Deutsche Geschichte:Das Einheits-Gold wird braun

Wahlkampfauftakt AfD Hessen

Wer AfD wählt, erlebt, dass seine Stimme mehr Gewicht hat: Sie hat Schockkraft.

(Foto: dpa)

Die Wahlergebnisse 30 Jahre nach dem Fall der Mauer zeigen, wie gravierend die Fehler in der Nachwendezeit waren.

Kolumne von Heribert Prantl

Die deutschen Farben sind nicht einfach nur Farben: Wer die Symbolik liebt, der kann die Zeit von 1949 bis 1989, den Weg der Bundesrepublik bis hin zur Wiedervereinigung, anhand von Schwarz, Rot und Gold beschreiben: Die Nachkriegsgeschichte beginnt mit dem Schwarz der CDU Adenauers und der Eingliederung Westdeutschlands in das westliche Bündnis. Es folgt das Rot der Brandt-SPD mit der neuen Ostpolitik. Dann kommt das Gold der Wiedervereinigung, die vor 30 Jahren mit dem Fall der Mauer begann. Schwarz, Rot, Gold: Das ist die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte. In das Gold des glückseligen Jubels von 1989 drängen sich aber seit Jahren immer mehr braune Streifen. Sie werden immer fetter. Das Gold wird braun. Das ist die bittere Feststellung zum 30. Jubiläum.

Vor 30 Jahren verlas Günter Schabowski, Sprecher des SED-Politbüros, vor den Fernsehkameras etwas verwirrt den Zettel, der die Reisefreiheit für die Bürgerinnen und Bürger der DDR proklamierte. Am Abend dieses Tages öffneten sich die Grenzübergänge - die Mauer war offen. Jeder, der diesen 9. November 1989 erlebt hat, weiß, wo er ihn erlebt hat. Dieser Tag gehört zu den Tagen, an denen sich die kleine persönliche Geschichte mit der Weltgeschichte verbindet: Der eine feierte Geburtstag, der andere hatte sich scheiden lassen, der Nächste landete, von einer Fernreise zurückkommend, gerade auf dem Flughafen: Und weil sich der Ausstieg verzögerte, wurden die Bildschirme heruntergeklappt - und da sah man die unwirklichen, unglaublichen, freudetaumelnden Fernsehbilder aus Berlin.

Die Montagsdemonstrationen in der DDR hatten in wenigen Wochen die Mauer durchbrochen. Es war nicht das Rad der Geschichte, das sich gedreht hatte, es waren die Menschen, die sich etwas getraut hatten. Aber die Traute der DDR-Menschen wurde nicht nutzbar gemacht für die deutsche Demokratie. Dieser Mut wurde alsbald weggeschoben und eingemottet. Die Einheit wurde vom Westen bürokratisch glanzvoll bewerkstelligt.

Zwei Optionen hatte das Grundgesetz bereitgehalten, um die Einheit ins Werk zu setzen: den Beitritt der ostdeutschen Bundesländer nach Artikel 23 und die Neugründung Deutschlands durch eine neue Verfassung gemäß Artikel 146 Grundgesetz. Damit hätte man die Erfahrungen der DDR-Deutschen in ein überarbeitetes Grundgesetz einbringen können. Die Kritiker des Artikels 23 hatten einen schönen Slogan ("Kein Anschluss unter dieser Nummer"), aber keine Mehrheit, auch nicht im Osten, wo man den schnellen Weg zu Mark und Wohlstand wollte. Und im Westen war die Veränderungsbereitschaft gleich null. So wurde auch noch der Auftrag, den der Einigungsvertrag stellte, sich "mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen", 1992/93 in der Verfassungskommission abgewimmelt. Es war eine Kommission zur Beerdigung von Reformanträgen.

Alles ging seinen sorgfältigen bürokratischen Gang: Die DDR-Wirtschaft wurde liquidiert und von der Treuhand exekutiert. Die führenden Schichten des Landes wurden deklassiert. Nicht nur die DDR-Kader waren davon betroffen, sondern auch die Eliten in Wirtschaft und Kultur. Es gab nichts Richtiges mehr im Falschen. Die neuen Bundesländer wurden von den West-Eliten kolonisiert. Es lag, wie Historiker Peter Bender schrieb, "wenig Weisheit in der Art, wie die Deutschen vereinigt wurden". Deindustrialisierung und Privatisierung führten zu hoher Arbeitslosigkeit. So änderte sich für die Ostdeutschen fast alles, für die Westdeutschen fast nichts.

Die Erinnerung an die Zeit vor 30 Jahren, als die Deutschen das glücklichste Volk der Erde waren, ist blass geworden. Bei den Wahlen in den neuen Bundesländern, zuletzt in Thüringen, wählen immer mehr Menschen rechtsaußen; zuletzt war es in Thüringen jeder vierte. Die AfD ist eine Partei, die es zwar erst seit sechs Jahren gibt, die aber in dieser Zeit immer radikaler und, zumal in Thüringen, immer nazistischer wurde. Björn Höcke, ihr Vorsitzender dort, schwadroniert vom tausendjährigen Reich. Warum schreckt das die Wähler nicht ab? Wer AfD wählt, erlebt, dass seine Stimme mehr Gewicht hat: Sie hat Schockkraft. Der einst von der DDR proklamierte Antifaschismus hat keine Spuren hinterlassen, wenig Widerstandskräfte aufgebaut. Vielleicht ist es sogar so, dass etliche AfD-Wähler sich mit ihrer Stimme nachträglich an dieser nominell antifaschistischen DDR, die sich so widerstandslos hat abwickeln lassen, rächen wollen - dafür, dass sie sich so leicht hat abwickeln lassen. Nie zuvor wurde ein Staat so penibel aufgelöst, selten gab eine Diktatur so friedlich den Löffel ab. Aber die Sieger in der DDR von 1989 fühlten sich nicht lange als Sieger. Der Euphorie folgte Depression, der Sieger mutierte zum Verlierer.

Es erging vielen Menschen in den neuen Bundesländern so, wie es der Volksarmee der DDR am Ende ergangen war. Egon Bahr hat deren Abwicklung wie folgt beschrieben: Es wurde "übernommen, verschrottet, eingeschmolzen, abgewickelt, aufgelöst, übergeben. Insofern passierte der NVA nichts anderes als dem Land und seinen Menschen insgesamt". Am letzten Tag der DDR, so Bahr, verweigerte die westdeutsche Seite der ostdeutschen den symbolischen Akt der Würde, die alte Fahne einzuholen und die neue zu hissen. Die bundesdeutsche Politik beantwortete den Mut der Demonstranten, aufzubegehren, den Mut der DDR-Machthaber und der Volkspolizei, nicht auf sie zu schießen - mit Demütigung.

In den ersten 20 Jahren nach der Wende profitierte von diesem Gefühlssturz die PDS, die heutige Linke. Heute profitiert davon auch und vor allem die AfD. Sie potenziert den alten Frust mit den neuen Gehässigkeiten gegen Flüchtlinge. Sie verwandelt die erlittenen Beitrittsverletzungen in die Verletzung derer, die jetzt hier Zutritt haben möchten. Sie münzt die erlittenen Demütigungen um in aktive Demütigung von Minderheiten. Aber das schafft keine Wiedergutmachung. Es ist eine marodierende Schlechtmacherei, die die alten Kränkungen wie ein Virus auf die jungen Leute überträgt, sie mit Hass ansteckt und Heilung verhindert. Das diskreditiert die Einheit. Es ist Zeit, das Gold zu polieren.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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