«Tod durch Hoffnungslosigkeit»: Der amerikanische Traum sei lädiert, sagt Nobelpreisträger Deaton

Suizide und Todesfälle durch Drogen oder Alkohol haben unter weissen Amerikanern stark zugenommen, wie die Forschung von Angus Deaton und Anne Case zeigt. Ein möglicher Grund: Traditionelle Bande über die Arbeit, die Familie und die Kirche erodieren.

Christoph Eisenring
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Sind die USA noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Für einen Teil der Gesellschaft kaum, sagen Untersuchungen von Ökonomen. Im Bild der Times Square in Manhattan, New York.

Sind die USA noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Für einen Teil der Gesellschaft kaum, sagen Untersuchungen von Ökonomen. Im Bild der Times Square in Manhattan, New York.

Andrew Kelly / Reuters

Amerikas Kapitalismus funktioniere für einen Teil der Gesellschaft nicht. Zu diesem harten Urteil kommen der Nobelpreisträger Angus Deaton und Anne Case, die in Princeton zusammen forschen und auch verheiratet sind. Deaton betonte Anfang Jahr am Stelldichein der amerikanischen Ökonomen in San Diego, er sei vom Kapitalismus überzeugt, der weltweit Milliarden Menschen aus der Armut befreit habe. Aber im eigenen Land habe diese Wirtschaftsordnung über die letzten fünfzig Jahre viele enttäuscht zurückgelassen – und dies schlage mittlerweile sogar auf die Lebenserwartung durch, sagte Deaton an der stark beachteten Veranstaltung. Die Lebenserwartung hat drei Jahre nacheinander von 79,1 auf 78,9 Jahre leicht abgenommen – für ein Industrieland eine ungewöhnliche Entwicklung. In der Schweiz liegt die Lebenserwartung fast fünf Jahre höher als in den USA.

Suizide, Drogen und Alkohol

Es sind die weissen Amerikaner, die höchstens ein Highschool-Diplom im Sack haben, deren Aussichten sich besonders verschlechtert haben. Ihre Sterblichkeit hat seit der Jahrhundertwende stark zugenommen. Ein Beispiel illustriert die Dramatik: 1999 starben unter den Weissen mit höchstens einem Highschool-Abschluss in der Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen 722 Personen auf 100 000. Bei den Schwarzen waren es mit 945 Personen damals deutlich mehr. Doch die Situation hat sich umgekehrt: Die Sterblichkeit unter den Weissen stieg bis 2015 auf 927, unter den Schwarzen dagegen fiel sie stark auf 703. Somit ist die Mortalität für weisse Amerikaner ohne College um fast 1,7% pro Jahr gestiegen. In der Schweiz dagegen nahm sie in der gleichen Altersgruppe um jährlich 2,5% ab.

Was steckt dahinter? Case und Deaton stellen ihre Forschung unter den Titel «Tod durch Hoffnungslosigkeit» («deaths of despair»). Die Zahl der Suizide sowie der Todesfälle durch Drogen- und Alkoholmissbrauch hat enorm zugenommen. Ein weiterer Risikofaktor ist die Fettleibigkeit. Die höhere Sterblichkeit findet man dabei nicht nur in ländlichen Gebieten, sondern mit Ausnahme der grössten Agglomerationen überall im Land. Auch hierzu ein eindrückliches Beispiel: In Utah sind zwei Drittel der Einwohner Mormonen. Ihre Religion verbietet eigentlich den Konsum von Alkohol, Kaffee und Tabak. Die Zahl der Suizide hat sich nun in Utah seit 1999 unter den 45- bis 54-jährigen Weissen verdoppelt, die Todesfälle durch Alkohol und Drogen haben sogar um 150% zugenommen.

