Michael Kumpfmüller:Abspann eines Lebens

Michael Kumpfmüller: Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 2020. 240 Seiten, 22 Euro.

Michael Kumpfmüller: Ach, Virginia. Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, 2020. 240 Seiten, 22 Euro.

(Foto: Verlag)

"Ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde": Michael Kumpfmüller fühlt sich in Virgina Woolfs letzte Gedanken ein.

Von Susan Vahabzadeh

Nachts kann sie nicht schlafen, und die Toten kommen. Das ist nicht weiter schlimm, außer natürlich, dass ihr Allgemeinzustand unter der Schlaflosigkeit leidet; aber sie inspirieren sie nicht mehr. Sie hat geschrieben, das Manuskript abgeschickt, aber sie ist sich ihrer Sache nicht sicher; aber andererseits war sie das nie.

Es ist natürlich klar, wie die Sache ausgeht, wenn Virginia Woolf am Anfang von "Ach, Virginia" im Gartenhäuschen sitzt. Es ist der 18. März, als sie ihrem Mann Leonard einen Brief schreibt, zum Abschied, weil sie sein Leben nicht mehr weiter ruinieren will. Es ist ein regnerischer, kalter Tag, und Virginia versucht, ins Wasser zu gehen, aber am Ende hat Leonard das vereitelt, sie landet, durchnässt und frierend, wieder in ihrem Haus, Monk's House, im Süden Englands. Aber nur zehn Tage später, am 28. März 1941, zehn Monate vor ihrem sechzigsten Geburtstag ist Adeline Virginia Woolf, geborene Stephen, tatsächlich tot.

In diesen zehn Tagen spielt Michael Kumpfmüllers Roman "Ach, Virginia", stets in der dritten Person gehalten - und doch bleibt Kumpfmüller ganz nah dran an seiner Protagonistin, wandert durch ihre Gedanken, Ideen, Erinnerungen. Sie quält sich, vor allem nachts, spukt durchs Haus, ärgert sich, wenn Leonard nach ihr sieht. Mit Bedacht gibt sie wenig von dem preis, was sie bewegt. Sieht Gespenster in dunklen Ecken, geht im Geiste zum Fluss, denkt über ihren Verleger nach, und darüber, was aus Leonard wird, wenn sie nicht mehr ist. Ganz langsam nimmt sie vom Leben Abschied, und von allem, was es ausmachte, als wäre dieser Gedankenstrom der Abspann ihres Lebens. Das ist dann vielleicht die einzige Art, eine Hommage an sie zu schreiben - so, als wäre sie eine ihrer eigenen Figuren, eine Mrs. Dalloway, der Kumpfmüller bei ganz alltäglichen Verrichtungen folgt, während er sich in ihrem Innenleben umtut.

Am Rande ergibt sich aus Virginias Betrachtungen eine Biografie: Die Häuser, in denen sie gelebt hat, gehen ihr durch den Kopf, und die Menschen, mit denen sie sie bewohnt hat. Die Eltern, die Geschwister, Weggefährten. Die Freundin, die sie liebte, und die einst erfolgreicher war als sie und die ihr entglitten ist, Vita Sackville-West - Vita hat ihr geschrieben kurz vor diesem Tag im März.

Der Missbrauch durch den Bruder kriecht in ihre Erinnerung; dieses langsame Einsickern beschreibt Kumpfmüller auf eine sehr nachvollziehbare Art: etwas, woran sie nicht oft denkt und dass doch viel in ihrem Leben bestimmt hat. Und dann ist da natürlich Leonard, der bei ihr ist und sich um sie sorgt, der ihr auf die Nerven geht und den sie, auf ganz verquere Art, irgendwie liebt, in einer Mischung aus Gewohnheit, Dankbarkeit, Trotz und echter Zuneigung. Einmal sucht sie ihn in ihren Tagebüchern, als liebte sie die Vorstellung von ihm mehr als ihn selbst. Ist ein Ehemann nicht mehr als ein Freund, will Leonard wissen - für seine Frau vielleicht nicht.

