Und das Netz vergisst doch: Die Utopie vom ewigen Speicher

Das Internet bietet ungeahnte Möglichkeiten. Nur, von Dauer ist es nicht. Was sich heute online findet, verschwindet morgen im digitalen Nirwana – mit gravierenden Folgen, besonders für den Journalismus.

Felix Simon
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Wo die Computer zerfallen, liegen auch ihre Daten begraben – und damit weite Teile der Zeitgeschichte. (Bild: Claro Cortes IV / Reuters)

Wo die Computer zerfallen, liegen auch ihre Daten begraben – und damit weite Teile der Zeitgeschichte. (Bild: Claro Cortes IV / Reuters)

Das Internet vergisst nichts, so der weitverbreitete Glaube. Doch der Schein trügt. Während wir tippen, scrollen, wischen, liken und posten und den digitalen Wissensspeicher Tag für Tag in neue, schwindelerregende Höhen treiben, verrotten seine Grundfesten schneller, als sie vor dem Verfall bewahrt werden können. Alte Websites verschwinden, Links führen schon nach wenigen Jahren ins Nirgendwo. Besonders für den Journalismus und das öffentliche Gedächtnis wird dies dramatische Folgen haben. Der digitale Journalismus ist eine feine Sache. In der Zeit beständig ist er nicht.

Um zu verstehen, warum, lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Der massenhafte Verlust von Information ist kein Phänomen der Moderne, es findet sich in der Geschichte immer wieder. Die Ursache liegt nicht in fehlendem Wissen um die richtige Archivierung, sondern in unserer Einstellung. Die zuverlässige Sicherung von Information über lange Zeiträume ist ein willentlicher Akt. Er erfordert das Bewusstsein, dass etwas erhalten werden soll, und Entscheidungen darüber, was erhalten werden soll und wie.

Der Beginn des Buchdrucks im Westen im 15. Jahrhundert ist hierfür ein gutes Beispiel. Viele frühe Bücher fanden sich auf Papier auf einem Trägermedium wieder, das im Vergleich zu Pergament nicht unbedingt für Langlebigkeit steht – sie wurden durch ihre massenhafte Verfügbarkeit oft auch nicht als wertvoll genug angesehen, um sie zu bewahren. Dementsprechend wenig ist davon erhalten. Selbst in Klosterbibliotheken, für viele der ultimative Hort von Wissen, wurde längst nicht alles aufbewahrt. Alte Handschriften oder frühe gedruckte Bücher wurden nicht selten gegen neuere ausgetauscht und die alten Exemplare anschliessend zweckentfremdet, beispielsweise als Grundstoff für Bucheinbände oder Buchinnendeckel.

In der Moderne wiederholte sich das Drama. Grosse Teile des amerikanischen Filmbestands aus den ersten vier Jahrzehnten des Kinos gelten heute als verloren. Vor allem Filme, die vor dem Beginn der Tonfilmzeit um 1928 entstanden, sind kaum erhalten – manche Schätzungen sprechen von gerade einmal 10 Prozent, die überlebt haben. Schuld ist auch hier ein unsicheres Trägermedium. Der verwendete Nitratfilm war hochentzündlich und ging oft von selbst in Flammen auf. Doch auch hier findet sich wieder das bekannte Desinteresse an der Haltbarmachung. Die Studios benötigten Platz in ihren Lagern, Stummfilme galten im Zeitalter des Tonfilms als fast wertlos. Was man loswerden konnte, wurde verschleudert, der Rest vernichtet.

Papier lebt länger

Es scheint also, als begingen wir die gleichen Fehler immer wieder. Auch das Web bildet hier keine Ausnahme. Digitale Daten mögen auf den ersten Blick verlockend sein – sie können endlos kopiert werden, sind maschinenlesbar, lassen sich in grossen Mengen auf kleinstem Raum speichern – doch was hier verloren geht, ist meist unwiederbringlich. Selbst Papier schlägt die Langlebigkeit einer Server-Festplatte um mehrere hundert Jahre.

Hinzu kommt der kurze Lebenszyklus der verwendeten Dateiformate. Adobe Flash, um die Jahrtausendwende noch die dominante Software für die Darstellung von multimedialen Inhalten im World Wide Web, ist zwei Jahrzehnte später längst auf dem Rückzug und wird von Adobe ab dem Jahr 2020 endgültig nicht mehr unterstützt. Auch andere Softwareformate und Betriebssysteme ändern sich ständig, mit gravierenden Folgen. Innerhalb weniger Jahre lassen sich so alte Dateien auf neuen Geräten nicht mehr nutzen und wenn, dann oft nur mit erheblichen Einschränkungen. In der digitalen Welt wird Archivierung durch die Verquickung von Trägermedium und Softwareumgebung komplizierter als je zuvor.

Auch im Web begegnen wir immer wieder der Frage nach dem Willen zum Erhalt des Vorhandenen. Allzu oft vergessen wir, dass das Internet schon von seiner Struktur her nicht als Informationsspeicher angelegt wurde. Einen genauen Plan, eine ausführende Instanz, ja geschweige denn ein klar definiertes Ziel gab es nie. Von einem Langzeitarchiv war nie die Rede.

Und so wie das Netz und seine Inhalte niemandem alleine gehören, existiert auch keine zentrale Stelle für die Archivierung der Inhalte. Auch wenn Initiativen wie Archive.org versuchen, so viele Websites wie nur möglich zu speichern, scheitern sie mit ihren begrenzten Mitteln doch an der schieren Masse. 1994, drei Jahre nach der Erfindung des World Wide Web, gab es gerade einmal rund 2700 Websites. 2019 sind es mehr als 1,6 Milliarden, Tendenz steigend. Einen solch lebendigen Organismus zu konservieren, ist kaum möglich, schon gar nicht im laufenden Betrieb und besonders nicht dann, wenn mehr und mehr Inhalte innerhalb der «walled gardens» der grossen Plattformen oder innerhalb von verschlüsselten Messaging-Diensten entstehen.

