Language of document : ECLI:EU:C:2021:473

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

10. Juni 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Allgemeines Verbrauchsteuersystem – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 33 Abs. 3 – Waren, die in einem Mitgliedstaat ‚in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sind‘ und zu gewerblichen Zwecken in einem anderen Mitgliedstaat in Besitz gehalten werden – Steuerschuldner der für diese Waren zu entrichtenden Verbrauchsteuer – Person, in deren Besitz sich die zur Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat vorgesehenen Waren befinden – Beförderer der Waren“

In der Rechtssache C‑279/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Rechtsmittelgericht [England und Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 19. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2019, in dem Verfahren

The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs

gegen

WR

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von WR, vertreten durch S. Panesar, Solicitor, und D. Bedenham, Barrister,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon als Bevollmächtigten, J. Simor, QC, und E. Mitrophanous, Barrister,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, J. Langer und J. Hoogveld als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch R. Lyal und C. Perrin, dann durch C. Perrin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Januar 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).

2        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen den Commissioners for Her Majesty's Revenue and Customs (Steuer- und Zollbehörde des Vereinigten Königreichs) und WR über die Rechtmäßigkeit eines an diesen gerichteten Verbrauchsteuerbescheids für Waren, die er in das Vereinigte Königreich verbracht hatte, ohne dass für sie ein gültiges Verwaltungsdokument ausgegeben worden war, aus dem hervorging, dass diese Beförderung in einem Verfahren der Steueraussetzung durchgeführt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 2 und 8 der Richtlinie 2008/118 lauten:

„(2)      Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, müssen die Voraussetzungen für die Erhebung von Verbrauchsteuern auf Waren, die der Richtlinie 92/12/EWG [des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1)] unterliegen (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt), harmonisiert bleiben.

(8)      Da es nach wie vor für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich ist, dass der Begriff der Verbrauchsteuer und die Voraussetzungen für die Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs in allen Mitgliedstaaten gleich sind, muss auf [Unions]ebene klargestellt werden, zu welchem Zeitpunkt die Überführung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr erfolgt und wer der Verbrauchssteuerschuldner ist.“

4        In Art. 1 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie heißt es:

„Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren … erhoben werden:

b)      Alkohol und alkoholische Getränke gemäß den Richtlinien 92/83/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 21)] und 92/84/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Annäherung der Verbrauchsteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 29)]“.

5        Art. 4 der Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie und ihrer Durchführungsbestimmungen gelten folgende Definitionen:

7.      Das ‚Verfahren der Steueraussetzung‘ ist eine steuerliche Regelung, die auf die Herstellung, die Verarbeitung, die Lagerung sowie die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die keinem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren unterliegen, unter Aussetzung der Verbrauchsteuer Anwendung findet.

11.      Ein ‚Steuerlager‘ ist jeder Ort, an dem unter bestimmten von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber in Ausübung seines Berufs hergestellt, verarbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden.“

6        Kapitel II („Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs, Erstattung und Steuerbefreiung“) der Richtlinie enthält einen Abschnitt 1 („Zeitpunkt und Ort der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs“), dessen Art. 7 bestimmt:

„(1)      Der Verbrauchsteueranspruch entsteht zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.

(2)      Als Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr im Sinne dieser Richtlinie gilt

a)      die Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren, einschließlich der unrechtmäßigen Entnahme, aus dem Verfahren der Steueraussetzung;

b)      der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung, wenn keine Verbrauchsteuer gemäß den geltenden Bestimmungen des [Union]srechts und des einzelstaatlichen Rechts erhoben wurde;

…“

7        In Art. 8 der Richtlinie 2008/118 heißt es:

„(1)      Steuerschuldner eines entstandenen Verbrauchssteueranspruchs ist:

a)      im Zusammenhang mit der Entnahme verbrauchsteuerpflichtiger Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a:

ii)      im Falle einer Unregelmäßigkeit bei der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren in einem Verfahren der Steueraussetzung nach Artikel 10 Absätze 1, 2 und 4 der zugelassene Lagerinhaber, der registrierte Versender oder jede andere Person, die die Sicherheit nach Artikel 18 Absätze 1 und 2 geleistet hat, und jede Person, die an der unrechtmäßigen Entnahme beteiligt war und wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Entnahme unrechtmäßig war;

b)      im Zusammenhang mit dem Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren nach Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe b: jede Person, die im Besitz der verbrauchsteuerpflichtigen Waren ist, oder jede andere am Besitz dieser Waren beteiligte Person;

