"Ich nenne das: Regieren durch Angst" – Seite 1

Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel findet, dass die Politik in der Pandemie zu viel verbietet und das Parlament zu schwach ist. Er befürchtet bleibende Schäden für die Demokratie.

ZEIT ONLINE: Herr Merkel, Sie glauben in der Corona-Krise einen "illiberalen Verbotspopulismus" zu beobachten. Was meinen Sie damit?

Wolfgang Merkel: In einer freien, demokratischen Gesellschaft sollte es so wenige Verbote geben wie nötig und möglich. Was wir seit Beginn der Corona-Krise aber beobachten, ist ein Überbietungswettbewerb im Verbieten. Ein Wettlauf um die härteste Linie. Umfragen belohnen diejenigen, die die meisten Verbote fordern. Dafür steht vor allem der bayerische Ministerpräsident Markus Söder.

ZEIT ONLINE: Aber es ist doch noch kein Populismus, die Seuche mit harten Maßnahmen unter Kontrolle bringen zu wollen.

Merkel: Populistisch ist es, wenn Politiker nicht deshalb Verbote fordern und durchsetzen, weil sie unbedingt nötig sind. Sondern weil sie dafür vom Wähler belohnt werden. Wir wissen in dieser Krise bei vielen Maßnahmen gar nicht genau, was wie wirkt, was wirklich notwendig ist und was nicht. Es gibt aber einen Anreiz für die Politiker, im Wettlauf um die Wähler eher mehr zu verbieten, als unbedingt sein muss. Das ist das illiberale daran.

ZEIT ONLINE: Die Politiker sind also besonders streng, weil sie sonst von den ängstlichen Wählerinnen und Wählern bestraft werden.

Merkel: Ich nenne das: Governance by Fear, Regieren durch Angst. Damit meine ich nicht die  "irrationale Angst" der Corona-Leugner und Verschwörungsgläubigen. Sondern die "rationale Angst", die Wissenschaftler produzieren und die die Politiker zur Legitimation ihrer Politik nutzen. Die Epidemiologie arbeitet mit Hochrechnungen über den Pandemieverlauf, die sie in verschiedene Szenarien von harmlos bis besonders schlimm einteilt. Die Politik wiederum orientiert sich dann vor allem an den Worst Cases, den schlimmsten Szenarien, weil sie diese ja unbedingt verhindern muss, der humanitären Sache wegen und um nicht abgewählt zu werden. Deshalb ist den Regierungen auch nicht der Virologe Hendrik Streeck, der eher für moderate Eingriffe ist, die wissenschaftliche Referenz, sondern der pessimistischere Christian Drosten. Mit dessen Sichtweise lassen sich harte Eingriffe viel besser begründen. Aus dieser Spirale ergibt sich eine Übervorsicht, eine Tendenz, die Freiheit lieber einmal zu viel einzuschränken aus Angst, die Sicherheit sonst zu gefährden.

ZEIT ONLINE: Aber die Kritik am Beherbergungsverbot zeigt doch gerade, dass der Widerstand gegen Verbote eher zunimmt.

Merkel: Es ist ein Sättigungsgrad in der Bevölkerung erreicht. Sie ist jetzt ein halbes Jahr lang dauernd mit apokalyptischen Szenarien und ständig wechselnden Berechnungen und Regeln beschossen worden, das macht auf Dauer müde.  Es senkt auch die Bereitschaft, sich immer an alle neuen Regeln zu halten. Apokalyptik lässt sich auf Dauer nicht durchhalten. Tritt sie trotz wiederholter Voraussagen nicht ein, sinkt die Folgebereitschaft in der Bevölkerung.

Das Beherbergungsverbot ist aus Sicht vieler undurchschaubar. Und auch die Wissenschaft stützt es kaum, das ist so erkennbar irrational, dass sich die Leute einfach nicht dran halten wollen. Die Wissenschaft verweigert der Maßnahme die Legitimation, das wird riskant für die Politik.

