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Mordfall in Gifhorn "Ich bin der Teufel"

Er jammerte über sein Leben als "Kette von Enttäuschungen". Seine Aggressionen tobte Wilfried R. im Kleingarten aus, wo er die Nachbarn terrorisierte. Vor zwei Monaten erschlug der Frührentner drei Menschen mit einem Knüppel. Jetzt sind die Ermittlungen abgeschlossen.
Von Kerstin Schneider

Die drei Leichen lagen in einer stillgelegten Parkbucht im Schrebergarten am Dannenbütteler Weg. Dort, wo hinter den Kleingärten die Stadt Gifhorn zu Ende ist. Dem 33-jährigen Martin Kaczmarek, seinem Vater Hans, 64, und seiner Mutter Gisela, 59, war der Schädel eingeschlagen worden. Keine 48 Stunden später nahm die Polizei den mutmaßlichen Täter fest. Schließlich wussten alle, wer im Schrebergarten gegen die Kaczmareks seit Jahren erbittert Kleinkrieg geführt hatte: Wilfried R.

"Vor dem musste man sich in Acht nehmen"

Mit stoischer Miene gestand der damals 65-Jährige später im Verhör, seine Gartennachbarn getötet zu haben. Den Knüppel für die Tat hatte er sich aus einer jungen Eiche geschnitzt, gab der Frührentner zu Protokoll. Zuerst habe er auf Martin Kaczmarek eingedroschen, dann auf den Vater, der seinem Sohn zu Hilfe eilen wollte. Schließlich auf Gisela Kaczmarek, die hatte mitansehen müssen, wie ihre Familie starb.

Wie leicht Wilfried R. ausrasten konnte, das war den Kleingärtnern bewusst. "Vor dem musste man sich in Acht nehmen", ist ein Zitat, das immer wieder fällt, wenn man nach Reinecke fragt. Und auch alteingesessene Gifhorner, die vor mehr als 50 Jahren mit ihm konfirmiert worden waren, erzählen, dass "der schon als Jugendlicher aggressiv und rechthaberisch" gewesen sei. Doch dass er eines Tages töten würde, hätte ihm wohl niemand zugetraut.

1942, mitten im Krieg, wurde Wilfried R. geboren. Er wuchs in Gifhorn- Südstadt auf, damals ein grauer und schmuckloser Stadtteil, das Zuhause kleiner Leute. Gegenüber Bekannten klagte er später über eine "vermurkste Kindheit", in der er "nur geschlagen worden" sei. Nach der Volksschule fing R. eine Lehre als Bäcker und Konditor an, brach die Ausbildung aber ab - er wollte sich nichts vom Lehrherrn sagen lassen, erinnern sich alte Gifhorner. Als "Ungelernter" stand er bei Volkswagen in Wolfsburg am Band, montierte Autoteile. Jahrzehntelang. Hatte nichts zu sagen, war ein kleines Licht.

Der glückliche Familienvater

R. heiratete, wurde Vater eines Sohnes und einer Tochter. Mit seiner Frau, die im Baumarkt an der Kasse saß, wohnte er mehr als 30 Jahre in einem dieser Mietblocks, in denen der Plan für die Kehrwoche wie eine Mahnung im Treppenhaus hängt. Obwohl sie jahrzehntelang mit Wilfried R. Tür an Tür gelebt haben, wissen die Nachbarn wenig zu erzählen, wirken ratlos. R., ein gut aussehender Mann, immer braun gebrannt, mit weißem Bürstenschnitt und eisblauen Augen, grüßte stets freundlich. Fast ein bisschen neidisch erinnern sich die Nachbarn, dass er selbst lange nach der Silberhochzeit noch zärtlich die Hand seiner Frau hielt, wenn er mit ihr zum Einkaufen ging. Und wie ausgelassen er mit den Enkeln tobte. Doch das Bild vom glücklichen Familienvater war nur Fassade.

Dahinter lebte ein Mann, der unter seiner Bedeutungslosigkeit litt und einem anderen, besseren Leben nachtrauerte, für das es längst zu spät war. Einem Bekannten gegenüber beklagte sich Wilfried R., dass sein Leben "eine Kette von Enttäuschungen" gewesen sei. "Selbst als ich ihm sagte, dass er doch eine nette Frau, wohlgeratene Kinder und Enkel habe, zuckte er nur mit den Achseln", wundert sich der Mann noch heute. R.'s Frau, die es ablehnt, mit Journalisten zu sprechen, vertraute einer Freundin an, ihr Mann sei "depressiv". Wegen seiner Depressionen sei R. mit Ende 50 in Frührente gegangen, erzählen Bekannte.