Wenn der Journalismus plötzlich weg ist

«Warum sollte uns das alles kümmern?», liesse sich natürlich fragen. Doch welche der vielen Informationsschnipsel, die wir produzieren, nachfolgenden Generationen einmal zum besseren Verständnis unserer Zeit verhelfen werden, ist für uns unmöglich vorherzusagen. Immerhin, einige haben die Gefahr erkannt. Vinton Cerf, einer der Entwickler des Internets, warnte schon davor, dass die Menschheit auf ein «vergessenes Jahrhundert» zusteuere, wenn man sich auf die Haltbarkeit digitaler Daten und die immerwährende Existenz des Webs verlasse.

Nirgendwo wird die Gefahr des digitalen Gedächtnisschwundes allerdings deutlicher als im Journalismus. Auch wenn sich Print tapfer hält, findet der Journalismus des frühen 21. Jahrhunderts überwiegend online und digital statt. Doch angesichts der schillernden neuen Welt fragt kaum einer, ob die schönen Produkte der neuen Zeit auch in Zukunft noch zugänglich sein werden. Eine Zeitungsseite ist vergleichsweise leicht zu archivieren, eine Website mit aufwendigen multimedialen Inhalten ist es nicht.

Ohne Vorwarnung lassen sich so schon heute ältere Websites und Webinhalte von manchen Zeitungen mit neueren Browsern nicht mehr richtig darstellen oder verschwinden gleich ganz auf Nimmerwiedersehen. Man sollte also eigentlich erwarten, dass sich Medienhäuser ausreichend Gedanken um diese Problematik machen. Doch weit gefehlt, wie eine neue Studie des Tow Center der Columbia University in New York zeigt: Die Wissenschafterinnen Sharon Ringel und Angela Woodall stellten fest, dass von 21 befragten amerikanischen Zeitungen und Nachrichtenorganisationen 19 keinerlei Richtlinien oder Routinen, ja nicht einmal informelle Archivierungspraktiken hatten, um ihr digitales Material für die Nachwelt zu präservieren.

Abgesehen davon, dass befragte Organisationen es versäumten, die Artikel auf ihren eigenen Websites zu archivieren, wurden auch keine Veröffentlichungen auf Social-Media-Plattformen aufbewahrt – alles virtuelle Orte, an denen sich Journalismus heutzutage abspielt. Auf diese Versäumnisse angesprochen, antworteten die Befragten wiederholt, dass der Schwerpunkt des Journalismus für sie auf dem liege, «was neu ist» und «jetzt passiert» – und zur Not habe man ja immer noch einige Back-ups und das Internet Archive. Doch ein Back-up ist keine Archivierung. Sicherungskopien sind nutzlos, wenn sich die Technologie um sie herum wandelt. Und das Internet Archive sichert längst nicht alles und konserviert nur unregelmässig. Zugriff auf Plattformen hat es nicht.

Letztlich scheitert die Langzeitsicherung von digitalen journalistischen Inhalten jedoch nicht nur am fehlenden Willen, sondern auch am Aufwand und an den damit verbundenen Kosten. Nicht jedes Medienunternehmen kann (und will) sich Archivare leisten, die beständig neue Methoden zur Sicherung entwickeln und den Bestand in Zukunft zugänglich erhalten. Besonders lokale und kleine Medienhäuser haben dafür oft nicht den finanziellen Spielraum. Und selbst wenn die erforderlichen Massnahmen ergriffen werden: Schliesst ein Medienhaus, ist noch lange nicht garantiert, dass das digitale Archiv danach an anderer Stelle weiterexistiert. Wenn die dazugehörigen Websites ebenfalls nicht mehr betrieben werden, wird von den Früchten journalistischer Arbeit über kurz oder lang nichts mehr übrig bleiben – für Journalisten, Wissenschafter und nicht zuletzt die Öffentlichkeit der Zukunft ein mehr als schmerzlicher Verlust.

Was soll archiviert werden?

In diesem Prozess werden sich zwangsläufig viele Fragen stellen. Welche Medieninhalte sollten archiviert werden, von wem und wie oft? Und geht es uns nur um die Artikel? Oder auch um Videos, Grafiken und interaktive Anwendungen? Und was ist mit den Kommentaren der Leser und den Diskussionen zu Artikeln in sozialen Netzwerken? Es sind unbequeme Fragen ohne einfache Antworten, doch sie müssen gestellt werden.

Der Gedanke an Archive mag nicht so «sexy» sein wie Vorstellungen von der schönen neuen Welt digitaler Möglichkeiten. In Zeiten, in denen die Presse mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hat, ist er nicht weit oben auf der Agenda. Doch ohne verlässliche Archive riskieren wir nicht nur, dass bestimmte Versionen der Geschichte später die Oberhand gewinnen, wenn es nichts gibt, mit dem sie korrigiert werden können – wir riskieren auch, dass die historischen Wissenslücken, die sich zwangsläufig in Zukunft auftun werden, noch grösser sind als die der Vergangenheit. Doch wenn wir wollen, dass aus der Geschichte gelernt werden kann, ist es der Journalismus nachfolgenden Generationen schuldig, dem mit aller Kraft entgegenzuwirken.