ZEIT ONLINE: Was wäre denn ein besserer Weg, um die von Corona schon so erschöpfte Bevölkerung dazu zu bringen, sich an die Regeln zu halten und verantwortungsvoll zu handeln?

Merkel: Die Appelle nutzen sich natürlich ab, die Wiederholung führt zur Abstumpfung. Wenn die Kanzlerin sich hinstellt und vorrechnet, wo genau die Infektionszahlen an Weihnachten liegen könnten, dann suggeriert sie damit eine Präzision und eine Eindeutigkeit, die es gar nicht geben kann. Es kann in der Pandemie immer auch anders kommen, das schlimmste Szenario muss nicht eintreten. Falls es wirklich schlimm werden sollte, fürchte ich, dass die Folgebereitschaft dann geringer ist, weil die Leute sagen: Ja, das erzählt ihr uns doch seit Monaten. So schlimm ist es nie gekommen.

ZEIT ONLINE: Politikerinnen und Politiker sollten also weniger apokalyptisch über die Seuche reden. Sondern wie?

Merkel: Sie sollten endlich aufhören, nur über den alarmistischsten Indikator zu reden: die Infektionszahlen. Viele Experten sagen schon lange, dass das völlig unzureichend ist. Aber überall, in jeder Tagesschau, geht es fast nur um diese Infektionszahlen, die dann noch nicht mal ins Verhältnis zur gestiegenen Anzahl der Tests gestellt werden. Das rüttelt am Seriösen.

ZEIT ONLINE: Fürchten Sie auch für die jetzt anstehende Verhandlungsrunde der Regierungschefs zu viel Apokalyptik und zu viele Verbote?

Merkel: Da bin ich mir nicht so sicher. Der Widerstand gegen das unsinnige Beherbergungsverbot ist so groß, dass das zu einer Art Ausnüchterung führen könnte und die Politik nicht noch weiter in den Verbotsaktivismus abrutscht. Jetzt gibt es die Chance auf eine nüchternere Corona-Politik, die wieder den besten Argumenten folgt und nicht der größten Furcht.

"Das wäre das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen"

ZEIT ONLINE: Nun entscheiden wieder die Regierungschefs und nicht die Parlamente, finden Sie das richtig?

Merkel: Nein. Wir sind nicht mehr im März, wo man wenig wusste und die Regierung tatsächlich schnell und hart reagieren musste. Das ist jetzt anders. Warum überprüfte das Parlament im Spätsommer nicht das, was im vergangenen halben Jahr unter hohem Zeitdruck beschlossen wurde? Das ist nicht geschehen. Die Corona-Gesetze müssten klassische Sunset Laws sein, Gesetze, die von allein wieder auslaufen, werden sie nicht nach einer erneuten ordentlichen parlamentarischen Debatte beschlossen. Der Parteivorsitzende der Grünen, Robert Habeck, hat den bemerkenswerten Satz gesagt, das sei jetzt nicht die Stunde der Opposition, sondern die der Verantwortung. Als Demokratieforscher sage ich: Es wäre die Verantwortung der Opposition, auch in der Krise nicht zu verschwinden. Sie muss die Regierung im Parlament kontrollieren und mögliche Politikalternativen einbringen. Wenn sie ihre Rolle nicht wahrnimmt, räumt sie das Feld für die Verschwörungsgläubigen und obskuren Rechtspopulisten innerhalb und außerhalb der Parlamente, die die Rolle dann gern übernehmen.

ZEIT ONLINE: Aber die Opposition hat doch gearbeitet. Die FDP hat mehrmals beantragt, die Feststellung der pandemischen Lage, die Voraussetzung für die Macht der Regierung ist, zu beenden. Darüber wurde im Parlament gestritten und am Ende hat die FDP keine Mehrheit bekommen. Außerdem haben die Sonderrechte der Regierung ja eine Auslaufklausel, wie Sie sie fordern, nämlich zum 31. März 2021.

Merkel: Der Versuch der FDP kam spät, sie stand allein unter den demokratischen Parteien. Die Auslaufklausel zum 31. März scheint mir auch sehr lang. Und wissen Sie, was ich besonders merkwürdig finde?