Anne Case

Anne Case 

PD
Angus Deaton

Angus Deaton 

PD

Nicht zum Betriebsfest eingeladen

Anne Case sprach in San Diego von zwei getrennten Universen, in denen Amerikaner mit und ohne Bachelor-Abschluss heute lebten. Um den Ursachen für die Polarisierung auf die Spur zu kommen, muss man tiefer graben. Schnell sind diejenigen zur Stelle, die die steigende Ungleichheit dafür verantwortlich machen wollen. Doch die Ungleichheit scheint der Entwicklung eher zu folgen, hiess es an der Veranstaltung. Auch die schlechte Einkommensentwicklung der letzten Jahre will nicht recht als Erklärung passen. Der Einkommensverlauf war bei Schwarzen und Hispanics ähnlich, trotzdem ging deren Sterblichkeit weiter zurück.

Eher ins Bild passt, dass die Reallöhne für Personen mit höchstens einem Highschool-Abschluss in den USA seit fünf Jahrzehnten stagnieren – Männer ohne College-Abschluss gelten deshalb laut Case als wenig gutes «Heiratsmaterial». In den USA ist der Anteil der Stellen in der Industrie von über 20% im Jahr 1980 auf mittlerweile 8,5% gesunken. Die Zeit der lebenslangen Anstellung, vielleicht sogar in zweiter oder dritter Generation bei derselben Firma am Ort, ist vorbei.

Stellen im Dienstleistungssektor sind nicht nur oft schlechter bezahlt, sondern haben im Fall von Auslagerungen auch nicht dasselbe Sozialprestige. Diese externen Mitarbeiter würden zum Beispiel auch nicht ans Betriebsfest eingeladen. Wenn mehrere solche Entwicklungen zusammenkommen, führt dies zu einem Statusverlust und einer zunehmenden Vereinzelung, die der Soziologe Robert Putnam einmal mit dem Buchtitel «Bowling Alone» («Alleine kegeln») auf den Punkt brachte. In dieses Muster passt auch, dass unter den jungen Amerikanern (20 bis 29) nicht einmal mehr jeder zweite einer Kirche angehört – einer Institution, die früher Zugehörigkeit schuf.

Es gibt auch Lichtblicke

Einen «Bösewicht» machten Deaton und Case dann doch aus: Die amerikanische Gesundheitsindustrie mit ihrer stark gestiegenen Verschreibung von Opioiden. Laut einer Studie nimmt jeder zweite arbeitslose Mann in den USA Schmerzmittel, und hierbei handelt es sich meistens um Opioide, die zur Abhängigkeit führen können. Durch die grosszügige Verschreibungspraxis habe man Benzin ins Feuer geschüttet, sagen die Forscher.

Die Ökonomen sind letztlich aber ziemlich ratlos, was nun zu tun sei. Eine allgemeine Krankenversicherung, Lohnsubventionen und mehr Ausgaben für Bildung wurden ins Spiel gebracht. Dass aber alle Amerikaner plötzlich eine vierjährige College-Ausbildung machen würden, ist kaum realistisch. Kenneth Rogoff (Harvard) warf ein, dass in Südkorea zwar 70% einen solch höheren Abschluss hätten, aber das Land auch eine der weltweit höchsten Suizidraten habe. Der frühere Chef der indischen Notenbank, Raghuram Rajan, pries das subsidiäre Bildungswesen der Schweiz. Ohnmacht entstehe auch dadurch, dass stets mehr Entscheidungen vom Wohnort weggenommen und auf höhere Ebenen verlagert würden.

Die Ökonomen entwerfen insgesamt ein beklemmendes Bild vom Zustand der USA – zumindest wenn es um die 30% geht, die eben nur die Highschool besucht haben. Aber vielleicht ist es auch etwas gar schwarz gefärbt. Immerhin ist die Arbeitslosenquote in den USA mit 3,5% auf einen Tiefstand gefallen. Und sowohl die Rate der Gewaltverbrechen als auch jene der Eigentumsdelikte hat sich seit 1993 mehr als halbiert. Es ist gewiss nötig, die Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft zu erforschen, aber man sollte auch die Fortschritte nicht ausser acht lassen, sonst verdüstert sich die Stimmung nur noch mehr.

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