Französischer Literaturpreis:Prix Goncourt für Hervé Le Tellier

The French literary prize Prix Goncourt

Nach der Bekanntgabe des Prix Goncourt an Hervé Le Tellier gibt der französische Autor und Oulipo-Vorsitzende Interviews.

(Foto: CHARLES PLATIAU/REUTERS)

Der bedeutendste französische Literaturpreis geht an den jetzigen Vorsitzenden von "Oulipo".

Von Joseph Hanimann, Paris

Das Essbesteck mit den eingravierten Namen der zehn Goncourt-Juroren blieb diesmal unberührt im Schrank liegen. Keine Schlussabstimmung im "Drouant" mit anschließender Verkündung des Preisträgers, hereinstürmenden Journalisten, Gedränge und dann mittäglicher Tafelrunde im engen Kreis. Alles fand auf Zoom statt. Die Vergabe dieses berühmtesten der französischen Literaturpreise ging ziemlich lautlos und lustlos vor sich. Weil die Buchhandlungen geschlossenen waren, war der Termin vom 11. auf den 30. November verschoben worden. Immerhin sind jetzt seit Samstag in Frankreich die Buchläden wieder auf.

Die Qualität der vier Romane in der Endrunde steht allerdings im Kontrast zum freudlosen Prozedere in diesem Jahr. Mit "Les impatientes" (Die Ungeduldigen) der Kamerunerin Djaïli Amadou Amal über den Kampf früh verheirateter Mädchen, den Aufzeichnungen eines fiktiven Historiografen am Hof des marokkanischen Königs Hassan II. von Maël Renouard in "L'historiographe du royaume" und "Thésée, sa vie nouvelle" (Theseus, sein neues Leben) des in Berlin lebenden Camille de Toledo über die Last der Erinnerung lag ein selten breites Themenspektrum vor.

Sechs Übersetzungen und die Rechte für eine Fernsehserie sind verkauft

Gewinner ist mit acht gegen zwei Stimmen verdientermaßen das Bravourstück in der Auswahl: Hervé Le Telliers Roman "L'Anomalie" (bei Gallimard, sein letzter Roman in deutscher Übersetzung, "All die glücklichen Familien", erschien 2018 bei dtv). Der dreiundsechzigjährige Autor, gegenwärtig Vorsitzender der Literaturgruppe "Oulipo", hat einen Thriller zwischen Science-Fiction, Gesellschaftspanorama, fantastischer Literatur, Liebesromanze, Polit-Story und literarischer Formspielerei hingelegt. Rund hundert Personen sitzen am 10. März 2021 in einer Boeing 787 von Paris nach New York und geraten durch ein Unwetter in eine traumatische Situation. Aufgrund einer meteorologischen, technischen, wissenschaftlichen und politischen Anomalie sitzen dieselben Leute drei Monate später dann im selben Flugzeug auf einem Militärflugplatz von New Jersey, wo sie ihrem jeweiligen Doppelgänger von damals begegnen. Und einer von ihnen, der mäßig erfolgreiche Schriftsteller Victor Miesel, hat dies in seinem Roman schon vorweggenommen. Dieser vom Leben enttäuschte, aber nicht verzweifelte Literat hatte unmittelbar vor seinem Selbstmord das Manuskript noch an seine Verlegerin gesandt und steht nun in New Jersey plötzlich seinem anderen Selbst gegenüber. "Nichts ist weniger tragisch als Enttäuschung, sie ist das Gegenteil des Scheiterns", lautet seine Überzeugung. Die Konfrontation mit sich selbst ist das Grundthema dieses Romans.

Im ständigen Wechsel der Genres wickelt Le Tellier seine Figuren unterhaltsam, ergreifend, souverän kombinierend und stets leicht ironisch in ein Rätsel, das den Wissenschaftlern, dem amerikanischen Präsidenten und den Religionsbehörden gleichermaßen Kopfzerbrechen bereitet. Laut Verlag sind bereits für 30 Sprachen Übersetzungsrechte und Rechte für eine Fernsehserie des Buchs erworben worden, über 80 000 Mal hat es sich inzwischen verkauft. Mit kombinatorischem Witz und einem wahren Darstellungstalent hat der Geist "Oulipos" mit diesem Roman zum ersten Mal einen Fuß in das mit seinen breiten Erzählflüssen so weit entfernte Reich des Prix Goncourt gesetzt. Der traditionell am selben Tag vergebene Renaudot-Preis ging an den Roman "Histoire du fils" (Geschichte des Sohns) von Marie-Hélène Lafon. In deutscher Übersetzung erschien zuletzt ihr Roman "Die Annonce" im Rotpunkt-Verlag.

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