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Privilegien für die Unterwelt

Von Christian Pinter

Wissen
Votivtafel aus Eleusis (4. Jh. v. Chr.), "den beiden Göttinnen gestiftet" von einer Frau namens Ninnion. Das Bild zeigt vermutlich Szenen der Mysterien. Demeter sitzt rechts oben auf dem Thronsessel, davor steht Persephone mit Fackeln in den Händen.
© Zde, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons (Ausschnitt)

Die zukünftige europäische Kulturhauptstadt Elefsína war in der griechischen Antike das Zentrum eines denkwürdigen Mysterienkults.


Eleusis, neugriechisch: Elefsína, sollte heuer eine von drei europäischen Kulturhauptstädten sein. Der Covid-19-Pandemie wegen wurde der Termin aber in die Zukunft gerückt - und zwar gleich ins Jahr 2023. Die Industriemetropole nordwestlich von Athen beherbergt ein Ausgrabungsgelände mit freigelegten steinernen Sitzreihen, Säulenstümpfen und Gebälkteilen, ein Museum mit weiteren Funden schließt sich an. Dieser einstige Kultplatz zog in der Antike regelmäßig eine riesige Schar von Menschen an - und das sicher mehr als tausend Jahre lang!

Die Griechen dachten mit Grauen ans Dasein nach dem Tod. Das uns himmlisch anmutende Elysion, ein Land ohne Winter, in dem das Leben leicht dahinfloss, stand nur Götterlieblingen offen. Der uns an die Hölle erinnernde Tartaros, ein Ort der Qualen, drohte bloß den schlimmsten Frevlern. Sofern sie nicht an die Wiedergeburt glaubten, war den Griechen somit der Hades gewiss: Ein ödes, modriges, düsteres Reich, in dem die blutleeren Schatten der Verstorbenen ein lustloses Dasein fristeten. Beherrscht wurde diese Unterwelt vom Gott Hades, einem Bruder des Zeus.

Große Faszination übten jene mythischen Gestalten aus, die aus dem Hades zurückgekehrt waren - wie der begnadete Sänger Orpheus oder die jugendliche Persephone. Sie war eine Tochter des Zeus und seiner Schwester Demeter. Demeter galt als die gütige, vielnährende Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit. Manche sahen sie im Sternbild Jungfrau repräsentiert. Auch in Mesopotamien hatte man diese Sterne mit dem Ackerbau verbunden, darin die "Korn-Göttin" Šala, eine Kornähre oder eine Ackerfurche gesehen. Der helle Hauptstern der Jungfrau heißt bis heute Spica (lateinisch: Kornähre).

Erde und Unterwelt

Demeter, gezeichnet nach einem Relief aus Pompeji (aus "Meyers Konversationslexikon" von 1888).
© Autor unbekannt/Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Demetria, Demi, Demetrius oder Dimitri: Diese Vornamen gehen letztlich auf Demeter zurück. Einst hatte sie den Zeus-Sohn Iason auf einem frisch gepflügten Feld geliebt und danach den Plutos geboren. Als Gott des Reichtums verschmolz dieser später mit dem erwähnten Unterweltgott zu Hades-Plutos - schließlich lagerten ja auch die wertvollen Bodenschätze in seinem unterirdischen Reich. Der Name des chemischen Elements Plutonium rührt, über Zwischenstationen, von ihm her.

Demeters schon erwähnte Tochter Persephone wurde auch Kore (Mädchen) genannt: Ein Wort, von dem sich indirekt die Vornamen Korinna, Corina oder Coco ableiten. Schon Hesiod erwähnt den Raub der Persephone um 700 v. Chr. in seiner "Theogonie". Der "Homerische Hymnos an Demeter" beschreibt die Tat und ihre Folgen ausführlich. Er ist Teil einer Sammlung von Gedichten, die nicht von Homer, sondern vor allem aus dem 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. stammen.

Demnach pflückte die junge Persephone einst Krokus, Rosen, Hyazinthen und Narzissen. Der duftende Hauch der farbigen Kelche durchwürzte alles: den Olympos, die Erde und die weiten Flächen des Meeres. Doch dann fuhr der Gott Hades aus der Erde Schlund und raubte das Mädchen - mit Einverständnis des Zeus. Persephone sollte fortan gemeinsam mit Hades im nebeligen Dunkel der Toten herrschen.