(2)      Gibt es für eine Verbrauchsteuerschuld mehrere Steuerschuldner, so sind diese gesamtschuldnerisch zur Erfüllung dieser Steuerschuld verpflichtet.“

8        Kapitel IV („Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung“) dieser Richtlinie enthält einen Abschnitt 1 („Allgemeine Bestimmungen“), dessen Art. 17 Abs. 1 bestimmt:

„Verbrauchsteuerpflichtige Waren können in einem Verfahren der Steueraussetzung wie folgt innerhalb des Gebiets der Gemeinschaft befördert werden, und zwar auch dann, wenn die Waren über ein Drittland oder ein Drittgebiet befördert werden:

a)      aus einem Steuerlager zu

i)      einem anderen Steuerlager,

…“

9        Dieses Kapitel enthält einen Abschnitt 2 („Verfahren für die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung“), dessen Art. 21 vorsieht:

„(1)      Eine Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren gilt nur dann als in einem Verfahren der Steueraussetzung durchgeführt, wenn sie mit einem elektronischen Verwaltungsdokument erfolgt, das nach den Absätzen 2 und 3 erstellt wurde.

(2)      Für die Zwecke des Absatzes 1 dieses Artikels übermittelt der Versender den zuständigen Behörden des Abgangsmitgliedstaats unter Verwendung des in Artikel 1 der Entscheidung Nr. 1152/2003/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2003 über die Einführung eines EDV-gestützten Systems zur Beförderung und Kontrolle der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 2003, L 162, S. 5)] genannten EDV-gestützten Systems … einen Entwurf des elektronischen Verwaltungsdokuments.

(3)      Die zuständigen Behörden des Abgangsmitgliedstaats überprüfen elektronisch die Angaben in dem Entwurf des elektronischen Verwaltungsdokuments.

Sind diese Angaben fehlerhaft, so wird dies dem Versender unverzüglich mitgeteilt.

Sind diese Angaben korrekt, so weisen die zuständigen Behörden des Abgangsmitgliedstaats dem Dokument einen einzigen administrativen Referenzcode zu und teilen diesen dem Versender mit.

…“

10      Kapitel V („Beförderung und Besteuerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren nach der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“) der Richtlinie enthält einen Abschnitt 2 („Warenbesitz in einem anderen Mitgliedstaat“), dessen Art. 33 bestimmt:

„(1)      Unbeschadet des Artikels 36 Absatz 1 unterliegen verbrauchsteuerpflichtige Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sind, sofern sie zu gewerblichen Zwecken in einem anderen Mitgliedstaat in Besitz gehalten und dort zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen sind, der Verbrauchsteuer, die in diesem anderen Mitgliedstaat erhoben wird.

Als ‚Besitz zu gewerblichen Zwecken‘ im Sinne dieses Artikels gilt der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren durch eine Person, die keine Privatperson ist, oder durch eine Privatperson, sofern diese die Waren nicht für den Eigenbedarf erworben und, im Einklang mit Artikel 32, selbst befördert hat.

(3)      Steuerschuldner der zu entrichtenden Verbrauchsteuer ist entsprechend der in Absatz 1 genannten Fälle entweder die Person, die die Lieferung vornimmt oder in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden oder an die die Waren im anderen Mitgliedstaat geliefert werden.

(4)      Unbeschadet des Artikels 38 gilt der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden und anschließend innerhalb der [Union] zu gewerblichen Zwecken befördert werden, vor ihrer Ankunft im Bestimmungsmitgliedstaat nicht als solchen Zwecken dienend, wenn die Waren unter Einhaltung der in Artikel 34 festgelegten Formalitäten befördert werden.

