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Chirurgie Sturz in die Kiste

Chirurgen diskutieren über ein weithin als Tabu geltendes Thema: bizarre Fundsachen in Darm, Harnröhre und Vagina.
aus DER SPIEGEL 41/1991

Der Patient war wegen Verdachts auf Herzmuskelentzündung ins Ost-Berliner Krankenhaus im Friedrichshain eingeliefert worden. Wenige Tage nach seiner Aufnahme klagte der leicht erregbare, 23jährige Mann, der mit den anderen Patienten auf der Station oft im Streit lag, über Schmerzen im Unterleib.

Der Röntgenbefund zeigte eine Rundfunkröhre im Rektosigmoid, dem S-förmigen Übergang des Mastdarms in den Grimmdarm. Der zuständige Chirurg, Waldemar Fabian, entfernte das Corpus alienum durch operative Öffnung des Unterbauchs und berichtete darüber im Zentralblatt für Chirurgie unter der Überschrift: »Der interessante Fall - Zur Kenntnis der Rektumfremdkörper«.

Ein Jahr später, 1983, entfloh Mediziner Fabian in den Westen, wo er sein »durch die Angelegenheit mit der Röhre entfachtes Interesse an solcherlei Fundsachen« weiter verfolgte. Jetzt hat der Chirurg, mittlerweile Chefarzt am St. Katharinen-Krankenhaus in Frankfurt, das Thema in einem in der Zeitschrift für Gastroenterologie veröffentlichten Übersichtsartikel umfassend erörtert.

»Eine wahre Parade von unästhetischen Entdeckungen aus der Enddarm-Literatur«, kommentierte mit leisem Naserümpfen die Medizinerzeitung Medical Tribune den in der deutschen Ärzteschaft viel diskutierten, teilweise auch umstrittenen Beitrag.

Denn was Fabian seinen Kollegen zu berichten hat, steht hierzulande noch vielfach unter Schamvorbehalt. Dabei habe, so die Ärztliche Praxis, »dieses meist verdrängte Thema« aufgrund der diffusen Fremdkörpersymptomatik, »eine große klinische Bedeutung«.

»Am gebräuchlichsten unter den eingebrachten Objekten«, konstatiert Fabian, sind Gläser, Glühbirnen, Flaschen, Tassen, Gurken, Äpfel, Zwiebeln, Dosen und Zahnbürsten; aber auch die »kuriosesten perforationsgeeigneten Gegenstände« haben Chirurgen schon im Intestinum rectum vorgefunden - etwa einen »Regenschirm mit Hülle«, einen »gefrorenen Schweineschwanz« oder eine »Werkzeugtasche komplett mit Werkzeug«.

Allein die Chirurgen des Hamburger Universitätsklinikums entfernten in den letzten Jahren folgende Inkorporabilien: zwei Sektflaschen, eine Colaflasche, drei Massagestäbe, eine Bocciakugel, drei Spraydosen, ein Staubsaugeransatzteil, zwei Hartgummistäbe, einen Tischtennisball, eine Kerze; des weiteren einen Spatenstiel (19 Zentimeter), ein Stuhlbein (27 Zentimeter) und die zusammengerollte Ausgabe einer Wochenendzeitung (Bild am Sonntag).

»In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle«, analysiert Fabian, »werden Rektumfremdkörper von Männern eingeführt, meist in selbstbefriedigender oder homoerotischer Absicht.« Einer amerikanischen Studie zufolge stellen Frauen weniger als vier Prozent der Patienten, die mit analen Inkorporationen in die Klinik kommen.

Frauen bevorzugen, wie das amerikanische Chirurgenfachblatt Surgery feststellt, »bei Einführungen von Fremdkörpern die vaginale Route«. Sicherheitsnadeln, Schreibstifte und Parfümfläschchen sind die häufigsten Gegenstände, die Chirurgen aus Vagina und Gebärmutter extrahieren; bisweilen aber auch Brillenbügel, Schraubenzieher und (in einem Fall aus Niedersachsen) das Kopfteil eines Aals.

Während die Entfernung »inkarzerierter Objekte« aus der Vagina meist keine größeren Schwierigkeiten aufwirft, ist die »Vielfalt der im Rektum aufgefundenen Gegenstände immer wieder ein Test für den Einfallsreichtum des Chirurgen«, resümiert die US-Fachzeitschrift Diseases of the Colon & Rectum.

Erhebliche Probleme bereitete beispielsweise die Extraktion des Baseballs, den sich ein 49jähriger Fan der Oakland Athletics einverleibt hatte, »aus Freude über den Titelsieg der Mannschaft«, wie er angab. Anfangs versuchten die Chirurgen des Letterman Army Medical Center in San Francisco, den »displazierten Gegenstand« mittels einer Geburtszange, dann mit einem Haken durch den künstlich geweiteten ("dilatierten") Schließmuskel zu extrahieren.

