ stützen und ermöglichen. Auch der Kampf der Systeme schadet allen Beteiligten. Der öffentlich-rechtliche Sektor hat inzwischen auch gelernt, dass man sich mit „splendid isolation“ nur die eigenen Hände bindet.

Im Zuge der Globalisierung werden sich große Medienunternehmen bemühen, auch im Ausland für ihre Produkte neue Absatzmärkte zu erobern. Das kann nur durch Diversifizierung gelingen. Inhalt, Form und Dramaturgie der Medien müssen sich den kulturellen Eigenheiten der Länder anpassen, wenn sie Erfolg haben wollen. Es gibt die Geschichte von dem portugiesischen Missionar, der in Indien die christliche Botschaft verbreiten wollte. Als ihm niemand zuhörte, lernte er indischen Kathakali-Tanz, gründete eine eigene Tanzgruppe und erzählte die biblischen Geschichten in dieser traditionellen Form. Bald konnte er damit ganze Stadien füllen. Investitionen im Ausland haben oft eine sehr durstige Anlaufstrecke, können sich dann aber auch bei wachsender Erfahrung und Kostenkontrolle rasch amortisieren.

Seit der Jahrtausendwende durchläuft der Medienmarkt eine Phase ökonomischer und technologischer Ungewissheit. Die Firmen begreifen, dass sie sich nicht mehr blind auf die Werbewirtschaft verlassen können und neue Umsatzmöglichkeiten in zukunftssicheren Mediensystemen suchen müssen. Es liegt auf der Hand, dass sich der Trend zu immer größeren Konglomeraten fortsetzen wird und im internationalen Wettbewerb die flexiblen, dynamischen und multifocal aufgestellten Mitspieler zu den Gewinnern gehören.

Ein neues Zeitalter hat mit dem Internet begonnen. Es bedeutet einen zivilisatorischen Paradigmenwechsel, vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Die permanente Verfügbarkeit, die Unfähigkeit zu vergessen, die Auflösung nahezu aller klassischen Privatheit, die Omnipräsenz der gesamten Skala von Geist und Ungeist, von Geschmack und Geschmacklosigkeit, von nützlicher Entfaltung und krimineller Bedrohung, die Zusammenführung aller Medien zu einem Null-Medium, das sich zeit- und raumgleich mit der Wirklichkeit verhält, das alles sind Faktoren, die das individuelle und kollektive Verhalten auf lange Sicht tiefgreifend verändern werden.

Wir stehen noch am Anfang, aber schon bläst uns ein Sturm um die Ohren, der alles Gestrige alt erscheinen lässt. Dieses neue Gesamtmedium ist nicht nur Transportmittel und Abbild der vorhandenen Realität, es schafft sich seine eigene. Es bedient nicht nur das vorhandene Publikum, sondern bildet sich sein eigenes. In diesem neuen Rahmen sind mediale Monokulturen nicht mehr vorstellbar. Der einzelne Anbieter mag sich noch spezialisieren. Millionen Anbieter in einem einzigen Medium sind jedoch die totale Diversifizierung, mit nicht nur positiven Folgen für den einzelnen Nutzer.

Ob diese Entwicklung unter dem Strich gut oder schlecht ist, kann vorerst niemand entscheiden. Sie kann das grenzenlose Selbstgespräch der Menschheitsfamilie fördern und in eine globale Bürgergesellschaft münden: die erste Utopie, die plötzlich nicht mehr an technischen Hindernissen scheitern muss. Sie kann aber auch das Horrorbild einer zerfallenen Massengesellschaft erzeugen, in der ein paar zynische Drahtzieher die „Heringsschwärme“ hin- und hertreiben. Noch ist nicht entschieden, ob die Gesellschaft der Zukunft (ich meine einer lebenswerten Zukunft) eine Wertegemeinschaft oder eine Ver-werte-Gemeinschaft ist.

Jeder hat nun die technische Möglichkeit, sich sein persönliches Medienmüsli zusammenzustellen und dann alles auszublenden, was diesem Profil nicht entspricht. Das bedeutet kulturelle Verarmung („Selbstverwirklichung ist das Lebensziel von Idioten.“ Bazon Brock). Sie verhindert eine der wichtigsten Entwicklungschancen des Individuums, nämlich zu finden, was man gar nicht gesucht hat. Nur durch Widerstand und Reibung kann man sich bilden und seinen Horizont erweitern. Nur affektive Unruhe wie Neugier, Staunen und Empörung kann die Lebensgeister wecken, das Langzeitgedächtnis erreichen und die Urteilsfähigkeit trainieren. Das Schlaraffenland ist der Traum humanoider Krüppel. Es erstickt den Appetit.

Die technische Konvergenz der Medien (ein Gerät für alle und alles) beraubt uns des „haptischen“ Methodenwechsels, ein Prozess, der mit der Erfindung der Fernbedienung begonnen hat. Das Lesen der raschelnden Zeitung am Frühstückstisch oder bei Windstärke 6 auf der Parkbank unterscheidet sich „körperlich“ vom Lesen der gleichen Meldungen auf der Couch vor dem Fernseher oder auf dem Computerbildschirm. Methodenvielfalt beansprucht (und trainiert) ganz verschiedene Sinneskanäle. Wenn alles nur noch über den Bildschirm kommt, atrophieren andere Wahrnehmungsfertigkeiten. Es verschwindet quasi das „räumliche Sehen“, also das leicht verzögerte und im Blickwinkel verschobene Eintreffen der Signale und behindert so ein facettenreiches und zutreffendes Bild der Realität.

