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Kritik am Neoliberalismus: Den neuen Feind erkennen

Foto: A3390 Kay Nietfeld/ dpa

Neoliberalismus-Kritiker Hardt "Wir müssen verstehen, wer der Feind ist"

Unsere derzeitige Politik- und Wirtschaftsform ist die einzig mögliche? Der Globalisierungskritiker Michael Hardt widerspricht vehement. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview erklärt er, warum der Neoliberalismus ein Zombie ist - und welche politische Kraft in der Liebe liegt.

SPIEGEL ONLINE: Herr Hardt, folgt man Ihrem neuen Buch "Common Wealth", bestimmen Elend und Ausbeutung unsere globale Welt. Sind Sie ein trauriger Kämpfer?

Hardt: Traurig? Nein! Und das hängt ganz entscheidend mit der Art, wie man Politik macht, zusammen.

SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?

Hardt: Noch in den achtziger Jahren war linke Politik geprägt von einem traurigen Moralismus, der mehr mit Schuld und Beschränkungen zu tun hatte als mit Freude. Seit Ende der Neunziger haben die sozialen Bewegungen einen anderen Modus gefunden. In Nordamerika und Europa jedenfalls begannen Jüngere, aktiv zu werden, sie hatten eine andere, affektive Beziehung zu Politik und bewiesen, dass Politik sehr freudvoll sein kann. Politik beinhaltete nun Elemente des Karnevals und des Hedonismus.

SPIEGEL ONLINE: Ihr Buch "Empire" erschien im Jahr 2000 und wurde zur Bibel der globalisierungskritischen Bewegung. In "Multitude" vertraten sie vier Jahre später die These, der Kapitalismus trage die Möglichkeit seiner Überwindung bereits in sich. Gegenwärtig scheint die Bewegung aber trotz der katastrophalen Finanzkrise eher zu zum Stillstand zu kommen.

Hardt: Bewegungen verlaufen in Zyklen. Die Tatsache, dass wir derzeit wenig Aktivität sehen, ist für mich kein Grund der Enttäuschung. Wir befinden uns in einer Periode der Neuerfindung. Die kreativsten Perioden sind häufig jene, in denen wir nicht die großen Aktionen sehen. Und dann werden wir plötzlich überrascht von dem spektakulären Auftauchen von etwas Neuem. So wie 1999 in Seattle.

SPIEGEL ONLINE: "Empire" behauptete den Übergang zu einer neuen Weltordnung, den Bedeutungsverlust der Nationalstaaten und das Scheitern des Unilateralismus. 2001 folgten jedoch die Kriege im Irak und in Afghanistan. Sie bestätigten die USA in ihrer alten unilateralen Rolle.

Hardt: Es ist nicht überraschend, dass Bush und seine Leute glaubten, sie könnten die Welt unilateral regieren und dass sie den US-Imperialismus für das adäquate Konzept hielten. Beschämender hingegen war, dass viele auf der linken Seite das ebenso glaubten. 2003/2004 gab es eine ganze Schwemme von Büchern, die fast erleichtert zu den alten Welterklärungsmustern zurückkehrten. Mit ihnen schien das Phänomen Globalisierung nicht mehr so kompliziert, alles sollte mit dem alten US-Imperialismus erklärt werden. Heute, mit dem Scheitern der USA im Irak und dem Scheitern der unilateralen Politik ist jedem klar, dass neue Konzepte, wie das von "Empire", notwendig sind, um das Entstehen einer neuen globalen Ordnung zu verstehen.

SPIEGEL ONLINE: Was kennzeichnet die neue Weltordnung?

Hardt: Sie resultiert aus der Zusammenarbeit ungleicher Kräfte, bestehend aus den dominierenden Nationalstaaten, den marktbeherrschenden Unternehmen, supranationalen Institutionen wie dem IWF und der Weltbank. Globale Entscheidungen können nur in diesem neuen und dezentralisierten Netzwerk gefällt werden. George W. Bush hat mit seiner Politik klargestellt, dass der US-Unilateralismus ein für alle Mal tot ist.

SPIEGEL ONLINE: Mit der Finanzkrise wurde gerade Wirtschaftspolitik aber wieder zunehmend zur nationalen Angelegenheit.

Hardt: Wir behaupten nicht, dass Nationalstaaten keine Rolle mehr spielen. Sie sind weiterhin wichtige, aber nicht exklusive Akteure. Sie können weder ökonomische noch politische Entscheidungen völlig autonom treffen. Nehmen Sie den Kopenhagener Klimagipfel im vergangenen Dezember. Die USA hatten nicht die Macht, Entscheidungen zu treffen. Ebenso wenig China. Nicht einmal gemeinsam konnten die Nationalstaaten zu einem Ergebnis kommen. Sie müssen einen Weg der Zusammenarbeit mit den großen Unternehmen, den NGOs und den supranationalen Institutionen finden. Die einzige Möglichkeit, wie die neue Machtstruktur funktionieren kann, ist durch das Netzwerk ungleicher Kräfte.

SPIEGEL ONLINE: In "Common Wealth" behaupten Sie das Ende des Neoliberalismus und fordern Alternativen dazu, Eigentum ausschließlich öffentlich oder privat zu denken. Tatsächlich beobachten wir jedoch gerade, wie das Finanzkapital sich gegen Regulierungen wehrt und die Privatisierung von Ressourcen und Gütern weiter voranschreitet.

