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Panorama Debatte zu Chemnitz

Nach Kretschmers schmallippiger Verteidigung reicht es Anne Will

Kretschmer (CDU) und Anne Will diskutierten über "Chemnitz und die Folgen" Kretschmer (CDU) und Anne Will diskutierten über "Chemnitz und die Folgen"
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Anne Will diskutierten über "Chemnitz und die Folgen"
Quelle: NDR/Wolfgang Borrs/JM
Bei „Anne Will“ rechtfertigt Sachsens Ministerpräsident die Einsätze der sächsischen Polizei. In der Bewertung von Chemnitz fällt ein Kabarettist mit scharfen Aussagen auf. Letztendlich verliert sich die Sendung jedoch in Pathos.

Für Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ging die Sendung ungemütlich los. Anne Will diskutiert über „Chemnitz und die Folgen“ und Kretschmer soll erklären, warum der Freistaat am Montagabend, als 591 Polizisten mehreren Tausend Demonstranten gegenüberstanden, stets das Heft des Handelns in der Hand hatte. Denn das hatte Kretschmer immer wieder gesagt, obwohl Fotos und Videos Beleidigungen, Hetze, Hitlergrüße und Gewalt, auch gegen Journalisten und Polizisten, dokumentierten.

Zu Gast bei Anne Will sind außerdem Wolfgang Thierse (SPD), ehemaliger Bundestagspräsident, Petra Köpping (ebenfalls SPD), sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, sowie der Kabarettist Serdar Somuncu (u.a. „heute show“) und der RBB-Journalist Olaf Sundermeyer. Doch zunächst steht allein Kretschmer im Fokus.

Der sitzt angespannt und mit Augenringen in seinem Sessel. Er erklärt zum Einsatz am Montag: „Die Beamten sind über sich hinausgewachsen.“ Das oberste Ziel, linke und rechte Demonstranten zu trennen, habe die Polizei erreicht. Straftäter seien identifiziert worden, ihre Taten werden geahndet, verspricht er.

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Damit ist Kretschmers Verhör in Deutschlands wichtigster Talkshow aber noch nicht zu Ende. Denn Anne Will bohrt weiter. Montagmittag erkannte der Verfassungsschutz, dass die rechtsextreme Szene bundesweit mobilisiert, erwartete mehrere Tausend Teilnehmer. Trotzdem blieb die sächsische Polizei bei einer Einsatzplanung, die Kretschmer selbst als „kritisch“ bezeichnet.

Kretschmer antwortet schmallippig

Kretschmers Antwort fällt schmallippig aus: „Ich glaube, dass sie nicht nah genug dran sind, um die Sache einzuschätzen.“ Als der RBB-Journalist Sundermeyer der sächsischen Polizei für den Montag ein „Behördenversagen“ attestiert, weil auch er als Journalist die Mobilisierung der rechten Szene erkannt habe, taktiert Kretschmer weiter: „Sie kennen die Situation nicht. Ich finde es unerhört, hier ein Urteil zu fällen.“

Da reicht es Anne Will: „Wir müssen uns nicht überall besser auskennen als sie, aber wir stellen die Fragen, die zu stellen sind. Dann muss es uns zugestanden sein, angesichts der Entwicklung und der Bilder zu fragen, stimmt das?“

„Wir haben alles aufgeboten, was in Sachsen zur Verfügung stand“, sagt Kretschmer. Samstag verstärkten dann Beamten aus anderen Bundesländern und Bundespolizisten den Einsatz, ein Fußballspiel wurde abgesagt. Zumindest dafür gibt’s Lob vom Journalisten Sundermeyer: „Die Polizei hat aus drastischen Fehlern in kürzester Zeit gelernt.“ Auch der Umgang mit Medienvertretern funktioniere jetzt besser als zuvor.

Trägt Angela Merkel eine Mitschuld an der Eskalation?

Dann geht es an die Analyse der Ereignisse der vergangenen Tage. „Viele Menschen wissen nicht, wo sie hingehen sollen, mit ihrer Trauer“, sagt Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping. Das nutzten Rechtsextreme aus. „Wenn mir ein Chemnitzer sagt, er will seine Trauer ausdrücken und geht dann mit Pegida auf die Straße, dann glaube ich das nicht“, findet hingegen Wolfgang Thierse. Es sei klar, dass sich die Demo der Rechten gegen den Rechtsstaat richte – und deshalb auch Bürger, so legitim ihre Kritik an der Migrationspolitik sein mag, dort nicht mitmarschieren dürften.

Zur Frage, warum Probleme mit Rechtsextremismus immer wieder in Sachsen auftauchen, dekliniert Serda Somuncu die gängigsten Thesen (ein Faible für rechts, die Wende, der bisher geringe Ausländeranteil) fast mustergültig wie im Uni-Seminar durch. „Es gibt das Klischee, im Osten sind alle Nazi, im Westen nicht.“ Doch Wahlergebnisse zeigten, der Erfolg rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien sei kein reines ostdeutsches Phänomen, sagt Somuncu.

