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NS-Angriffspläne für New York: Bomben auf Big Apple

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NS-Angriffspläne für New York Bomben auf Big Apple

Raketen, Fernbomber und Sabotagetrupps: Knapp sechzig Jahre vor den Attentaten auf New York am 11. September 2001 träumten die Nazis davon, die US-Metropole in Schutt und Asche zu legen. Dass ihre Pläne scheiterten, lag an der Unmöglichkeit ihrer Ideen - und am Dilettantismus ihres Agentenpersonals.
Von Eike Frenzel

Allmählich verlor Kapitänleutnant Hans-Heinz Lindner die Nerven. Der Morgen des 13. Juni 1942 dämmerte bereits, an der Uferstraße des Örtchens Amagansett auf Long Island fuhren schon die ersten Autos. Aber U-202 saß fest. Hilflos wie ein gestrandeter Wal lag der graue Stahlkoloss im flachen Wasser auf einer Sandbank, keine 200 Meter vom Strand entfernt. Nur noch wenige Stunden, und jeder Spaziergänger würde das deutsche U-Boot aus den Fluten des Atlantiks ragen sehen.

Doch so weit kam es nicht. Lindner ließ die Maschinen mit voller Kraft laufen. Es gelang ihm mit dem letzten Versuch, das schon zur Sprengung vorbereitete U-Boot mit der langsam aufkommenden Flut wieder in die offene See zu manövrieren. Noch bevor irgendjemand U-202 entdecken konnte, war es abgetaucht. Unter Deck feierten die Seeleute ihre Rettung in letzter Minute.

Der Beinahe-Verlust eines vor der amerikanischen Ostküste operierenden U-Boots war der Auftakt zu einer der skurrilsten Kommando-Unternehmungen während des Zweiten Weltkriegs: der Einschleusung eines deutschen Sabotagetrupps in die USA. Eine streng geheime Mission, die zudem beklemmende Parallelen zur Gegenwart aufweist: Denn knapp sechzig Jahre vor dem 11. September 2001, als islamistische Terroristen in New York mit zwei entführten Verkehrsflugzeugen in die Türme des World Trade Centers einschlugen und fast 3.000 Menschen töteten, hatten die Nazis ganz ähnliche Ziele verfolgt.

Sabotage-Crashkurs für unerfahrene Agenten

Das "Dritte Reich" wollte seinen Kriegsgegner USA dort treffen, wo er am verletzlichsten war: im eigenen Land. Und so hatten NS-Strategen gleich mehrere Pläne entworfen, die pulsierende Metropole New York mit verlustreichen Terroranschlägen zu erschüttern: Mit Superraketen, Kamikaze-Piloten, Fernbombern - oder eingeschleusten Agenten.

Die deutschen Spione, deretwegen sich U-202 überhaupt so nah an die feindliche Küste gewagt hatte, konnten die US-Bevölkerung aber kaum beunruhigen. Das "Unternehmen Pastorius", die Entsendung feindlicher Agenten, entwickelte sich zu einem grandiosen Fehlschlag. Und das, obwohl die Spionage-Abwehr der Wehrmacht großen Aufwand bei der Auswahl und Ausbildung des achtköpfigen Terrorteams betrieben hatte.

Die Männer, die allesamt einige Jahre in den USA gelebt, jedoch nie für einen Geheimdienst gearbeitet hatten, nahmen im April 1942 an einem Sabotage-Crashkurs auf Gut Quenzsee bei Brandenburg teil. 18 Tage lang wurde ihnen von Militärexperten der Einsatz von Sprengstoff und Zeitzündern eingetrichtert. Außerdem mussten sie den Umgang mit Schusswaffen und Handgranaten lernen. Das sportliche Rahmenprogramm bestand unterdessen aus Jiu-Jitsu-Einheiten. Im Juni setzten U-202 und U-584 die frisch gedrillten Geheimagenten in zwei Gruppen zu je vier Mann an den Küsten vor Florida und Long Island ab.