„Wer nach allen Seiten offen ist, ist nicht ganz dicht“, sagt der Volksmund, und so ist die vollzogene Diversifizität der individuellen Lebensgestaltung durch Medienkonsum möglicherweise nicht das Ziel einer sinnvollen Entwicklung, sondern eher ein Krankheitsbild. Ein Mensch, der sich in seinem eigenen Verhalten dem Zustand der totalen Vielfalt nähert, ist nicht nur im Taumelflug seiner rasch wechselnden Interessen (Faust: „So taum’l ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde.“), er leidet unter sozialpsychischer Demenz. Da er sie nicht mehr erwerben muss, besitzt er am Ende keinerlei Kriterien oder Kategorien, um noch selbstbestimmte Urteile und Entscheidungen zu treffen.

Auch das schöne neue Medienzeitalter bedarf also einer Medienethik. Auf dass der Nutzen den möglichen Schaden überwiege: Aufklärung, Emanzipation, demokratische Kontrolle der Macht, Kompetenz und Mitwirkung.Jeder wirkliche Fortschritt der menschlichen Zivilisation war ein Akt der Diversifizierung. So z. B. die Erfindung der Gewaltenteilung durch die Alten Griechen. Erst die Zerlegung der Macht in diverse Kräfte, die einander benötigten, aber zugleich auch kontrollierten, machte aus einer dauernden Gefahr (Diktatur und Bürgerkrieg) ein intelligentes und gedeihliches Spiel. Auch die Demokratie diversifiziert die Macht- und Interessenblöcke zum Wohle der Bürger.

Und ist nicht die gegenwärtige Finanzkatastrophe auch das Ergebnis mangelnder Diversifizierung, z. B. durch das Vermengen von Geschäfts- und Investitionsbanken? Ein lebendiger Markt ist gelebte Diversifizierung. Interessanterweise ist er besonders den Wirtschaftsvertretern zuwider, die ihn in jeder Talkshow vehement fordern. Sonst würden sie nicht ständig versuchen, durch Preisabsprachen und Fusionen die Diversifizierung des Marktes und seiner Kräfte auszuhebeln.

Diversifizierung bedeutet nicht nur den Umbau des Geschäftsmodells und der Organisationsstrukturen. In den USA bedeutet Diversifizieren z. B. auch, in den Massenmedien die ethnische Vielfalt des Landes zu spiegeln. Während die Weißen in vielen Staaten inzwischen in der Minderheit sind, dominieren sie noch immer die allermeisten Schlüsselstellen in den großen Networks. Die Gruppe der Amerikaner ohne europäische Abstammung wird immer größer, und nachdem nun erwiesen ist, dass man diese Eigenschaft gar nicht mehr braucht, um Präsident zu werden, könnten farbige Journalisten mit ihren Sozialerfahrungen das Selbstbildnis Amerikas in den Medien wohltuend erweitern. Kleine Kinder greifen hinter den Spiegel, wenn sie sich darin sehen. Wir sollten nie verlernen, hinter die Spiegel zu greifen.

Auch eine egozentrierte Wahrnehmung der übrigen Welt ist im globalen Zeitalter kontraproduktiv. Sie war es im Grunde schon immer, wie wir aus der eurozentrierten Katastrophe des Kolonialismus wissen. Wenn z. B. heute noch amerikanische GIs von der Existenz mancher Länder erst im Augenblick ihres Marschbefehls zu Militäreinsätzen erfahren, ist ihr nachhaltiger Erfolg schon aus diesem Grunde fraglich. Noch dramatischer wirkt sich die mediale „Monokultur“ in Konfliktherden aus wie Palästina / Israel, Indien / Pakistan oder – fast flächendeckend – in Afrika. Hier ist die Diversifizierung des Tunnelblicks auf den propagierten Gegner die elementare Voraussetzung für jede Art von Fortschritt, und es ist klar, dass die Medien dabei eine Schlüsselrolle haben.

Wer sich Diversifizierung auf die Fahne schreibt, und damit nicht nur den vordergründigen Wandel einer Organisationsstruktur meinen will, kann seine Haltung sogar philosophisch begründen. Seit Beginn der Neuzeit dämmert uns: Wer nichts weiß, muss hinsehen. Wir und unsere Welt sind aus Stücken zusammengesetzt, von denen jedes jederzeit sein eigenes Spiel treibt. Daraus ergibt sich ein produktiver „Wille zur Ohnmacht“ (Michel de Montaigne), eine weitgespannte und sensible Offenheit für das Fremde und Unvorhersehbare. Wie ein guter Prediger hat sie gelernt, mit den Problemen nicht fertig zu werden. Sie versucht, die Signale der Wirklichkeit zu entziffern, und drückt ihr nicht ihre Herrschaft auf. Das gelingt aber nur durch einen sozialen „Scanner“ mit hoher Auflösung, und genau das sind diversifizierte Medien.

promedia_coverDiesen Text hat Bodo Hombach ursprünglich für einen Auftritt auf den Münchner Medientagen verfasst, den er kurzfristig absagen musste. Das medienpolitische Magazin Promedia hat den Text nun veröffentlicht. Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung von Autor und Magazin als Carta-Gastbeitrag. Ein kostenfreies Probeabonnement von Promedia kann man hier bestellen.

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