…“

 Recht des Vereinigten Königreichs

11      Regulation 13(1) und (2) der Excise Goods (Holding, Movement and Duty Point) Regulations 2010 (Verordnung von 2010 über verbrauchsteuerpflichtige Waren [Besitz, Beförderung, Entstehung des Steueranspruchs]) (im Folgenden: Verordnung von 2010) sieht vor:

„1.      Werden verbrauchsteuerpflichtige Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden, zu gewerblichen Zwecken im Vereinigten Königreich in Besitz gehalten, um dort geliefert oder verwendet zu werden, entsteht der Steueranspruch zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Waren erstmals derart in Besitz gehalten werden.

2.      Entsprechend den in Absatz 1 genannten Fällen ist Steuerschuldner diejenige Person,

a)      die die Lieferung der Waren vornimmt,

b)      in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden oder

c)      an die die Waren geliefert werden.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12      Am 6. September 2013 wurde der von WR, einem selbstständigen Erwerbstätigen, gefahrene Lastkraftwagen (Lkw) bei seiner Ankunft im Hafen von Dover (Vereinigtes Königreich) von Beamten der United Kingdom Border Agency (Grenzbehörde des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: UKBA) angehalten. Der Lkw war mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren, nämlich 26 Paletten Bier (im Folgenden: fragliche Waren), beladen.

13      WR legte den UKBA-Beamten einen „Cargo Movement Requirement“-Frachtbrief (im Folgenden: CMR-Frachtbrief) vor, der auf der Grundlage des am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr in der durch das Protokoll vom 5. Juli 1978 geänderten Fassung ausgestellt war. Darin hieß es, dass für die fraglichen Waren ein elektronisches Verwaltungsdokument mit einem administrativen Referenzcode (Administrative Reference Code, im Folgenden: ARC) im Sinne von Art. 21 der Richtlinie 2008/118 ausgegeben worden sei. Versender sei ein Steuerlager in Deutschland und Empfänger die Seabrook Warehousing Ltd, ein Steuerlager im Vereinigten Königreich.

14      Die UKBA-Beamten konnten nach Abfrage im Exercise Movement and Control System – EMCS (System zur Kontrolle der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren) jedoch feststellen, dass der auf dem CMR-Frachtbrief angegebene ARC bereits bei einer anderen Bierlieferung für dasselbe Steuerlager im Vereinigten Königreich verwendet worden war. Nach ihrer Ansicht wurden die fraglichen Waren daher nicht in einem Verfahren der Verbrauchsteueraussetzung befördert, so dass mit ihrer Ankunft im Vereinigten Königreich ein Steueranspruch entstand. Unter diesen Umständen beschlagnahmten die UKBA-Beamten die fraglichen Waren sowie den Lkw, in dem diese befördert wurden.

15      Daraufhin erließ die Steuer- und Zollverwaltung zum einen gemäß Regulation 13(1) und (2) der Verordnung von 2010 einen Verbrauchsteuerbescheid über 22 779 Pfund Sterling (GBP) (etwa 26 400 Euro) (im Folgenden: streitiger Steuerbescheid) und setzte zum anderen gegen WR gemäß den Bestimmungen von Schedule 41 des Finance Act 2008 (Finanzgesetz von 2008) eine Geldbuße in Höhe von 4 897,48 GBP (etwa 5 700 Euro) fest.