Sprengstoff in den Dünen

Doch anstatt Bahnbrücken, Kraftwerke oder Tunnel zu sprengen, kriegswichtige Industriekomplexe lahmzulegen und die amerikanische Zivilbevölkerung zu demoralisieren, sorgte das Kommando allein in ihren deutschen Dienststellen für blankes Entsetzen. Einer "der kühnsten Sabotagepläne in der Geschichte" war nach nur zwei Tagen aufgeflogen. Auch, weil die hoffnungsvolle Agentenschar die bis dato größte Fahndungsaktion in der Geschichte des FBI ausgelöst hatte, wie der Historiker Günther W. Gellermann rekonstruiert hat.

Verantwortlich für das Spionage-Desaster war vor allem der 39 Jahre alte Georg John Dasch, der Anführer der Long-Island-Gruppe. Er war nicht nur während der Landung mit dem Schlauchboot um ein Haar ertrunken, sondern auch wenig später in den Dünen von dem 21-jährigen Coast Guard John Cullen entdeckt worden. Im Schein der Taschenlampe gab der klitschnasse Dasch vor, Fischer zu sein. Er packte den jungen Mann am Kragen, schüchterte ihn ein - und drückte ihm anschließend 260 Dollar Schweigegeld aus seiner Agentenkasse in die Hand: Cullen sollte den Anblick der vier Männer am Strand schleunigst vergessen.

Das tat der misstrauische Coast Guard natürlich nicht: Er verständigte seine Kollegen, die wenig später aus dem feuchten Sand vier hastig verscharrte Kisten mit Sprengstoff und deutsche Uniformen ausgruben. Das alarmierte FBI suchte fieberhaft nach den vier Fremden und fand sie bereits zwei Tage später in New Yorker Hotels, wo sie abgestiegen waren.

Hitler träumt vom brennenden New York

Schnell wurde bekannt: Dasch hatte sich - kaum dass er in der Anonymität der Großstadt abgetaucht war - der US-Bundespolizei gestellt. Als Beweis seiner Agententätigkeit hielt er den Beamten im Hotelzimmer mit Zaubertinte beschriebene Taschentücher vor, auf denen seine Angriffsziele vermerkt waren: Dasch, der von den verhörenden Polizisten später als "Neurotiker" beschrieben wurde, hatte das "Unternehmen Pastorius" bis in alle Einzelheiten ausgeplaudert. Und so flogen nur wenige Tage später die letzten vier deutschen Saboteure der Mission auf, die in Florida gelandet waren.

Am 8. August 1942 beendete der elektrische Stuhl im Washingtoner Bezirksgefängnis die kurzen Agentenkarrieren von sechs Deutschen. Mit Ausnahme der Überläufer Dasch und Ernst Peter Burger, die zu hohen Haftstrafen in den USA verurteilt wurden, hatte US-Präsident Roosevelt alle "Pastorius"-Mitglieder hinrichten lassen.

Im fernen Deutschland blieb Hitler trotz des Reinfalls seines Kommandounternehmens von der Vorstellung des brennenden New Yorks geradezu besessen. Der mächtige Gegner jenseits des Atlantiks sollte durch empfindliche Schläge an seiner Heimatfront zum Ausscheiden aus dem Krieg bewegt werden. Nur allzu gerne ließ sich der "Führer" in der Reichskanzlei Filme vom "brennenden London", von "explodierenden Geleitzügen" oder vom "Feuermeer über Warschau" vorführen, wie sich sein Leib-Architekt Albert Speer in den "Spandauer Tagebüchern" erinnerte. Angesichts solcher Bilder hätte sich Hitler wie im Rausch den "Untergang New Yorks in Flammenstürmen" vorgestellt.

Bomber, Raketen, Selbstmordpiloten

Kein Wunder also, dass am Reißbrett der NS-Strategen gleich mehrere Projekte mit dem Angriffsziel New York entstanden, die zum Teil sogar aus der Vorkriegszeit stammten: Bereits 1937 wurde Hitler während eines Besuchs der Messerschmitt-Werke in Augsburg der Prototyp eines viermotorigen Langstreckenbombers vorgestellt. Die Messerschmitt Me 264 sollte irgendwann in der Lage sein, von Europa aus die Ostküste der USA zu erreichen.