Hardt: Wenn wir vom Ende des Neoliberalismus sprechen, meinen wir das so wie vor zehn Jahren, als wir vom Tod des US-Unilateralismus sprachen. Der Neoliberalismus ist einem Zombie vergleichbar. Zombies laufen umher und erzeugen entsetzliche Verwüstungen, aber in ihnen ist kein Leben mehr. Das ist ein wiederkehrendes Bild in Horrorfilmen. In der letzten Szene streckt der Zombie seine Hand aus dem Grab und packt dich ein letztes Mal. Der Neoliberalismus ist in dem Sinne tot, dass in seinen Ideen kein Leben mehr ist. Aber er wird noch eine Weile umhergehen und Zerstörung anrichten.

SPIEGEL ONLINE: Dann spielt es aber letztlich keine Rolle, wie tot oder lebendig er ist.

Hardt: Doch, wir müssen beginnen, darüber hinauszudenken. Wir müssen über die Möglichkeiten, eine andere ökonomische Ordnung zu organisieren, nachdenken wie auch über die Formen von Herrschaft, die nachfolgen werden. Das war das gleiche mit dem US-Unilateralismus und dem Imperialismus. Sie waren nicht länger die adäquaten Feinde, aber es gab einen neuen. Wir müssen verstehen, was der neue, im Entstehen begriffene Feind sein wird. Das muss die Konsequenz aus der Todesdiagnose sein.

SPIEGEL ONLINE: Sie gestehen selbst ein, dass Menschen ebenso um ihre Knechtschaft kämpfen, als wäre es ihr Heil. Politisches Handeln muss nicht zwangsläufig emanzipativ sein.

Hardt: Nein, nicht jede Revolte zielt auf Befreiung. Man muss lernen, für die Freiheit zu kämpfen. Das ist nichts Unwillkürliches.

SPIEGEL ONLINE: Dennoch sind Sie sehr optimistisch. In "Common Wealth" setzen Sie auf unsere Fähigkeit der Selbstregierung. Wie sähe die aus? Und welche Art des Widerstands müsste ihr vorangehen?

Hardt: Den meisten Menschen scheinen die ökonomischen oder militärischen Machtstrukturen, mit denen sie konfrontiert sind, unbezähmbar. Sie erzeugen Ohnmacht. Wir aber bestehen auf der Möglichkeit zur Veränderung. Deshalb konzentrierten wir uns auf die Potentiale. Eine bessere Welt wird sich nicht zwangsläufig ergeben, aber es ist wichtig aufzuzeigen, dass wir dafür kämpfen können. Der Philosoph Slavoj Zizek erklärte, ganz offensichtlich sei es heutzutage einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, weil wir all diese Filme über das Ende der Welt sehen. Das ist eine interessante Beobachtung. Hollywood ist eine Art Spiegelbild bestimmter hegemonialer und ideologischer Strukturen, die es uns erschweren, eine neue, andere soziale Ordnung zu entwerfen.

SPIEGEL ONLINE: Sie plädieren für ein neues ethisch-politisches Projekt, in dem sie den Begriff Liebe in ein politisches Konzept übersetzen. Sollte man die Liebe nicht eher den Dichtern überlassen?

Hardt: Den Dichtern, den Psychoanalytikern und den Priestern, ja. Wir müssen vorsichtig sein. Liebe ist nicht zwangsläufig progressiv oder befreiend. Es gibt viele Fälle von Liebe als politischer Repression. Ich würde sagen, dass auch bestimmte Spielarten fundamentalistischer Politik mehr auf Liebe denn auf Hass basieren. Auf der abscheulichen Liebe des Eigenen und der Konservierung des Eigenen. Wir müssen also unterscheiden: Wir sprechen nicht von der Liebe, die auf dem Eigenen gründet, sondern auf der Liebe des Anderen, des Fremden.

SPIEGEL ONLINE: Könnte man nicht ebenso von Solidarität sprechen?

Hardt: Solidarität bedeutet eine Verbindung zwischen uns, so wie wir sind, herzustellen. In Liebe hingegen verlieren wir uns, verändern wir uns. Das scheint uns wichtig, wenn wir über politische Veränderung nachdenken. Das Konzept von Liebe und die Tradition, in der über Liebe nachgedacht wird, hebt diesen verändernden Charakter hervor.

SPIEGEL ONLINE: Sie meinen die christliche Tradition.

Hardt: Ja, auch die christliche Tradition. Liebe fungierte in der Vergangenheit auch als politisches Konzept, allerdings in einer Art und Weise, die heute aus dem politischen Diskurs ausgeschlossen ist. Politik berührt das Affektive, ist nicht nur rational und ist nicht einmal gänzlich von der Erotik zu trennen.

SPIEGEL ONLINE: Ist der Mensch ein gutes Wesen?

Hardt: Hobbes sagt, der Mensch sei böse. Rousseau meint, er sei gut. Ich glaube, der einzig relevante Aspekt ist, dass der Mensch veränderbar ist. Er ist weder gut noch schlecht. Die menschliche Natur ist Gegenstand der politischen Kämpfe.

Das Interview führte Tania Martini

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