Hades raubt Persephone: Vasenbild aus Taranto, Italien (4. Jh. v. Chr.).
© Dosseman, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Demeter hörte die Schreie ihrer Tochter aus der Ferne und suchte ruhelos nach ihr: neun Tage und, im Fackelschein, neun Nächte lang. Sie verschmähte die Götterspeisen Nektar und Ambrosia. Niemand wusste ihr Auskunft über Persephones Verbleib zu geben - mit Ausnahme des alles sehenden Sonnengotts Helios. Mit noch schwärzerem Gram, so der Hymnos, und in Gestalt einer alten Frau gelangte Demeter zum Palast des Königs Keleos von Eleusis. Sie ruhte sich an einem ölbaumbeschatteten Brunnen aus. Dorthin kamen auch die Königstöchter, um Wasser zu holen. Die alte Frau erzählte ihnen, sie wolle als Dienerin oder Amme aufgenommen werden, und folgte den Mädchen in den Königspalast.

Hier wollte sie weder essen noch vom Wein kosten, sie erbat sich bloß Kykeon: ein Mischtrank aus Getreide und Wasser. Dann bot sie an, den jüngsten Sohn der Königin sanft in ihren Armen zu wiegen. Sie wusch ihn mit Ambrosia. Unter Demeters Aufsicht wäre der Kleine wie ein göttliches Kind aufgewachsen: Um ihn unsterblich zu machen "legte sie den Säugling die Nächte über ins Feuer und befreite ihn auf diese Weise rundherum vom sterblichen Fleische", erzählt die "Bibliothek Apollodors".

Als die Königin das sah, schrie sie entsetzt auf. Das wiederum ergrimmte die Göttin, die sich erst jetzt zu erkennen gab und ausrief: "Ich bin Demeter, die Ehrengekrönte, die Göttern und Menschen goldenen Segen verleiht und des Lebens seligste Freuden." Das Volk von Eleusis sollte ihr einen Tempel errichten: "Selber lehr’ ich euch dann der Orgien Feier, damit ihr meine Gottheit hinfort durch heilige Sühnung erflehet." Heute ist die Orgie eine maßlose oder ausschweifende Handlung, oft sexueller Natur. Doch damals bezeichnete orgion einen geheimen, religiösen Brauch.

Auch der neue Tempel linderte Demeters Schmerz nicht. Sie schenkte den Feldern keine Fruchtbarkeit mehr. Die Menschen darbten ein Jahr lang und wären fast verhungert. Auch den Göttern konnten sie nichts mehr opfern. Jetzt griff Zeus ein.

Drei Jahreszeiten

Die versöhnliche Übereinkunft lautete schließlich so: Persephone darf aus der Unterwelt wieder auferstehen und für zwei Drittel des Jahres zu ihrer Mutter zurückkehren. In ihrem Glück lässt Demeter dann Blumen und bald auch üppige Saaten sprießen. Den dritten Jahresteil aber muss Persephone in Hades’ Schattenreich verbringen. So ließen sich die Jahreszeiten erklären: Die Griechen kannten ursprünglich nur drei.

Relief mit Demeter (links) und Persephone, dazwischen Triptolemos als junger Mann. Römische Kopie eines griechischen Originals, gefunden in Eleusis.
© Metropolitan Museum of Art, CC BY 2.5, https://creativecommons.org/licenses/by/2.5, via Wikimedia Commons

Die nun glückselige Demeter stiftete die heiligen Weihen von Eleusis und machte zunächst Triptolemos damit vertraut. Er mag ein nobler Herr gewesen sein oder der älteste Sohn des Königs. Jedenfalls reichte ihm Demeter Getreidesamen und gebot ihm, die Menschen im Ackerbau zu unterrichten. Ihre Weihen jedoch blieben ein "hehres Geheim, das keiner verraten darf, noch erfragen, noch beklagen", so der Hymnos: "Ein heiliger Schauer ja bindet die Sprache." In Eleusis entstand ein bedeutender Mysterienkult. Das griechische mystérion bezeichnete eine kultische Feier für Eingeweihte. Heute wird das Wort "Mysterium" auch abseits des religiösen Kontexts verwendet, im Sinn von "Geheimnis", "Wunder" oder "Rätsel".