Fortan sahen die Schrebergärtner Wilfried R. fast jeden Tag am Dannenbütteler Weg, wo er ein Grundstück vom Vater geerbt hatte. Ältere Gifhorner erinnern sich, dass der Vater gezögert habe, seinem Sohn das Land zu vermachen. "Der hat immer gewusst, dass sein Sohn sich nicht in die Gemeinschaft einfügen kann." Das Grundstück, das etwa so groß ist wie ein halbes Fußballfeld, trennt zwei Kleingartenkolonien. Auf dem rechten Flurstück ducken sich die Lauben des Vereins "Vor der Steinriede" hinter einem Labyrinth akkurat gestutzter Thujahecken. Auf rechtwinkligen Gärten, der Natur wie mit dem Metermaß abgetrotzt, sprießt sattgrüner Rasen. Gardinen aus weißer Spitze vor den Hüttenfenstern schützen die Laubenpieper vor neugierigen Blicken. Die "Steinrieder" reden gern darüber, dass sie schon zum vierten Mal den Titel für die schönste Kleingartenanlage im Landkreis gewonnen haben. Und dass über die Hälfte der 56 Parzellen an Migranten verpachtet sind.

Wüste Beschimpfungen

Auf der anderen Seite schrebern ein paar wilde Laubenpieper im Schutz alter Trauerweiden, ohne Verein und Satzung. In ihren Gärten regiert das Provisorium. Buden, zusammengenagelt aus groben Brettern, bestückt mit Fenstern vom Bauschutt. Selbst gegrabene Brunnen, windschiefe Maschendrahtzäune, durch die sich Bohnenkraut und wilder Wein schlängeln. Zwischen den Parzellen der Vereinsmeier und der wilden Laubenpieper liegt R.'s Grundstück, auf dem noch einmal vier Lauben stehen, darunter die von Hans Kaczmarek und Sahin N.

Die beiden Kleingärtner haben besonders unter R. zu leiden. "Scheiß-Türke" brüllt er Sahin N. oft an. Familie Kaczmarek beschimpft er lautstark als "Scheiß-Polaken". Doch niemand mischt sich ein, kommt den Bepöbelten zu Hilfe. "Alle hatten Angst", sagt Kleingärtnerin Luise Lutz*. Trotzdem ist das nur die halbe Wahrheit - in Wirklichkeit fühlt sich niemand zuständig für Sahin N. und die Kaczmareks. Sie sind keine Vereinsmitglieder, gehören nicht dazu. Deshalb glauben die "Steinrieder", der Streit "da drüben" ginge sie nichts an. Und bei den wilden Laubenpiepern gärtnert eh jeder allein vor sich hin. Alle hören mit. Und sehen weg.

Obwohl R. das Grundstück schon vor Jahren seinen Kindern überschrieben hat und dort nur noch eine schäbige Holzhütte bewohnt, spielt er den Platzwart. Wie ein Feldherr hält er vor seiner Hütte die Stellung und belauert seine Nachbarn. Er zeigt Falschparker an, staucht spielende Kinder zusammen, greift zur Säge, wenn auch nur ein Ast über den Zaun auf das Familiengrundstück ragt.

Und das, obwohl er das eigene Grundstück völlig verwildern lässt, sodass Gestrüpp in die Nachbargärten wuchert. Doch wehe, wenn ein Nachbar es wagt, sich zu beschweren. "Das ist ein Naturgarten. Hier wird nix gemäht", schreit R. Laubenpieper Paul Bredow* an. Der befestigt schließlich ein paar Platten an seinem Zaun zum Schutz vor dem Unkraut. "R. kam wutschnaubend angerannt und hat meine Platten kaputt getreten", erzählt Bredow. "Scheiß-Polake" habe R. gebrüllt. "Wir haben unseren Leuten geraten", sagt Reinhold Spatz, erster Vorsitzender der "Steinrieder", "dem aus dem Weg zu gehen. Der Klügere gibt nach."