Der Abschiedsbrief, den Kumpfmüller als Ausgangspunkt nimmt, ist echt

Virginia Woolf war bei ihrem Tod seit fast dreißig Jahren mit Leonard verheiratet - über die längste Strecke ihres Lebens also. Die Beziehung zu Leonard ist das Kernstück von Kumpfmüllers Geschichte; in dem Roman "Die Herrlichkeit des Lebens", mit dem er 2011 einen riesigen Erfolg hatte, ging er der Beziehung von Franz Kafka zu Dora Diamant auf den Grund, diesmal läuft die Verteilung der Kreativität andersherum.

Leonard Woolf konnte seiner Frau als Autor nicht das Wasser reichen, und in der feministischen Literatur geistert er als ziemlicher Klotz am Bein herum, der seiner Frau Essen einflößte, auch wenn sie nicht wollte, und überhaupt eher ein Hinderungsgrund war als männliche Muse, was vielleicht mit dem Essay "Ein Zimmer für sich allein" zu tun hat. Doch hat Virginia Woolf ihn wohl gebraucht; er gab ihrem Leben Halt. Und ihr eigenes Zimmer hat sie auch gehabt, in jeder Art, die der Essay einforderte - Unabhängigkeit, die Androgynität, die sie sich in ihrer wenig romantischen Ehe erhalten hat.

Virginia Woolf hatte lange schon psychische Probleme, schon als Teenager, und manchmal waren sie über die Jahre so schlimm geworden, dass sie in ärztliche Behandlung musste, versuchte, sich umzubringen. Sie mag nicht mehr, schreibt Kumpfmüller. Die Gedanken in ihrem Kopf reimt er sich zwar selbst zusammen, aber der Abschiedsbrief, den er als Ausgangspunkt nimmt, ist echt. "Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde", hat sie tatsächlich geschrieben, und dass sie Stimmen höre und nicht glaube, diesmal wieder gesund zu werden. Und: "Du warst mir in jeder Hinsicht alles, was jemand mir sein konnte."

Wie funktioniert das Schreiben von Romanen, was mag in Virginia Woolfs Kopf vorgegangen sein, als sie "Mrs. Dalloway" schrieb oder "Orlando"? Hat sie sich tatsächlich im Schreiben verloren? Natürlich ist der Einblick begrenzt durch die Dokumentation, die sie hinterlassen hat - selbst Tagebücher hinterlassen nur das, was uns jemand wissen lassen wollte, die Vorstellung von sich, die er einem potenziellen Leser zur Verfügung stellt. Weder ersetzt "Ach, Virginia" eine Woolf-Biographie, noch darf man alles für bare Münze nehmen, was dieser Roman mit Celebrity-Hauptfigur uns erzählt. Er ist und bleibt Fiktion.

Eine schöne Idee, in jedem Jahrzehnt Virginia Woolf als mythische Figur zu feiern

Und Kumpfmüllers Idee ist auch nicht ganz neu: Das Setting ist ein ganz ähnliches wie in Stephen Daldrys Film "The Hours - Von Ewigkeit zu Ewigkeit" von 2002, da bildete der Selbstmord von Virginia Woolf, gespielt von Nicole Kidman mit der berühmten Nasenplastik, den Rahmen für Frauenporträts, die alle mit "Mrs. Dalloway" zu tun hatten. Das war zwar ganz schön - aber das lag vielleicht mehr an all den Frauenfiguren und den Schauspielerinnen, Meryl Streep etwa. Als eine der wichtigsten weiblichen Schriftstellerinnen überhaupt hat Woolf mehr Präsenz verdient. Das wäre doch eine ganz schöne Idee, in jedem Jahrzehnt Virginia Woolf als mythische Figur zu feiern, bis sie sich wie Odysseus durch die Filme und die Bücher und die Kunst zieht.

Und es ist auch ganz schön mutig, sich darauf einen Reim machen zu wollen - der künstliche Woolf'sche Gedankenfluss, den sich Kumpfmüller ausdenkt, kann sich natürlich nicht mit dem Original messen, obwohl er sich sicher in ihren Büchern inzwischen zu Hause fühlt und viel von ihr übernimmt. Hier werden keine neuen Fahrrinnen geschaffen. Aber er legt eine frei, die geradewegs zu Virginia Woolf führt - sie verliert ihre Unnahbarkeit. Sie erwacht auf diesen Seiten zum Leben, so wie es ihre Figuren taten. Vielleicht verschwindet sie wieder im Dunkel, wenn man das Buch zuschlägt, aber für einen Moment war sie da, dahinten in der Dunkelheit.

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