Die Studie in Kürze

In Diskussionen um den Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern wird meistens angeführt, dass Frauen weniger häufig in den lukrativeren STEM Sektoren arbeiten. Gute Leistungen in Mathematik sind oftmals Voraussetzung, um einen technischen Studiengang oder Ausbildung zu absolvieren. Gerade in den westlichen Kulturkreisen ist jedoch die Meinung, dass Mädchen und Frauen in Mathematik weniger begabt sind als Jungen und Männer weit verbreitet. Tatsächlich schneiden Schweizer Schülerinnen zum Beispiel im PISA Mathe Test schlechter ab als ihre Mitschüler - in skandinavischen Ländern ist dies aber nicht der Fall.

Inwiefern können (kulturell geprägte) Vorurteile über die mathematische Begabung von Mädchen dazu beitragen, dass diese bei Tests in der Schule schlechter abschneiden und daher weniger häufig ein Studium oder eine Ausbildung im technischen Bereich wählen? Diese Frage beantwortet die kürzlich im renommierten Quarterly Journal of Economics veröffentlichte Studie von Michela Carlana.

Die Ökonomin misst unterschwellige Vorurteile (sogenannte „Implicit Associations“) von Mathematik und Literatur Lehrkräften an 100 Mittelschulen in Norditalien. Schülerinnen, die in Mathematik von einem Lehrer oder einer Lehrerin mit Vorurteilen unterrichtet werden, schneiden in einem unabhängig bewerteten Test schlechter ab und wählen nach Schulabschluss eher eine Lehre. Dies sowohl im Vergleich zu ihren männlichen Mitschülern, die die gleiche Lehrkraft hatten, als auch im Vergleich zu Mädchen in der Parallelklasse, die von einer unvoreingenommenen Lehrerin unterrichtet wurden. Der Effekt im Mathematik Test ist gross: In Schulklassen, die von voreingenommenen Mathe-Lehrerinnen unterrichtet wurden, ist der durchschnittliche Notenunterschied zwischen Mädchen und Jungs um ein Drittel grösser. Bei voreingenommen Literatur Lehrerinnen, deren Vorurteil implizit Mädchen mit Sprachen verknüpft, findet die Autorin keinen Effekt - weder auf weibliche noch auf männliche Schüler.

Wie werden unterschwellige Vorurteile gemessen?

Die unterschwelligen Vorurteile der Lehrerinnen misst Carlana mit einem sogenannten „Implicit Association Test“ (IAT), der von Psychologen entwickelt wurde. Der Test ist etwas komplizierter, aber die Grundidee ist etwa so: In der Mitte eines Bildschirms leuchten Begriffe auf, die Schul- und Studienfächer beschreiben, beispielsweise „Englisch“, „Literatur“, „Physik“ etc. Die Testteilnehmer sollen diese Begriffe in Boxen links und rechts auf dem Display, die entweder mit weiblichen oder mit männlichen Vornamen angeschrieben sind, einordnen, aber nach unterschiedlichen Anweisungen. Die Teilnehmer bekommen zuerst die Aufgabe, geisteswissenschaftliche Fächer in die männliche Box einzusortieren, und die naturwissenschaftlichen Fächer in die Box mit dem weiblichen Vornamen. Danach wird die Aufgabe umgedreht, und geisteswissenschaftliche Fächer sollen in die weibliche Box eingeordnet werden.

Gemessen wird nicht, wie oft die Lehrerinnen Begriffe richtig einordnen, sondern die Zeit, die sie dafür brauchen. Teilnehmende sollten schneller antworten können, wenn die Aufgabe eher mit ihrer inneren Vorstellung, welche Begriffe zusammengehören, übereinstimmt. Eine Lehrerin, die zum Beispiel länger braucht, um Lukas mit Literatur und Anna mit Mathe zu verknüpfen als umgekehrt, hat laut diesem Test ein unterschwelliges Vorurteil gegenüber Mädchen in Mathematik.

Warum fragt die Forscherin die Lehrerinnen in ihrer Stichprobe nicht einfach nach ihren Vorurteilen? Viele Studien haben gezeigt, dass Leute in Meinungsumfragen nicht unbedingt sagen, was sie denken, sondern was der Befrager von ihnen erwartet. Zudem misst der IAT Vorurteile, denen man sich nicht unbedingt selber bewusst ist. Natürlich ist auch der IAT kein perfektes Mass für unterschwellige Vorurteile, aber Michela Carlana zeigt, dass das Testergebnis stark mit Faktoren korreliert, die eher traditionelle Gender-Normen widerspiegeln: Lehrerinnen mit einem hohen Vorurteil (gegenüber Mädchen in Mathe) kommen eher aus Regionen, in denen die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen niedriger ist und traditionellere Wertvorstellungen vorherrschen.

Übrigens: Die Mehrzahl der Literatur (90%) als auch der Mathematik Lehrkräfte (81%) in der Studie sind Frauen. Weibliche Lehrer in der Stichprobe haben aber einen niedrigeren IAT Wert, das heisst sie sind grundsätzlich weniger stark voreingenommen als männliche Lehrer.

Was passiert, wenn Mädchen von einer voreingenommenen Mathe Lehrerin unterrichtet werden?

Der Aufbau der Studie

Michela Carlana führt ihre Studie an Mittelschulen durch, die italienische Kinder von der 6. bis zur 8. Klasse besuchen. Am Ende der 8. Klasse schreiben alle Kinder einen standardisierten Test in verschiedenen Fächern, der anonym und von einer unabhängigen Lehrerin korrigiert wird. Nach Abschluss der 8. Klasse entscheiden die Schüler sich zwischen drei Arten an weiterführenden Schulen: einer akademisch ausgerichteten, einer technischen, oder einer Berufs-Schule, die nicht zu einer universitären Ausbildung führt, sondern eine Lehre beinhaltet.