Nachbarschaftskrieg als Lebensinhalt

Doch Wilfried R. scheint im nachbarschaftlichen Kleinkrieg einen neuen Lebenssinn gefunden zu haben. Die Arme seines Holzfällerhemds aufgekrempelt, stapft er durch die Kleingartenkolonien und sucht Streit. Endlich ist er kein kleines Licht mehr - sondern Herr über das größte Grundstück. Hier ist er Chef, will was zu sagen haben. "Einmal stand er mit hochrotem Kopf vor mir, forderte vier Parkplätze und Wegerechte als Ausgleich, weil unsere Gärten 60 Zentimeter zu weit auf seinem Grundstück angelegt worden seien", erzählt Spatz. "Ich habe ihm Hausverbot erteilt. Und gesagt, er möge mir die Vollmacht seiner Kinder vorlegen, bevor ich mit ihm verhandeln würde. Da zog er wutschnaubend von dannen."

Nachdem der Vorsitzende ihn in die Schranken gewiesen hat, knüpft sich R. die wilden Laubenpieper vor. Er zersägt eine Mülltonne, füllt das Unterteil mit Beton und setzt es mitten auf dem Weg ein, der zwischen dem Grundstück seiner Familie und der Laubenkolonie hindurchführt. "Das Wegerecht habe ich", keift R., während er den Spaten mit Wucht in die Erde stößt. Die Barrikade soll die Laubenpieper daran hindern, ihre Autos direkt vor ihren Gärten zu parken. "Hoffentlich brauchen wir nie einen Rettungswagen", sagt einer von ihnen. "Der kommt hier nicht mehr durch." Die Schrebergärtner nicken. Und schweigen. Kuschen vor R., weil sie keinen Streit wollen.

Nachdem Hans Kaczmarek, der mehr als 30 Jahre für einen Autozulieferer gearbeitet hat, in Rente gegangen ist, verbringt er mit seiner Frau fast jeden Tag im Kleingarten. Er hält sich ein paar Kaninchen, seine Frau zieht Sellerie, Bohnen und Kartoffeln für den heimischen Kochtopf. Sohn Martin kommt oft zu Besuch. Der ledige Gas- und Wasserinstallateur, der eine Schwäche für teure Pfeifen hat und gern an alten Motorrädern schraubt, gilt als friedliebender, umgänglicher Kerl.

Nur Wilfried R. kann ihn nicht leiden, verdächtigt den jungen Mann, ihm Gartenwerkzeug gestohlen zu haben. "Dieb, Lumpenpack, kriminelle Brut", brüllt er ihn über den Zaun an. Martin Kaczmarek zieht vor Gericht, lässt die Anschuldigungen verbieten. Das aber bringt R. nicht zur Räson, im Gegenteil, er wird immer aggressiver. "Einmal hat meine Frau Brombeeren gepflückt", erzählt ein anderer Kleingärtner. "R. kam angerannt, hat sie an der Schulter gerissen, sodass die Beeren aus dem Eimer flogen, und schrie: 'Ich bringe Sie um, wenn Sie meine Beeren ernten.'" Als der Kleingärtner seiner Frau zur Hilfe eilt, droht R. auch ihm: "Ich bring dich um." Das Verfahren wird eingestellt.

Nicht der erste Vorfall

Tatsächlich werden bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim mehrere Ermittlungsverfahren gegen Wilfried R. geführt: 2006 zeigt ein Laubenpieper ihn wegen Körperverletzung an. Er gibt zu Protokoll, dass R. auf ihn losgegangen sei, weil er "Gartenschnitt über den Zaun geworfen" habe und mit "seinem Rasenmäher zu weit über die Grenze" auf R. Grundstück gekommen sei. "Ich bring dich um. Du hast ein großes Maul. Ich reiß dir den Kopf ab", wurde der Gartennachbar laut Protokoll angeschrien und in den Bauch geboxt. Doch weil das Boxen "eher ein Schubsen" war, das "keine Schmerzen verursacht hat", stellt die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren ein. Auch dass R. regelmäßig die Nachbarn als "Scheiß-Polaken" oder "Scheiß-Türken" beschimpft, bleibt ohne Folgen. Kein öffentliches Interesse.

Im November 2007 muss die Polizei wieder anrücken, diesmal hat R. die Beamten gerufen. Mit scheinbar blutigem Gesicht steht er im Garten und behauptet, Sahin N. habe ihn geschlagen. "Das Blut sah verdächtig nach roter Farbe aus", erinnert sich ein Ermittler. Trotzdem nehmen die Beamten den Fall auf. R. gibt zu Protokoll, dass er sich über das falsch geparkte Auto von Sahin N. aufgeregt habe. "Wo hast du denn deinen Führerschein gemacht? In der Wüste Sahara?", will er Sahin N. "scherzhaft" gefragt haben. Darauf habe der Türke ihm einen "Faustschlag" ins Gesicht verpasst. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, verweist auf den Privatklageweg.