Hitler war begeistert von dem Gedanken an solch einen "Amerika-Bomber", der die US-Metropolen mit seiner explosiven Fracht in Schutt und Asche legen konnte. Was er allerdings nicht wusste: Konstrukteur Willy Messerschmitt hatte lediglich eine flugunfähige Attrappe präsentiert, um sich einen lukrativen Großauftrag zu sichern. Wann der Flieger einsatzbereit wäre, stand in den Sternen.

Große Hoffnungen setzte die NS-Riege angesichts der sich abzeichnenden Nieder-lage auf so genannte Wunderwaffen. Die "Heeresversuchsanstalt" in Peenemünde auf Usedom galt als Füllhorn solcher Ideen: Wo 1942 bereits die bekannte V2-Rakete mehr oder weniger erfolgreich in den Himmel geschossen wurde, sollte bei Kriegsende endlich eine "Amerika-Rakete" abheben.

25 Meter lang sollte die A-9/A-10-Rakete sein - rund zehn Meter länger als die V2. Der knapp hundert Tonnen schwere Flugkörper würde bis in 24 Kilometer Höhe steigen und dann seinen Zielanflug auf die USA beginnen. Eine weitere Studie sah vor, die Rakete von einem Piloten steuern zu lassen, der sich kurz vor dem anvisierten Zielgebiet per Schleudersitz in Sicherheit bringen sollte - ein wahres Himmelfahrtskommando.

Zumindest theoretisch kannte der destruktive Erfindergeist deutscher Ingenieure kaum Grenzen: So sind auch Planspiele überliefert, modifizierte V2-Raketen in Schwimmkörpern mit U-Booten bis vor die amerikanische Ostküste zu schleppen. Dort hätte man die Behälter geflutet, so dass die Raketen senkrecht aus dem Wasser geragt hätten - klar zum Abschuss.

Möglich war die Entwicklung der NS-Kriegstechnologien indes nur durch den brutalen Einsatz von Zwangsarbeitern. Sie starben zu Tausenden in unterirdischen Fertigungsanlagen und geheimen Fabriken. Aber auch etlichen Freiwilligen hätte der Einsatz der "Amerika-Waffen" einen jämmerlichen "Heldentod" beschert: Wenn sie als "Selbstopfer"-Piloten fliegender Bomben, die von einem Trägerflugzeug starten sollten, in New Yorker Wolkenkratzer eingeschlagen wären.

Knappes Material und dilettantische Agenten

Gemein war den hochfliegenden NS-Angriffsplänen am Ende nur eines: Dass sich keiner von ihnen umsetzen ließ. Zwar präsentierte das US-Magazin "Life" seinen Lesern im Dezember 1941 eine Skizze des Big Apple unter dem Titel "Wie Nazi-Flugzeuge New York bombardieren könnten". Und New Yorks Bürgermeister Fiorello LaGuardia wurde an gleicher Stelle 1944 mit der Befürchtung zitiert, dass deutsche Raketen in den USA einschlagen könnten. Doch weder ein "Amerika-Bomber" noch eine gleichnamige Rakete tauchte jemals am New Yorker Himmel auf.

Vor allem der alliierte Bombenhagel auf deutsche Produktionsstätten hatte die Weiterentwicklung transatlantischer Angriffsszenarien ständig verzögert und sie mit fortwährender Kriegsdauer unmöglich gemacht. Materialknappheit, Mangel an Zeit und die schiere Bandbreite immer neuer technischer Projekte trugen ebenso dazu bei, dass Hitlers amerikanischer Flammentraum unerfüllt blieb, wie schon der Dilettantismus während der Operation "Pastorius".

Deren Mitglieder wären wohl auch ohne das Zutun von Überläufer Dasch früher oder später aufgeflogen: Schon in Paris schied ein Agent des Kommandos mit einem Tripper aus der Kommandomission aus. Und in den USA soll Edward Kerling, Anführer der Florida-Gruppe, vollmundig einem alten Freund von seinem Geheimauftrag erzählt haben. Kerlings Kollege Herbert Haupt besuchte gar seinen Vater in Chicago: Den bat er, ihm ein schwarzes Pontiac-Coupé zu kaufen - schließlich sei er im Auftrag der deutschen Regierung unterwegs.