ZEIT ONLINE: Was denn?

Merkel: Dass gerade jene, die sich sonst besonders für die Demokratisierung der Demokratie einsetzen, für Deliberation, Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung, unter dem Druck der Krise plötzlich zu leidenschaftlichen Exekutivbefürwortern geworden sind.

ZEIT ONLINE: Wäre es denn besser und praktikabel, wenn die Parlamente über die Details entscheiden, die bisher bei den Regierungen liegen? Wer wo einreisen darf, wo welche Maskenpflicht gilt und ob man sich privat nun zu zehnt oder zu fünft treffen darf?

Merkel: Natürlich nicht. Aber für die großen Linien ist das Parlament zuständig. Es hat den ganzen Sommer Zeit gehabt, um darüber zu streiten, welche Grundrechtseinschränkungen wirklich nötig sind und was man machen sollte, wenn die Zahlen, wie es jetzt der Fall ist, wieder steigen. Das ist einfach nicht passiert. Jetzt rutscht man wieder in einen Zeitdruck hinein, in dem das Parlament der Exekutive nur hinterherlaufen kann. Zu oft darf man in einer Demokratie Grundrechte nicht suspendieren.

ZEIT ONLINE: Sie befürchten, dass dieses Durchregieren in der Pandemie nun auch in anderen Politikbereichen Schule macht. Warum?

Merkel: Wenn Deutschland in der Viruskrise vergleichsweise gut abschneidet, lässt sich argumentieren, dass es dann auch für die größere Krise, die Klimakrise, einen entsprechenden Notstandsmodus braucht. Dass störende Vetospieler, auch die Parlamente, teilentmachtet werden. Das wäre ein Programm zur subtilen Erosion auch etablierter Demokratien.

ZEIT ONLINE: Dass sich die Macht vom Parlament zur Exekutive verschiebt, ist ja nicht nur in der Corona-Krise so. Generell rückt das direkte Verhältnis zwischen Regierungen und Bürgern ins Zentrum der Politik und verdrängt das Parlament.

Merkel: Das stimmt, und es ist ein riesiges Problem. Weil sich dann Politik viel leichter von oben orchestrieren lässt, weil sich die Regierenden die Zustimmung zwischen den Wahlen einfach über Umfragen holen können. Man muss nicht bösartig sein, um darin ein antiliberales Muster zu erkennen: charismatische Führer und folgebereite Bevölkerung. Ich kann nur sehr davor warnen, die Kräfte, die das verhindern können, das Parlament und Opposition, absichtlich oder fahrlässig zu schwächen. Und die Gerichte! Einer der stärksten und positivsten Akteure in der Corona-Krise waren bisher die Verwaltungsgerichte, die immer wieder die Regierungen zurückgepfiffen und ihre Verordnungen kassiert haben. Eine Art Ersatzopposition.

ZEIT ONLINE: Was ist Ihre größte Sorge?

Merkel: Dass wir in den komplexen Krisen des 21. Jahrhunderts das demokratische Zeitalter verlassen und Politik nicht mehr nach dem Modus der Repräsentation machen, sondern nach dem der Wahrheit. Und die Wahrheitslieferanten sind die Wissenschaften. "Science has told us", sagen die Klimaaktivsten. Als gäbe es nur eine wissenschaftliche Wahrheit. Der Wissenschaft wächst hier eine Rolle zu, die undemokratisch wird. Denn wenn es nur noch darum geht, bestimmte wissenschaftlich definierte Ziele zu erreichen, sind die Verfahren und Institutionen der Politik nur noch Mittel zum Zweck. Dabei sind vor allem sie es, die die Demokratie ausmachen.

ZEIT ONLINE: Eine negative Folge der Corona-Krise könnte also sein, dass in der Politik nur noch wichtig ist, was hinten herauskommt, wie Helmut Kohl sagte, und nicht mehr, wie es zustande kommt.

Merkel: Ja. Das wäre das Ende der liberalen Demokratie, wie wir sie kennen und schätzen.