Als dies mißlang, öffneten die Ärzte Bauch und Darm des Patienten, schraubten einen überlangen Korkenzieher in den Ball und zogen diesen »von oben aus seinem Habitat im Enddarm«.

Um eine chirurgische Intervention zu umgehen, haben die Operateure in den letzten Jahren zahlreiche, bisweilen geradezu ingeniöse Techniken zur Dislozierung von Rektumfremdkörpern durch den dilatierten Schließmuskel ersonnen.

Flaschen etwa entfernen sie mittels passend zurechtgebogener Schlingen aus Kleiderbügeldraht; Glühbirnen werden mit einem aus Verbandgaze genähten Netz umfangen, dann zertrümmert und herausgezogen; Gläser gießen sie mit Gips aus und stoßen dann einen Löffel in die noch weiche Masse - nach deren Erhärten wird das Corpus relicti mit dem Löffelstiel herausgezogen.

In den meisten Fällen gelingt eine »restitutio ad integrum«, wie die Ärzte die völlige Wiederherstellung des Patienten nennen. Nur bei Wiederholungstätern wird es manchmal schwierig - wie etwa bei dem 54jährigen Mann, dem jeweils einmal eine Gurke und eine Pastinake erfolgreich entfernt worden waren, der dann aber an einer Bauchfellentzündung verstarb, als er nach der letzten Operation gleich wieder zwei Äpfel nachschob.

Größere Schwierigkeiten beim Operieren bereitet den Chirurgen die nahezu ausschließlich bei älteren Männern beobachtete Masturbationspraktik der Fremdkörpereinbringung in die Harnröhre.

»Durch Nachlassen der eigenen Potenz und Desinteresse an der meist ebenfalls älteren Lebensgefährtin wird auf diese Weise nach einem neuen Weg zur sexuellen Befriedigung gesucht«, so Professor Lothar Wagenknecht, Urologe in Hamburg. Im Laufe seiner langjährigen Berufspraxis hat er die unterschiedlichsten Objekte aus der Harnröhre entfernen müssen, darunter Haarnadeln, Pinzetten und »einen kondombezogenen geknoteten Kabeldraht«.

Mit die schlimmsten Verletzungen des Rektums erleben die Chirurgen bei jenen Patienten, die auf der »Suche nach neuen Befriedigungsfeldern« (Medical Tribune) zum Klistier ("Klysma") gegriffen haben.

Häufig steht die Ausübung der (unter ihren Anhängern als »water sports« bezeichneten) Klysmaphilie in Verbindung mit sadomasochistischen Praktiken - etwa »exzessiver Klysmadruck durch Anschluß an den Wasserhahn« und »Zugabe von Detergenzien oder Alkoholika« in die Klysmaflüssigkeit. Dabei kommt es, so der Münchner Dermatologe Professor Hermann-Josef Vogt, oftmals »zu Darmentzündungen und Vergiftungen, welche in Schock, Koma oder Krämpfen tödlich enden können«.

Zahlreich und phantasievoll sind die Geschichten, mit denen die schamgeplagten Patienten eine Analverletzung oder die Gegenwart eines Fremdkörpers in ihrem Rektum zu erklären versuchen.

So erzählte einer von Fabians Patienten, er sei beim Aufräumen seines Kellers auf eine Leiter gestiegen und von dieser in eine Kiste mit Fliesen gefallen; dabei müsse er wohl, so der 49jährige Mann, »mit dem After voraus« auf jenen Schaschlikspieß gefallen sein, dessen gebogenes Oberteil bis in seine Leistengegend vorgedrungen war. Ein anderer erklärte die Gegenwart eines abgebrochenen Besenstiels in seinem Enddarm mit der Anweisung seines Hausarztes, sich die Prostata zu massieren.

In einer Münchner Klinik behauptete ein Patient, der wegen eines inkarzerierten Vibrators behandelt werden mußte, er habe das angeschaltete Gerät eingeführt, um seinen Stuhlgang zu stimulieren - anderthalb Tage, bis die Batterie leer war, hatte der 32jährige Mann gelitten. »Aus lauter Scham hatte er sich«, so der behandelnde Chirurg, »mit dem in seinem Leib surrenden Apparat nicht ins Krankenhaus getraut.«

Immerhin nachvollziehbar, wenn auch nicht weniger bizarr war der Beweggrund des jähzornigen Patienten mit der Radioröhre: Er hatte sie aus dem stationseigenen TV-Gerät ausgebaut, weil er sich durch das dauernde Fernsehen seiner Mitpatienten gestört fühlte.

Als der Verdacht auf ihn fiel, eilte er auf die Toilette und ließ den inkriminierten Gegenstand in sich verschwinden. »Damit blieb zwar endlich der Fernseher ausgeschaltet«, kommentiert Fabian, »aber seine Ruhe hatte der Mann dann ja auch wieder nicht.«

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