16      Das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich) gab der Klage von WR gegen den streitigen Steuerbescheid und die Geldbuße statt. Nach Auffassung dieses Gerichts war WR nicht Mittäter des Schmuggelversuchs, selbst wenn er von der Verbrauchsteuerpflichtigkeit der fraglichen Waren gewusst haben sollte. Da er nicht auf das System zur Kontrolle der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren zugreifen könne, habe er keine Möglichkeit gehabt, zu überprüfen, ob der im CMR-Frachtbrief enthaltene ARC bereits verwendet worden sei. Darüber hinaus hätten die ihm vorliegenden Unterlagen nichts enthalten, was insoweit hätte Zweifel wecken können. Zudem sei WR nicht Eigentümer des Lkw gewesen und habe keine eigenen Rechte oder Interessen an den fraglichen Waren gehabt, da er sie nur gemäß den erhaltenen Anweisungen gegen ein Entgelt habe abholen und ausliefern sollen. Allein die Organisatoren des versuchten Schmuggels hätten zum Zeitpunkt der Beschlagnahme die tatsächliche und rechtliche Verfügungsgewalt über die fraglichen Waren gehabt. Das Gericht stellte ferner fest, dass WR die Person, die ihn mit der Beförderung dieser Waren beauftragt habe, über die Beschlagnahme informiert habe, dass die Identität der hinter dem Schmuggelversuch stehenden Personen nicht festgestellt worden sei und dass die Steuer- und Zollbehörden nicht versucht hätten, die Identität dieser Personen oder des Lkw-Eigentümers zu ermitteln.

17      Unter diesen Umständen befand das Gericht gemäß der Rechtsprechung des Court of Appeal (England & Wales) (Rechtsmittelgericht [England und Wales], Vereinigtes Königreich), dass WR ein „unschuldiger Ausführender“ gewesen und daher davon auszugehen sei, dass er die fraglichen Waren nicht im Sinne von Regulation 13 der Verordnung von 2010 in „Besitz“ gehabt oder ihre „Lieferung“ vorgenommen habe. Würde WR ohne tatsächliche oder hypothetische Kenntnis von seinem physischen Besitz von Schmuggelware haften, würde dies ernsthafte Zweifel an der Vereinbarkeit mit den Zielen der einschlägigen Rechtsvorschriften aufwerfen. Das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen]) hob daher sowohl den streitigen Steuerbescheid als auch den gegen WR verhängten Bußgeldbescheid auf.

18      Das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Steuer- und Finanzsachen], Vereinigtes Königreich) wies das von der Steuer- und Zollverwaltung dagegen eingelegte Rechtsmittel zurück. Es führte im Wesentlichen aus, dass die Eigenschaft als „unschuldiger Ausführender“ die Personen von jeder Haftung entbinde, die keine tatsächliche oder hypothetische Kenntnis davon hätten, dass es sich bei den von ihnen beförderten Waren um Waren handele, für die Verbrauchsteuer hätte entrichtet werden müssen, aber nicht entrichtet worden sei. Es würde daher sowohl gegen die Richtlinie 2008/118 als auch gegen die nationalen Rechtsvorschriften verstoßen, den „völlig unschuldigen Ausführenden“ für die Zahlung der hinterzogenen Verbrauchsteuern verantwortlich zu machen.

19      Das vorlegende Gericht wies das Rechtsmittel der Steuer- und Zollverwaltung gegen das Urteil des Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Steuer- und Finanzsachen]) in Bezug auf die gegen WR verhängte Geldbuße zurück, hegt aber Zweifel daran, ob dieses Gericht angesichts der Richtlinie 2008/118 die Aufhebung des streitigen Steuerbescheids zu Recht bestätigt hat.

20      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Rechtsmittelgericht [England und Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist eine Person, die den physischen Besitz an verbrauchsteuerpflichtigen Waren zu einem Zeitpunkt innehat, zu dem diese Waren im Mitgliedstaat B verbrauchsteuerpflichtig werden, nach Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 Steuerschuldner für diese Verbrauchsteuer, wenn sie

a)      kein rechtliches oder wirtschaftliches Interesse an den verbrauchsteuerpflichtigen Waren hat,

b)      die steuerpflichtigen Waren gegen Entgelt im Auftrag Dritter vom Mitgliedstaat A in den Mitgliedstaat B befördert hat,

c)      zwar wusste, dass es sich bei den in ihrem Besitz befindlichen Waren um verbrauchsteuerpflichtige Waren handelte, aber nicht wusste und auch keinen Grund zu der Annahme hatte, dass die Waren im Mitgliedstaat B zu oder vor dem Zeitpunkt, zu dem sie verbrauchsteuerpflichtig wurden, verbrauchsteuerpflichtig geworden waren?