Die Lage im Gifhorner Kleingarten spitzt sich zu. Im Dezember 2007 steht die Laube von Sahin N. in Flammen; und auch zwei weitere Lauben, darunter die der Kaczmareks. Die Kaninchen kommen im Feuer um. R. zeigt den verhassten Nachbarn wegen Brandstiftung an, der wiederum erstattet Anzeige wegen falscher Anschuldigung. Zwar geht die Polizei davon aus, dass die drei Lauben angezündet wurden. Und dass R. der Einzige ist, der ein Motiv hat. Schließlich wollte er die "Scheiß-Türken" und "Scheiß-Polaken" loswerden. Doch beweisen kann man ihm nichts. Das Verfahren wird eingestellt.

Die erste Kapitulation

Sahin N. gibt seinen Garten auf. "Nachdem seine Laube in Flammen aufgegangen war, hatte er richtig Angst", erzählt Wilfried Breuer, zweiter Vorsitzender der "Steinrieder". Hans Kaczmarek dagegen bleibt hart, pachtet einen neuen Kleingarten - jetzt bei den wilden Laubenpiepern - und montiert Kamera-Attrappen über dem Dach der braun getünchten Bretterbude. Wilfried R. lässt sich nicht abschrecken. Sobald er Familie Kaczmarek im Garten sieht, fängt er Streit an. Einmal schneidet Hans Kaczmarek auf seinem Handy mit, wie der andere ihn bedroht: "Wer sich mit dem Teufel anlegt", schreit R. "Ich bin der Teufel." Kaczmarek spielt den Mitschnitt seinem Nachbarn Heinz Müller* vor. "Die fühlten sich bedroht", sagt Müller heute noch.

Am Montagabend, dem 22. September 2008, es ist gerade dunkel geworden, bringt Martin Kaczmarek seinem Nachbarn Heinz Müller* gegen 19.30 Uhr ein paar abgesägte Äste und Zweige als Brennholz vorbei. Er klönt kurz mit dem Nachbarn, erzählt, dass sein Mercedes zur Inspektion in die Werkstatt muss und "dass das bestimmt teuer wird". Dann verabschiedet er sich. Heinz Müller stapelt das Holz auf dem Hof. Plötzlich hört er Schreie. Ein Mann ruft um Hilfe. Dumpfe Schläge dringen über die Straße. Müller geht ins Haus, duscht, zieht sich um, isst Abendbrot.

Am nächsten Tag, gegen 16.30 Uhr, werden in einer der Parkbuchten, die R. mit seiner Mülltonne stillgelegt hat, die Leichen der Familie Kaczmarek gefunden. Heinz Müller entschuldigt sich: "Ich dachte, falls die Situation ernst ist, müssten doch Nachbarn reagieren, die näher dran sind." R. wird zwei Tage später auf einem abgelegenen Pferdehof entdeckt.

Aus Notwehr?

Wilfried R. bleibt sich treu. Im Verhör braust er auf, fährt Polizisten und dem Haftrichter über den Mund. Seine Aussage, sich für die Tat extra einen Knüppel geschnitzt zu haben, hat er inzwischen allerdings widerrufen. Er habe, behauptet er nun, die Gartennachbarn aus Notwehr erschlagen. Martin Kaczmarek soll ihn angegriffen, die Eltern dem Sohn geholfen haben.

Die Staatsanwaltschaft glaubt ihm nicht. Sie will das Ermittlungsverfahren in diesen Tagen abschließen. Wenn die Ermittler beweisen können, dass R. Martin Kaczmarek auflauerte, ihn von hinten erschlug und danach, um Zeugen zu beseitigen, auch dessen Eltern, wäre dies ein dreifacher Mord.

Am Maschendrahtzaun vor dem verwaisten Garten der Kaczmareks perlt der Regen an einer Klarsichtfolie ab, in der ein DIN-A4-Blatt steckt. "War es vorauszusehen, dass all die Streitigkeiten eines Tages in Mord gipfeln könnten?", ist darauf zu lesen. "Hätten wir alle, die wir die Aggressivität des Täters kannten, verhindern können, dass es so weit kommen konnte? Ein Gartennachbar."

* Namen von der Redaktion geändert

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