Digitale Exzellenz
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Prozesssimulation: Wie Versicherer sich von ihrer Ineffizienz trennen

, 14. Januar 2019

Lesezeit: 7 Minuten

Prozesssimulation: Wie Versicherer sich von ihrer Ineffizienz trennen

In Zeiten hoher Zinsgewinne konnten sich Versicherer den Luxus ineffizienter Geschäftsprozesse leisten. Diese Phase des Überflusses ist nun vorbei, die Reserven sind aufgezehrt. Jetzt geht es den heterogenen Vorgehensweisen, Arbeitsschritten und Produktwelten an den Kragen. Mithilfe der Prozesssimulation werden Ineffizienzen schonungslos offengelegt. Wir stellen die Disziplin vor.

Das Prinzip lautet: erst simulieren, dann handeln. Dabei werden Abbilder von Prozessen und Grundoperationen in Computerprogrammen erzeugt. So lassen sich bestehende Vorgehensweisen schnell verständlich und anschaulich visualisieren. Darüber hinaus können Unternehmen Einstellungen, Schritte und sonstige Parameter verändern und so Optimierungspotentiale und Effizienzgewinne aufspüren. Die kommen entweder dem Unternehmen in Form niedrigerer Kosten und versteckter Potentiale oder den Kunden in Form von verbesserten Leistungen zu Gute.

Eigentlich ein alter Hut

Prozesssimulationen werden seit den 70er Jahren eingesetzt. In der Versicherungswirtschaft führt das Vorgehen noch ein Nischendasein, weil es lange Zeit nicht nötig war. Allerdings ändert sich das gerade. Der Druck am Kapitalmarkt steigt. Dazu kommen mehr Transparenz durch Vergleichsportale, neue Wettbewerber wie Amazon, digitale Versicherer und Kfz-Hersteller, regulatorische Anforderungen wie IDD, Solvency II und DSGVO sowie preissensiblere Kunden. Zudem gibt es viele neue Instrumente, um Prozesse spürbar effizienter zu gestalten. Dafür sorgt zum Beispiel der Einsatz neuer Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI). Durch diese Entwicklung müssen nun auch Versicherer ihre stark heterogenen Prozessabläufe und Produkte sukzessive vereinheitlichen und noch mehr auf Rentabilität fokussieren.

Vorgehen bei Prozesssimulationen

Ein großer Effizienzhebel bei Versicherern ist die Schadenbearbeitung. Bei vielen etablierten Versicherungen liegt die Schaden-Kosten-Quote im kritischen Bereich bei nahe oder über 100 Prozent – und das, obwohl die Schäden in Summe nicht ausufern. Die veraltete IT, hohe Personalkosten und ineffiziente Verwaltungsvorgänge treiben die Quote in den roten Bereich.
Mithilfe der Prozesssimulation können Versicherer die versteckten Ineffizienzen und Kostentreiber sichtbar machen. Dafür müssen sämtliche Schritte und Schnittstellen im Schaden- und Leistungsprozess erfasst werden, von der Schadenerfassung über die Schadenprüfung und Reservestellung bis zur Schadenregulierung. Insider-Wissen über Schadenprozesse der handelnden Personen hilft hier enorm, um nicht alle Informationen durch Workshops und Gespräche zu erarbeiten zu müssen.


Prozesslandkarte eines Schadens- und Leistungsprozesses

Sobald ein Ist-Prozess in einer sogenannten Ist-Prozesslandkarte erfasst ist, müssen die einzelnen Aktivitäten, z.B. eingereichte Unterlagen prüfen; Gutachter beauftragen, an eine Kennzahlenbibliothek angebunden werden. In dieser Kennzahlenbibliothek wird hinterlegt, wie viele Personen in einzelne Aktivitäten eingebunden sind, wie lange die Ausführung einer Aktivität benötigt, wie hoch der Durchfluss ist und wie hoch die Wartezeit bis zur Bearbeitung ist.

Kennzahlenbibliothek zu einem Schadenshowcase

Nachdem Prozesslandkarte und Kennzahlenbibliothek miteinander verbunden sind, besteht die Möglichkeit, starre und wenig ausdruckstarke Prozesslandkarten mit optisch ansprechenden Simulationen zu verbinden. Neben einer Visualisierung können so auch Prozessführung und Performance Rating gemessen und analysiert werden. Es werden Schwachstellen sichtbar, wo Aktivitäten besonders viel Zeit benötigen und wo Engpässe oder Überflüsse vorliegen.
Zusätzlich zu einer Ist-Prozesslandkarte bietet es sich an, eine Soll-Prozesslandkarte zu entwickeln. Da sich Arbeitsweisen mit der Digitalisierung und dem gestiegenen Wettbewerbsdruck stark verändern, können diese signifikant vom bisherigen Prozess abweichen. Versicherer, die ihr Geschäft besonders stark – oder neudeutsch disruptiv – verändern wollen, werden hier mutiger vorgehen. Im Schaden- und Leistungsprozess besteht z.B. die Möglichkeit, Kleinschäden vollautomatisch zu bearbeiten, manuelle Prozesse in digitale Prozesse umzuwandeln oder Künstliche Intelligenz bei der Schadenaufnahme und Schadenerfassung im System einzusetzen. Mithilfe der Kennzahlenbibliothek besteht nun die Möglichkeit, den Soll-Prozess im realen Umfeld zu simulieren und etwaige Verbesserungen und Einsparungen aufzudecken. Auswirkungen von Änderungsmaßnahmen wird somit bereits in der Simulation sichtbar. Damit steigt die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Change Management.