2.      Ist die Frage 1 anders zu beantworten, wenn die Person nicht wusste, dass es sich bei den in ihrem Besitz befindlichen Waren um verbrauchsteuerpflichtige Waren handelte?

 Zu den Vorlagefragen

21      Mit seinen Fragen, die gemeinsam zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die verbrauchsteuerpflichtige Waren für Rechnung eines Dritten in einen anderen Mitgliedstaat befördert und in deren physischem Besitz sich diese Waren zum Zeitpunkt der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs befinden, nach dieser Bestimmung auch dann Steuerschuldner ist, wenn sie kein Recht oder Interesse an diesen Waren hat und nicht weiß, dass diese verbrauchsteuerpflichtig sind, oder, falls sie es weiß, nicht weiß, dass der Verbrauchsteueranspruch entstanden ist.

22      Nach Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 wird für verbrauchsteuerpflichtige Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt worden sind, sofern sie zu gewerblichen Zwecken – d. h. von einer Person, die keine Privatperson ist, oder von einer Privatperson, sofern diese die Waren nicht für den Eigenbedarf erworben und selbst befördert hat – in einem anderen Mitgliedstaat in Besitz gehalten und dort zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen sind, die Verbrauchsteuer in diesem anderen Mitgliedstaat erhoben. Nach Abs. 3 dieses Artikels ist Steuerschuldner „entweder die Person, die die Lieferung vornimmt oder in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden oder an die die Waren im anderen Mitgliedstaat geliefert werden“.

23      Die Richtlinie 2008/118 definiert weder den Begriff der Person, „in deren Besitz sich die [verbrauchsteuerpflichtigen] Waren befinden“, im Sinne von Art. 33 Abs. 3 dieser Richtlinie, noch verweist sie hierfür auf das Recht der Mitgliedstaaten. Nach ständiger Rechtsprechung verlangen die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und der Gleichheitssatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Vorschrift, die für die Ermittlung ihrer Bedeutung und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung entsprechend dem Sinn, den die Begriffe nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben, und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehören, zu erfolgen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Juli 2020, Santen, C‑673/18, EU:C:2020:531, Rn. 41, und vom 16. Juli 2020, AFMB u. a., C‑610/18, EU:C:2020:565, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Der Begriff der Person, „in deren Besitz sich [Waren] befinden“, meint im gewöhnlichen Sprachgebrauch eine Person, die diese Waren in ihrem physischen Besitz hat. Dabei ist es unerheblich, ob sie ein Recht oder ein Interesse an den in ihrem Besitz befindlichen Waren hat.

25      Zudem deutet nichts im Wortlaut von Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 darauf hin, dass die Steuerschuldnerschaft aufgrund der Eigenschaft als „Person, in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden“, davon abhinge, dass diese Person wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass nach dieser Bestimmung Verbrauchsteuer zu entrichten ist.

26      Diese wörtliche Auslegung wird durch die Systematik der Richtlinie 2008/118 bestätigt.

27      Nach Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie entsteht der Verbrauchsteueranspruch nämlich zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der „Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“. Der Begriff „Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“ ist definiert als der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren außerhalb eines Verfahrens der Steueraussetzung, ohne dass Verbrauchsteuer erhoben wurde. In einem solchen Fall ist nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie Steuerschuldner eines Verbrauchsteueranspruchs „jede Person, die im Besitz [dieser] Waren ist, oder jede andere am Besitz dieser Waren beteiligte Person“.

28      Wie Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 enthält Art. 8 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie keine ausdrückliche Definition des Begriffs „Besitz“ und verlangt weder, dass die betroffene Person ein Recht oder ein Interesse an den in ihrem Besitz befindlichen Waren hat, noch, dass sie von der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen.