Da die Mittelschul-Lehrerinnen ihren Klassen mehr oder weniger per Zufallsprinzip zugeordnet werden, kann Carlana den kausalen Effekt von einer voreingenommenen Lehrerin auf ihre Schüler messen.

Wie beeinflusst eine voreingenommene Lehrerin ihre Schüler?

Mädchen schneiden im Vergleich zu ihren männlichen Mitschülern schlechter im unabhängig korrigierten Mathetest ab, wenn die Klasse von einer Mathematiklehrerin mit Vorurteil unterrichtet wurde. Zwar schneiden Mädchen in diesem Mathe Test generell schlechter ab als Buben. Diese Differenz wird aber nochmals um einiges grösser, wenn sie während der gesamten Mittelschulzeit von einer Lehrerin mit Vorurteilen unterrichtet werden. Dieses Ergebnis hält sowohl für männliche als auch für weibliche Mathe Lehrer.

Dieser grössere „gender gap“ könnte aus zwei unterschiedlichen Richtungen erklärt werden: Entweder ziehen voreingenommene Lehrerinnen die Leistungen von Buben stärker nach oben, oder sie drücken die Leistungen von Mädchen eher nach unten. Hierfür vergleicht Carlana die Schülerinnen einer voreingenommenen Lehrerin mit den Schülerinnen in der Parallelklasse (unterrichtet von einer unvoreingenommenen Lehrerin). Die Mädchen, die von der Lehrerin mit Vorurteil unterrichtet werden, schneiden im Mathe Test schlechter ab, als Schülerinnen in der Parallelklasse – dies auch wenn beide Gruppen vor der Mittelschule gleich gute Leistungen hatten. Für Jungs findet Carlana auch hier keinen Effekt, was darauf schliessen lässt, dass Mädchen sich eher von negativen Vorurteilen der Lehrpersonen beeinflussen lassen.

Weder für Schülerinnen noch für Schüler findet Carlana übrigens einen negativen Effekt von einer voreingenommen Literatur Lehrerin, die implizit eher Mädchen als Jungs mit Literatur verknüpft.

Eine weitere Variable, auf die Michela Carlana einen Effekt misst, ist die Wahl der weiterführenden Schule. In ähnlichen Vergleichen wie bereits erwähnt, zeigt die Autorin, dass Mädchen, die von voreingenommenen Mathe Lehrerinnen unterrichtet wurden, viel eher einen Schulzweig wählen, der in eine Lehre anstelle einer universitären Ausbildung mündet.

Woher kommt das Ergebnis?

Was führt jetzt eigentlich genau dazu, dass Mädchen so viel stärker auf voreingenommene Lehrpersonen reagieren? Carlana argumentiert, dass vor allem mangelndes Selbstbewusstsein in Mathe für Mädchen entscheidend ist. Die Autorin zeigt, dass Mathe Lehrerinnen mit Vorurteilen das sowieso schon niedrigere Selbstvertrauen von Mädchen in ihre mathematischen Fähigkeiten zusätzlich weiter senken. Auch dies wiederum, wenn diese Schülerinnen gar nicht schlechter sind als die Mädchen in ihrer Parallelklasse. Hier bleibt zudem noch festzuhalten, dass vor allem diejenigen Mädchen, die schon vor der Mittelschule weniger gut in Mathematik waren, am stärksten auf Vorurteile reagieren. Dies ist besonders bei der Wahl der weiterführenden Schule der Fall. Eine mathematisch begabte Schülerin lässt sich deutlich weniger bis gar nicht beeinflussen – weder in ihren Leistungen noch in ihrer Schulwahl. Marie Curie hätte ihren Nobel Preis somit so oder so bekommen.

Wieso ist diese Studie relevant im Alltag?

Es ist zwar schwierig zu sagen, wie viel Prozent des rohen Lohnunterschieds von einer voreingenommenen Mathe Lehrerin beeinflusst werden. Dennoch zeigt Michela Carlana in dieser Studie sehr eindrücklich, dass die Vorurteile von Lehrerinnen und Lehrer grosse Auswirkungen sowohl auf direkte Testergebnisse, als auch auf zentrale zukünftige Lebensentscheidungen haben können. Für den Alltag sind deshalb wahrscheinlich vor allem zwei Dinge zu empfehlen: Sich seiner eigenen Vorurteile häufiger bewusst zu werden, sowie Mädchen, Töchter, Freundinnen und Schülerinnen in ihren mathematischen Fähigkeiten positiv zu ermutigen.

Zum Weiterlesen:

Das Paper von Michela Carlana:

Carlana, Michela. 2019. “Implicit stereotypes: Evidence from teachers’ gender bias.” The Quarterly Journal of Economics: 1163-1224. Zu finden hier: https://economics.harvard.edu/files/economics/files/ms29668.pdf

Der Implicit Association Test (IAT):

Über Project Implicit kann man einen kostenlosen IAT machen. Der “Gender-Science IAT” ist sehr ähnlich zum IAT in Michela Carlanas Studie: Zu finden hier: https://implicit.harvard.edu/implicit/takeatest.html

Obwohl wir uns lange und intensiv mit dieser Studie auseinandergesetzt haben, ist auch unser Ergebnis im IAT eine „moderate Assoziation zwischen Männern und Naturwissenschaften, und Frauen und Geisteswissenschaften“ (die zweitstärkste Vorurteils Kategorie, nach „starker Assoziation“). Die Mathe Lehrerinnen in der Carlanas Studie sind übrigens deutlich weniger voreingenommen als der italienische Durchschnitt – wahrscheinlich, weil sie selber das Stereotyp überwinden mussten.