"Wir führen immer wieder eine aufgeregte Lesediskussion und konzentrieren uns nur auf die Schule. Das ist ein Fehler": Gerald Leitner.

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STANDARD: Im Unterschied zu vielen EU-Ländern hat Österreich kein Bibliotheksgesetz, das verbindliche Standards für Finanzierung, Ausstattung etc. regelt. Allerdings konnten Sie bei Kulturministerin Claudia Schmied im Frühjahr Maßnahmen zur Stärkung der öffentlichen Büchereien aushandeln. Wie sehen diese aus?

Leitner: Wir haben ein Maßnahmenpaket entwickelt, das über die Bibliotheken die Versorgung mit Literatur in Österreich verbessern soll. Eine von der Bundesministerin beauftragte Expertengruppe hat derartige Standards für Bibliotheken ausgearbeitet, gleichzeitig hat das Bildungsministerium die finanziellen Mittel für öffentliche Bibliotheken um 20 Prozent auf zirka zwei Millionen Euro erhöht, um Anreize zu schaffen, diese Zielstandards zu erreichen.

STANDARD: Wie stehen die österreichischen Bibliotheken im europäischen Vergleich da?

Leitner: Nicht gut. Das Maßnahmenpaket der Bundesministerin ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Trotzdem rangieren wir bei den finanziellen Ausgaben für Bibliotheken in Europa im unteren Drittel. Man braucht sich daher nicht wundern, wenn die Ergebnisse zur Lesefähigkeit im internationalen Vergleich dürftig ausfallen. Im Dezember werden die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie veröffentlicht, ich nehme nicht an, dass Österreich hier einen Preis einheimst.

STANDARD: Die Bibliotheks-Öffnungszeiten sind nicht benutzerfreundlich. Am Wochenende bleiben Büchereien meist geschlossen.

Leitner: Die Zugänglichkeit der Bibliotheken ist eine essenzielle Frage. Auch hier bestimmen die finanziellen Mittel die Möglichkeiten. Gerade die Öffnungszeiten am Wochenende und am Abend sind teuer. Der Wille aber ist da, in Wien hat die Hauptbibliothek ihre Öffnungszeiten - auch am Samstag - ausgedehnt.

STANDARD: Eine deutsche Untersuchung sagt, dass 45 Prozent der 14- bis 19-Jährigen noch nie ein Buch geschenkt bekommen haben.

Leitner: So ist es. Viele Kinder bekommen zu Hause keine Leseförderung. Eine Begleitstudie zu Pisa besagt, dass es in 25 Prozent der österreichischen Haushalte unter zwanzig Bücher gibt. Da braucht man sich nicht wundern, dass die Leute nicht lesen können. Das ist eine Schiene der Benachteiligung, die nur die öffentliche Hand durch ein entsprechendes Angebot ausgleichen kann.

STANDARD: Durch Bibliotheken?

Leitner: Ja. Und es bereitet mir Sorgen, dass von den 2400 österreichischen Gemeinden fast 1400 über keine öffentliche Bücherei verfügen. Das führt zu weißen Flecken in der Leselandschaft, die zu schwarzen Löchern für die Zukunft unseres Landes werden, weil hier die Jugendlichen überhaupt kein Leseangebot haben. Dazu kommt, dass es in Österreich nur in 400 Orten bzw. Städten Buchhandlungen gibt. Das heißt, es gibt eine große Anzahl an Gemeinden, in denen Kinder und Jugendliche weder Bücher kaufen, noch sie entlehnen können.

STANDARD: Und die Schule?

Leitner: Die Pisa-Begleituntersuchungen zeigen, dass Lesekompetenz viel stärker vom elterlichen Haushalt abhängig ist als beispielsweise Fähigkeiten in der Mathematik. Das hängt damit zusammen, dass man Mathematikbeispiele zu Hause lösen kann, zum Lesen aber brauche ich Bücher. Wie gesagt, fehlt es aber vielen Haushalten an dieser Infrastruktur, Lesen hat auch mit Training zu tun, ich brauche Trainingsmaterial. Die Schule allein kann das Problem nicht lösen. Wir führen immer wieder eine aufgeregte Lesediskussion und konzentrieren uns nur auf die Schule. Das ist ein Fehler. Ebenso absurd mutet es an, dass wir diese Diskussion ohne Bibliotheken führen.

STANDARD: Sie organisieren heuer bereits zum fünften Mal Österreichs größtes Literaturfestival "Österreich liest. Treffpunkt Bibliothek". Das Geheimnis des Erfolgs?

Leitner: Der Mix aus tausenden attraktiven Veranstaltungen in den Bibliotheken in ganz Österreich und einer Werbekampagne mit Topstars, die für das Lesen werben, ist das Erfolgsgeheimnis. Mich fasziniert immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit sich Stars aus Kultur und Sport für die Aktion vollkommen gratis zur Verfügung stellen und mit welchem Einfallsreichtum Bibliothekarinnen Leseevents kreieren. (Stefan Gmünder, DER STANDARD - Printausgabe, 19. Oktober 2010)