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Fall Muhammad Gulzar Europaparlamentarier fordern EU-Untersuchung der Schüsse auf Migranten

Recherchen des SPIEGEL legen nahe, dass griechische Soldaten im März an der türkischen Grenze einen Migranten erschossen haben. Nun fordern Politikerinnen und Menschenrechtler Konsequenzen.
"So ein Vorfall darf nicht wieder passieren": Migranten am griechischen Grenzzaun

"So ein Vorfall darf nicht wieder passieren": Migranten am griechischen Grenzzaun

Foto:

CANSU ALKAYA/ REUTERS

Mehr als 100 Abgeordnete des Europäischen Parlaments fordern in einem Brief an die EU-Kommission eine Untersuchung der tödlichen Schüsse an der türkisch-griechischen Grenze .

"Wir erwarten, dass die Kommission ihrer Verantwortung gerecht wird und eine gründliche Untersuchung einleitet", heißt es in dem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt. Würden die griechische Regierung und die Kommission auf den Bericht nicht reagieren, bedeutete dies eine "Straflosigkeit, die in einer Union, die sich auf die Achtung der Rechtsstaatlichkeit gründet, nicht toleriert werden kann."

Der SPIEGEL hatte in einer gemeinsamen Recherche mit den Teams von Forensic Architecture, Bellingcat und Lighthouse Reports den Tod des pakistanischen Migranten Muhammad Gulzar rekonstruiert. Die Rechercheurinnen und Rechercheure konnten Gulzars Autopsiebericht einsehen, sprachen mit Augenzeugen und analysierten rund acht Stunden Videomaterial.

Die Rekonstruktion des 4. März weist detailliert nach, dass mit scharfer Munition geschossen wurde, höchstwahrscheinlich von griechischen Grenzern. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde Gulzar von der Kugel eines griechischen Soldaten getroffen. Sechs weitere Migranten wurden an dem Tag am Grenzzaun innerhalb von 37 Minuten verwundet. Mehrere Augenzeugen berichteten, dass griechische Grenzer auf sie geschossen hätten.

DER SPIEGEL

Die griechische Regierung wies die Berichte pauschal als "Fake News" zurück, ohne auf die Vorwürfe einzugehen. Griechenland habe das "Recht, seine Grenzen zu schützen", heißt es in einem schriftlichen Statement.

Vielen EU-Parlamentariern genügt diese Erklärung nicht. Mit den Fake-News-Vorwürfen gegen investigative Journalisten orientiere sich die griechische Regierung eher an Donald Trump als an den europäischen Werten und Gesetzen, sagt Erik Marquardt, Europaparlamentarier der Grünen. "Wenn die Kommission und die griechische Regierung die Vorgänge nicht aufklären wollen, brauchen wir einen Untersuchungsausschuss im Europäischen Parlament."

Den Brief haben Abgeordnete der Grünenfraktion, der Sozialdemokraten, der Linken und der liberalen Renew-Europe-Fraktion unterschrieben.

Auch Konservative fordern eine Untersuchung, allerdings von griechischen Behörden, nicht von der EU-Kommission. Die Ereignisse müssten in Griechenland rechtsstaatlich aufgearbeitet werden, sagt Lena Düpont, CDU-Europaabgeordnete in der EVP. Sollte sich ein fatales Fehlverhalten der griechischen Grenzschützer bestätigen, müsse dies disziplinar- und strafrechtliche Konsequenzen haben.

In Griechenland hat die NGO Greek Helsinki Monitor inzwischen eine Beschwerde beim Staatsanwalt des Obersten Gerichtshofs hinterlegt. "Sie verpflichtet die griechische Justiz, die Untersuchung durchzuführen, die sie von sich aus bereits hätte einleiten sollen", sagt Panayote Dimitras, ein Sprecher der NGO.

Luise Amtsberg, Sprecherin für Flüchtlingspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, sieht auch die Bundesregierung in der Pflicht. Sie solle sich dafür einsetzen, dass die griechische Regierung die Vorgänge lückenlos aufklärt. Die griechische Reaktion auf Erdoğans Provokationen sei gewaltvoll und völkerrechtswidrig gewesen, sagt Amtsberg. "Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass vom Schutz der europäischen Grenze niemals eine Gefahr für Menschenleben ausgehen darf."

Gerald Knaus, Berliner Politikberater und Ideengeber des Flüchtlingsabkommens zwischen EU und Türkei, fürchtet, dass Gewalt an europäischen Außengrenze zur Normalität werden könnte. "So ein Vorfall darf sich nicht wiederholen, aber er wird sich wiederholen, wenn es uns nicht gelingt, ein faires, tragfähiges Asylsystem in Europa zu etablieren", sagt Knaus.

Die EU dürfe Griechenland bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage nicht allein lassen und müsse Flüchtlinge aus Griechenland über den Kontinent verteilen. "Und sie muss mit der Türkei sprechen, wie das Migrationsabkommen gerettet werden kann."

"Ob die EU-Kommission noch bereit ist, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, wird sich auch am Fall Muhammad Gulzar zeigen"

Karl Kopp, Pro Asyl

In die Kritik gerät auch Ursula von der Leyen. Sie sei nun unmittelbar gefordert, endlich ihrer Rolle als Hüterin der Verträge nachzukommen, sagt Birgit Sippel, Europaabgeordnete der SPD. Die EU-Kommissionspräsidentin habe noch Anfang März Griechenland als "Schild" Europas bezeichnet und auch zu ihrer eigenen Zusage eines "New Pact on Migration" sei von ihr nichts zu hören. Von der Leyen dürfe den Konflikt mit nationalen Regierungen nicht scheuen.

Von der Leyen habe bei ihrem Besuch am 3. März am Evros das gewaltsame Vorgehen der griechischen Grenzer gegen Flüchtlinge sogar noch gelobt, sagt Karl Kopp, Europadirektor von Pro Asyl. Eine internationale Untersuchung sei unerlässlich. "Ob die EU-Kommission noch bereit ist, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, wird sich auch am Fall der Tötung von Muhammad Gulzar zeigen."

Die Europäische Kommission hatte Griechenland bereits im Dezember aufgefordert, eine Untersuchung zum Verhalten der griechischen Grenzschützer einzuleiten. Damals hatte der SPIEGEL über Videos berichtet, auf denen mutmaßlich griechische Grenzschützer Migranten auf die türkische Seite der Grenze zurückschleppen. Solche illegalen Pushbacks finden in Griechenland offenbar seit Jahren systematisch statt. Die griechische Regierung bestreitet das.