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Flüchtlingslager Kara Tepe "Alles leere Versprechungen"

Im neuen Lager auf Lesbos sind Trinkwasser, Essen und Medikamente noch immer knapp. Tausende Männer, Frauen und Kinder sind größtenteils weiter auf sich allein gestellt.
Von der Insel Lesbos berichtet Franziska Grillmeier
Migranten im neuen Lager auf Lesbos (am 23. September): Traum von einem Leben in der EU

Migranten im neuen Lager auf Lesbos (am 23. September): Traum von einem Leben in der EU

Foto: YARA NARDI / REUTERS

Wie zwei Eiskunstläufer in der Hocke drehen sich Vater und Tochter auf den verbrannten Überresten ihres Zeltes immer wieder um die eigene Achse. Im Drehen hebt Ibrahim N. ein Kleid vom Boden auf. "Das hier hat meine Frau auf der Insel gekauft", sagt der Mann aus Laghman, Afghanistan. Seine Tochter Fatima beugt sich mit dem Gesicht zu dem Kleid vor und schüttelt dann den Kopf - zu viele Brandlöcher.

Es ist das erste Mal seit dem Feuer vor rund zwei Wochen, dass Vater und Tochter das verbrannte Lager von Moria betreten. Neun Tage harrten sie auf einem Pappkarton auf dem Lidl-Parkplatz aus - ohne Wasser, Toiletten, ohne die Möglichkeit zu duschen oder sich auf der eingekesselten Betonstraße vor der Sonne zu schützen. 

Protestierende Migranten auf Lesbos (am 11. September)

Protestierende Migranten auf Lesbos (am 11. September)

Foto: Petros Giannakouris / AP

"Im neuen Camp wird es genug Essen, Wasser, Elektrizität und Wi-Fi geben", hieß es in einem Statement des griechischen Migrationsministeriums vor wenigen Tagen, als unter den über 12.000 Vertriebenen nach dem Brand immer mehr Panik ausbrach, abermals ohne Zugang zu ausreichender Grundversorgung in ein Lager gesperrt zu werden. "Alles leere Versprechungen", sagt Ibrahim.

Er packt einen schwarz verkohlten Wasserkocher in eine Gemüsekiste, an die er einen Strick gebunden hat, um sie später besser über die knapp fünf Kilometer Asphalt der Küstenstraße in das neue Camp zu schleifen. Die neuen Zeltstädte liegen direkt in einer Biegung am offenen Meer auf einem militärischen Schießübungsplatz, der kurz vor dem Feuer noch in Gebrauch war. Der Boden ist gelb und sandig.

Von oben betrachtet sieht das Lager sauber geordnet aus. Fast wie riesige weiße Legosteine stehen die UNHCR-Zelte dicht nebeneinander am Meer. 

Zoomt man jedoch näher heran, sieht man Hunderte Menschen in der prallen Mittagssonne vor großen Zelten anstehen, sieht die Wellen des Meeres gefährlich nahe an den Zelträndern brechen, Zelte im Wind in sich zusammenbrechen, auch, wie Kinder neben dem Stacheldraht schlafen und ein paar umgefallene Dixie-Toiletten neben der Quarantäne-Station auslaufen.

"Die Wellen des Meeres sind hoch, aber wir haben kein fließendes Wasser", sagt Ibrahim. Seit dem Feuer konnte sich die Familie nur mehr im Meer waschen. Bis heute wurden noch keine Duschen aufgebaut. Einige Frauen berichten vor dem Zelteingang, dass sie sich mit Plastikflaschen in den Zelten duschen. Andere Familien sammeln Geld, um für ein paar Stunden während der Ausgangserlaubnis ein Hotelzimmer zu buchen und die Kinder zu waschen.

Duschen zu können, ist für die Geflüchteten ein Luxus

Duschen zu können, ist für die Geflüchteten ein Luxus

Foto: YARA NARDI / REUTERS

"Im Moment braucht wirklich jeder in dem Camp eine ärztliche Betreuung", sagt Giovanna Scaccabarozzi, die für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet. Bei vielen Familien sind im Feuer die Klarsichtfolien verbrannt, in denen die Menschen ihre Asyldokumente und Gesundheitsnachweise aufbewahren. Das macht es besonders für chronisch kranke Patienten mit Leukämie oder Asthma schwierig, im Moment an Medikamente zu kommen oder ausreichend versorgt zu werden - ihre Dokumente sind nun Asche. "Die mentale Belastung der Schutzsuchenden ist nach der Flucht aus dem Feuer, dem gezielten Aushungern auf der Straße danach und der Unsicherheit im neuen Lager unermesslich", sagt Scaccabarozzi.

In den Tagen auf der Straße tranken viele Menschen aus den Abwasserschläuchen in den Zufahrtsstraßen rund um die Polizeiabsperrung, da sie stundenlang in der Hitze ohne frisches Wasser ausharren mussten. Heute leiden viele unter Durchfall und den Folgen der Dehydrierung. "Die humanitäre Hilfe sowie Wasser und Essen wurden in den Tagen auf der Straße von der Polizei kaum zugelassen", sagt Scaccabarozzi. "Es war das erste Mal, dass wir in der Notfallklinik dehydrierte Kinder behandeln mussten. Das passierte nicht mal in Moria, wo Menschen auch nur wenig Zugang zu Trinkwasser hatten." Die Hilfsorganisation fordert die sofortige Evakuierung der Menschen aus dem neuen temporären Lager, das die Grundversorgung nicht abdecke.

"Wir haben in den letzten Monaten in Moria so viel Schlimmes erlebt", sagt Mustafa K., der, so berichtet er es, vor einem Jahr auf die Insel gekommen ist und seitdem auf sein Asylverfahren wartet, "das hier kann ich nicht mehr in Worte fassen." Seit über einer Woche lebt der alleinstehende Sudanese nun mit Dutzenden anderen Männern in einem Zelt. "Hier stapeln sich alle", sagt er, "und haben Hunger." Am meisten jedoch schockiert ihn die Unterbringung der mehr als 240 positiv getesteten Corona-Patienten. "Wenn die Menschen krank sind, brauchen sie doch eine Matratze zum Ausruhen und kein Gefängnis", sagt Mustafa.

Die Quarantäne-Sektion gleich neben dem Eingang besteht aus ein paar größeren UNHCR-Zelten, die mit Stacheldraht und rot-weißem Absperrband eingezäunt sind. Bei einem Pressetermin in der vergangenen Woche sitzt ein Mann mit erhobenen Händen im Rollstuhl. "Warum?", fragt er. Auf der Straße, auf der die Fotografen stehen, rauschen die Bagger vorbei. Im Wind ist der Mann kaum mehr zu verstehen.