Anforderungen an Prozesssimulationen

Dass Prozesssimulationen zum gewünschten Ergebnis führen, ist an einige Voraussetzungen geknüpft:

  1. Ganz wichtig ist Transparenz. Sämtliche Informationen zu einem Prozess, inklusive aller Schnittstellen, müssen bekannt sein. Die mit der Aufgabe betrauten Personen benötigen hierfür gute kommunikative Eigenschaften. Sie müssen gut moderieren können, damit die für den Prozess zuständigen Mitarbeiter sich öffnen und auch Informationen teilen, die sie durch die Routine für selbstverständlich halten.
  2. Darüber hinaus braucht es Menschen vom Fach – egal ob intern oder extern. Sie müssen einen Antrags- oder Schadenprozess so verinnerlicht haben, dass sie ihn in ein Simulations-Tool übersetzen können. Hierzu eignet sich u. a. Business Process Modelling Notation (BPMN). Die Spezifikationssprache bietet die Möglichkeit, einzelnen Aktivitäten und Events bestimmte Akteure, Tätigkeiten und Laufzeiten zuzuweisen und auch Subprozesse vereinfacht darzustellen.
  3. Um einen modellierten Prozess zu untersuchen, braucht es messbare Kennzahlen, sogenannte Key Performance Indicators (KPI). Das bedeutet, jede relevante Schnittstelle, jeder Akteur, wird anhand bestimmter festgelegter Kriterien untersucht. Beispiel-KPIs sind die Wartezeit vor und/oder während einer Aktivität, die Dauer, bis eine Aktivität abgeschlossen ist, fehlerhaft bearbeitete Aktivitäten und die Anzahl der in eine Aktivität involvierten Akteure. Wichtig ist, eine Kennzahlenbibliothek aufzubauen, die alle relevanten Informationen transparent dokumentiert.
  4. Mit diesen Grundvoraussetzungen lässt sich eine Prozesssimulation über eine definierte Zeitspanne mehrfach durchführen. Mithilfe kleinerer Anpassungen am Ist-Prozess können Versicherer verschiedene Soll-Prozess-Szenarien definieren und diese erneut simulieren. Ein Abgleich mit der Ist-Prozess-Simulation deckt schließlich versteckte Verbesserungspotentiale oder neuralgische Schwachstellen auf.

Die Jobbeschreibung

Ein guter „Prozesssimulator“ braucht somit gute Soft Skills, fachliches Know-how sowie praktische Tool-Skills. Spannend ist, dass man in die Analyse eines kompletten oder zumindest eines Ausschnitts eines Gesamtprozesses eingebunden ist. Man erhält so einen umfangreichen Einblick in die Aktivitäten eines Versicherers. Dieses Plus an Wissen bedeutet zugleich mehr Verantwortung, der man mit Analysen und gezielten Entscheidungen gerecht werden muss. Darüber hinaus erfordern Prozesssimulationen Kreativität, wie ein vorhandener Ist-Prozess möglichst effizient und ressourcensparend auf einen verbesserten Soll-Prozess angepasst werden kann.

Überschaubarer Tool-Markt

Die Zahl der notwendigen IT-Lösungen für Prozesssimulationen beschränkt sich auf wenige Softwareanwendungen. Auf dem deutschen Markt sind derzeit zirka 75 verschiedene Business Process Mangement Suites-Lösungen vertreten. Sie bilden die Grundausstattung und sorgen für die Visualisierung eines bestehenden Prozesses, beispielsweise in Form einer Prozesslandkarte. Process Mining Software unterstützt zudem beim Aufbau einer Kennzahlenbibliothek. Es gibt hierfür derzeit rund zehn Tools, die international zum Einsatz kommen. Die Überschneidung von Business Process Mangement Suites und Process Mining Software fällt dabei sehr gering aus, auch wenn sich beide Dienste eng verknüpfen lassen.

Prozesssimulation als Einstieg in Big Data

Prozesssimulation bringt neben operativen auch strategische Mehrwerte, weil es Prozessmanagement und Big Data verbindet. Zum einen werden im System die verschiedenen Operatoren und deren Schnittstellen erfasst und eine Geschäftstätigkeit bis ins Detail visualisiert. Die Business Developer bekommen einen unschätzbaren Einblick in das Innenleben des Unternehmens. Zum anderen schafft Prozesssimulation, dass Operatoren mit Echtzeitdaten gefüllt werden, um die Realität so nah wie möglich abzubilden.

In der Industrie wird so versucht, einen gleichmäßigen Workflow zu erzielen und potentielle Schwachstellen (Engpässe) in der Produktion aufzudecken. Die Versicherungsbranche kann sich hier etwas abschauen. Sie können beispielsweise ihre digitalisierten Prozesse mithilfe von Prozesssimulation stetig überwachen und mit denen von Marktführern oder innovativen Start-ups vergleichen. So bleiben sie auf dem Laufenden, welche Arbeits- und Geschäftsprozesse derzeit das Maß der Dinge sind und können mit ihren Kennzahlen prüfen, ob sich eine Änderung unter dem Strich rentieren würde.

Foto: GettyImages / milanvirijevic