Nachdem Eleusis seine Unabhängigkeit verloren hatte, zählten dessen Mysterien zum Festzyklus Athens. Die großen Mysterien, teletai genannt, begannen meist im September - zur Mitte des Mondmonats Boëdromion. Sie dauerten neun Tage.

Im Nordwesten Athens lag ein Platz mit tonigem Boden. Er zog Töpfer an. Ton hieß im Griechischen kéramos (daher unser Wort "Keramik"). Das Töpferviertel nannte man deshalb Kerameikós, ebenso den dortigen Friedhof. Nach Tagen der Vorbereitung brach ein Festzug vom Friedhof Kerameikós auf. Er bestand aus tausenden Männern, Frauen und Sklaven. Sie mussten griechisch sprechen und durften nicht schuld am gewaltsamen Tod eines Menschen sein.

Die Prozession zog, vom obersten Priester und von Priesterinnen angeführt, die heilige Straße nach Eleusis entlang. Heilige Gegenstände wurden in deckelbewährten Körben mitgetragen. Ein solcher Korb hieß kistē. Die sprachliche Verwandtschaft zu unserer "Kiste" ist offensichtlich.

Auf dem gut 20 Kilometer langen Weg wurden Motive aus dem Demeter- und Persephone-Mythos nachgestellt. In Eleusis angelangt, fasteten die Teilnehmer einen Tag lang, wachten die Nacht durch und tranken Kykeon. Darin könnte sich ein psychotroper, also ein das Bewusstsein verändernder Wirkstoff befunden haben. Schließlich betrat man das wichtigste Gebäude des Tempelbezirks, das Telesterion: Es umschloss den kleinen, ältesten Demetertempel.

Die Ruinen des Telesterion in Eleusis.
© BishkekRocks, Public domain, via Wikimedia Commons

Diese mächtige Weihehalle wurde mehrmals vergrößert - unter anderem vom Architekten Iktinos, der auch am Bau des Parthenons der Athener Akropolis mitwirkte. Fackeln erhellten den Säulensaal, wobei gekreuzte Fackeln auch als Symbol der Göttinnen Demeter und Persephone galten.

Was im Telesterion genau geschah, lässt sich nur mit Unsicherheiten rekonstruieren. Denn das durfte bei Todesandrohung nicht verraten werden. Es könnte so gewesen sein: Der müde und gleichzeitig doch aufgewühlte Einzuweihende sah zwei Körbe vor sich. Dem schon erwähnten Deckelkorb kistē entnahm er heilige Gegenstände. Er hantierte damit und legte sie zunächst in den offenen, lilienförmigen Korb kalathos. Dann tat er sie zurück. Es mag sich hierbei um eine geschnittene Ähre sowie eine Reibschale samt Stößel gehandelt haben.

Kult des Korns

Der Kult sollte ursprünglich wohl Demeter gnädig stimmen, die ja das Wachstum des lebensnotwendigen Getreides garantierte. Die Getreideähre symbolisierte aber auch den Kreislauf der Natur: Obwohl sie letztlich abgeschnitten wird, steckt in ihrem Saatgut doch neues Leben: Leben und Tod gehören demnach zusammen.

Die Eingeweihten, die Mysten, verließen Eleusis mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Unklar bleibt, wie sie sich diese genau vorstellten. Empfanden sie sich fortan als besondere Menschen? Glaubten sie, wiedergeboren zu werden? Wähnten sie sich nun in einem besonderen Naheverhältnis zu den in der Unterwelt herrschenden Göttern Hades-Plutos und Persephone? Erwarteten sie deshalb Privilegien in deren Reich - und wenn ja, welche? Erhofften sie sich gar ewige Glückseligkeit im Jenseits?

Einer eleusinischen Inschrift zufolge verwandle das Mysterium den Tod von einem Übel in einen Segen. Wie Sophokles meint, seien jene dreimal selig, die erst nach der Schau der Weihen in den Hades hinabstiegen. Ihnen allein sei dort Leben beschieden, allen anderen widerfahre Übles. Der "Homerische Hymnos" rühmt das Mysterium so: "Glücklich jedoch, wer es sah von den erdebewohnenden Menschen! Denn wer die Weihen empfing, und wem das Heilige fremd blieb - nicht doch haben sie gleiches Geschick in dem Reiche der Toten."

Christian Pinter, geboren 1959, schreibt seit 1991 im "extra" über Astronomie und Raumfahrt. Im Internet: www.himmelszelt.at