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Die entscheidende Ursache aber sei die Flüchtlingskrise, so Somuncu. Mit dieser Argumentation klingt der Kabarettist ein wenig nach Wolfgang Kubicki, der Mitte der Woche der Kanzlerin eine Mitschuld an der Zuspitzung in Chemnitz gab. Somuncu argumentiert ähnlich: „Eine der großen Ursachen, dass dieser Konflikt zu eskalieren droht, ist, dass Angela Merkel vor drei Jahren noch gesagt hat ‚Wir schaffen das.’ Sie hat aber nicht gesagt, was wir schaffen und wie wir es schaffen.“

„Debatte dreht sich wieder nur um Flüchtlinge und Migration“

Thierse widerspricht Somuncus These energisch: Das Narrativ der Rechten sei aufgegangen, die Debatte drehe sich wieder nur um Flüchtlinge und Migration. Er hält es für wichtiger, über Pflege, Rente und sichere Arbeitsplätze zu sprechen. Integration müsse die Politik mit Ehrlichkeit angehen. Sie dauere länger als gedacht, aber wenn Deutschland es schaffe, dann sei das Land reicher.

Somuncus Lösung: Einen übergreifenden Dialog indem Deutschland diese Fragen kläre. Dieser schließe auch die AfD ein. „Warum demonstriert die AfD jetzt nicht glaubhaft, dass sie gegen rechts ist?“ Eine fast schon naive Frage angesichts des Aufmarsches des rechten Parteiflügels der AfD am Samstag.

Petra Köpping schildert ihren Eindruck, warum Sachsen anfälliger für das rechte Spektrum ist als andere Bundesländer. Als sie ihren Job als Integrations- und Gleichstellungsministerin antrat, dachte sie, es ginge um Migranten und Frauen. Tatsächlich erwarte man von ihr aber eine Gleichstellung des Ostens mit dem Westen. Offen bleibt die Frage, warum in anderen ostdeutschen Bundesländern dieser Wunsch weniger radikal vorgetragen wird.

Sundermeyer attestiert der CDU, die in Dresden seit der Wende regiert, eine Mitschuld am Aufstieg des Rechtsextremismus in Sachsen. Weil man keinen Schatten auf das eigene Land werfen wollte, hätten Politiker den Extremismus bisher tabuisiert. Kretschmer entgegnet, er komme aus Görlitz und war seit seiner Jugend mit einer rechten Szene konfrontiert. Die habe er nicht tabuisiert, sondern abgelehnt.

Radikalen und Verschwörungstheoretikern will der Ministerpräsident entgegentreten, gleichzeitig aber seine Kritik an der bisherigen Flüchtlingspolitik aufrechterhalten. Bei diesem Kurs bleibt Kretschmer auch bei Anne Will. Er verspricht, Probleme bei Asyl und Flüchtlingen zu adressieren, etwa Abschiebungen. „Es ist unangenehm, es sind schlechte Bilder, aber es gehört dazu“, so Kretschmer.

Lösungen mit viel Pathos

Damit ist die Diskussion bei möglichen Auswegen angekommen. Somuncu will sich von den Affekten lösen, die die Debatte bestimmen. „Jetzt werden wieder Festivals von irgendwelchen Anti-Rechts-Künstlern, die einmal in zehn Jahren in den Osten fahren, veranstaltet“, erklärt er überspitzt. „Dann rülpst Udo Lindenberg nochmal ein ‚Nazis raus’ ins Mikrofon und dann haben wir das Gefühl, wir haben das Problem gelöst. Wir haben aber ein strukturelles Problem mit Nazis.“

„Dann rülpst Udo Lindenberg nochmal ein ‚Nazis raus’ ins Mikrofon und dann haben wir das Gefühl, wir haben das Problem gelöst", kommentiert Kabarettist Serdar Somuncu die Situation in Chemnitz
„Dann rülpst Udo Lindenberg nochmal ein ‚Nazis raus’ ins Mikrofon und dann haben wir das Gefühl, wir haben das Problem gelöst", kommentiert Kabarettist Serdar Somuncu die Situation... in Chemnitz
Quelle: NDR/Wolfgang Borrs/JM
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Somuncu will einen Dialog mit Rechten. „Wir überlassen den Rechten das Feld, wenn wir uns davor scheuen, ihre Themen mit unseren Ansichten zu besetzen.“ Später konkretisiert er dies noch, fordert, sich von paranoiden Vorstellungen zu lösen, etwa der Behauptung, es gebe staatlich gelenkten Systemmedien. Dafür gibt’s Applaus; es ist allerdings fraglich, wie überzeugte Verschwörungstheoretiker noch von einer Talkshow im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erreicht werden können.

Am Ende versuchen die Gäste sich im Pathos regelrecht zu überbieten. Plakativ schildert Köpping den kulturellen Wandel. „Früher gab es die Kneipe an der Ecke, heute gibt’s da drei Dönerläden“, sagt sie „Die Antwort muss sein, zu den Dönerläden zu gehen und die Menschen kennen zu lernen.“

„Die Verteidigung der Demokratie muss Sache aller Bürger sein“

„Die Verteidigung der Demokratie und der Menschlichkeit muss Sache aller Bürger sein“, sagt Thierse. Freunde und Nachbarn müssten darüber reden, was ihre Angst ist, was sie umtreibe – und auch Panikmache und Vorurteile als solche benennen. Kretschmer pflichtet ihm bei. Entscheidend sei, dass man den Leuten nicht vor den Kopf haut und pauschalisiert. „Nicht alle Chemnitzer sind rechts“, so der Ministerpräsident.

Und Thierse appelliert, miteinander zu streiten, was uns miteinander verbindet. Es sei die Aufgabe der Bürgergesellschaft weit über Politik hinaus, sich darum zu kümmern, dass die Voraussetzungen für einen freiheitlichen Staat gegeben sind.

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