29      In einem anderen Fall als dem von Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 erfassten, nämlich im Fall einer Unregelmäßigkeit bei der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren in einem Verfahren der Steueraussetzung im Sinne von Art. 4 Nr. 7 dieser Richtlinie, sieht Art. 8 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii dieser Richtlinie hingegen vor, dass Steuerschuldner eines Verbrauchsteueranspruchs jede Person ist, die an der unrechtmäßigen Entnahme dieser Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung beteiligt war und die außerdem „wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Entnahme unrechtmäßig war“. Diese zweite Voraussetzung, die mit einem subjektiven Tatbestandsmerkmal vergleichbar ist, wurde vom Unionsgesetzgeber nicht in Art. 33 Abs. 3 und im Übrigen auch nicht in Art. 8 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie übernommen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Oktober 2019, Comida paralela 12, C‑579/18, EU:C:2019:875, Rn. 39).

30      Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber es in der Richtlinie 2008/118 ausdrücklich geregelt hat, wenn für die Bestimmung des Verbrauchsteuerschuldners ein subjektives Tatbestandsmerkmal berücksichtigt werden soll.

31      Zudem stünde eine Auslegung, die die Steuerschuldnerschaft aufgrund der Eigenschaft als „Person, in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden“, im Sinne von Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 auf Personen beschränkt, die wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass der Verbrauchsteueranspruch entsteht, nicht mit den von der Richtlinie 2008/118 verfolgten Zielen im Einklang, zu denen die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 2017, Kommission/Portugal, C‑126/15, EU:C:2017:504, Rn. 59).

32      Diese Richtlinie legt nämlich, wie aus ihrem Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch der in ihr aufgeführten Waren erhoben werden, und zwar insbesondere, damit, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 2 und 8 ergibt, die Entstehungsvoraussetzungen für den Verbrauchsteueranspruch in allen Mitgliedstaaten gleich sind und die geschuldete Verbrauchsteuer tatsächlich eingezogen wird (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2001, Van de Water, C‑325/99, EU:C:2001:201, Rn. 39 und 41).

33      Wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wollte der Unionsgesetzgeber in Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 den Kreis der Personen, die im Fall der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits „in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt“ worden sind und zu gewerblichen Zwecken in einem anderen Mitgliedstaat in Besitz gehalten und dort zur Lieferung oder Verwendung vorgesehen sind, Verbrauchsteuer schulden, weit fassen, um die Erhebung dieser Steuern soweit wie möglich sicherzustellen.

34      Mit einer zusätzlichen Voraussetzung dahin, dass die „Person, in deren Besitz sich die zur Lieferung vorgesehenen Waren befinden“, im Sinne von Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 von der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, würde die Erhebung dieser Steuern bei der Person erschwert, mit der die zuständigen nationalen Behörden unmittelbar in Kontakt stehen und die in manchen Fällen die einzige ist, von der diese Behörden in der Praxis die Zahlung der Verbrauchsteuer verlangen können.

35      Diese Auslegung von Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 lässt die gegebenenfalls im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit unberührt, dass die Person, die die nach dieser Bestimmung zu entrichtenden Verbrauchsteuern gezahlt hat, eine Regressklage gegen eine andere Person, die diese Steuern schuldet, erhebt (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Oktober 2019, Comida paralela 12, C‑579/18, EU:C:2019:875, Rn. 44).

36      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die verbrauchsteuerpflichtige Waren für Rechnung eines Dritten in einen anderen Mitgliedstaat befördert und in deren physischem Besitz sich diese Waren zum Zeitpunkt der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs befinden, nach dieser Bestimmung auch dann Steuerschuldner ist, wenn sie kein Recht oder Interesse an diesen Waren hat und nicht weiß, dass diese verbrauchsteuerpflichtig sind, oder, falls sie es weiß, nicht weiß, dass der Verbrauchsteueranspruch entstanden ist.

 Kosten

37      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 33 Abs. 3 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG ist dahin auszulegen, dass eine Person, die verbrauchsteuerpflichtige Waren für Rechnung eines Dritten in einen anderen Mitgliedstaat befördert und in deren physischem Besitz sich diese Waren zum Zeitpunkt der Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs befinden, nach dieser Bestimmung auch dann Steuerschuldner ist, wenn sie kein Recht oder Interesse an diesen Waren hat und nicht weiß, dass diese verbrauchsteuerpflichtig sind, oder, falls sie es weiß, nicht weiß, dass der Verbrauchsteueranspruch entstanden ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.