SS-Chef Himmler:Terminsache Massenmord

Heinrich Himmler

Bürokrat der Vernichtung und zweiter Mann im NS-Staat: Heinrich Himmler

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)
  • Wichtige Teile des Dienstkalenders von SS-Chef Heinrich Himmler galten als verloren.
  • Nun liegt eine aufwendige Edition vor- sie zeigt ein facettenreiches Bild des Managers des Terrors.

Rezension von Rudolf Walther

Ein Kalender ist kein Buch, sondern ein Rohdatenhaufen. Denn in Kalendern stehen - im Unterschied zu Tagebüchern - nur Ort und Zeit von Besprechungen, Ereignissen, geselligen Veranstaltungen sowie Namen und Funktion von Gesprächspartnern und Kurznotizen über nichtdienstliche Aktivitäten und Termine. Vor einigen Jahren wurden in einem Moskauer Archiv die verloren geglaubten Dienstkalenderblätter Heinrich Himmlers für die Zeit vom 1. Januar 1943 bis 14. März 1945 entdeckt, also für 804 Tage.

Nur für sechs Tage fehlen die Blätter des Kalenders. Ein lesbares und obendrein höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Buch wurde aus dem Datenhaufen auf den Kalenderblättern erst durch die ingeniöse Feinarbeit von fünf Historikern - Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu und Dieter Pohl.

Mit bewundernswürdiger Präzision haben sie in Kooperation mit Archivaren und Bibliothekaren die Rohdaten aus Himmlers Dienstkalender, aus seinem handschriftlich geführten Tischkalender sowie aus seinen Telefonbuchnotizen ergänzt und sachkundig kommentiert.

Sie stützen sich dabei auf Quellenmaterial in den Archiven, auf Literatur zum historischen Kontext und wissenschaftliche Literatur, die sich auf das bezieht, was Himmler besprach, veranlasste oder verbot, was er kommentierte oder kaschierte.

Erst durch diese akribische Dokumentation und Einordnung der Kalenderblätter der fünf Historiker gewinnen diese Konturen, die sich für den Leser zu einem facettenreichen Bild des Managers des Terrors und zu einer nuancierten Darstellung des arbeitsteilig und bürokratisch organisierten Verbrechens zusammenfügen.

Orientiert an nationalistisch-völkisch-militaristischen Ressentiments

Es waren keine irren Monster, die die Vernichtung des europäischen Judentums planen und durchführen ließen, sondern Männer einer durch die Kriegsniederlage von 1918, die missratene Revolution und den verbiesterten Frieden von Versailles geprägte, akademisch gebildete Generation.

Diese orientierte sich mental und emotional an Ideen, die auf nationalistisch-völkisch-militaristischen Ressentiments beruhten. Deren ideologische Basis bildete der hetzerische Dualismus von Freund und Feind, der nach der Wirtschaftskrise von 1929 das Weltbild der bürgerlichen Eliten total und fast der Mehrheit der deutschen Bevölkerung vergiftete.

In diesem politischen Klima wurde für Heinrich Himmler, Sohn eines bildungsbürgerlich-katholischen Gymnasiallehrers, im völkisch-antisemitischen Dunst Münchens in den 20er-Jahren die verrückt erscheinende Idee der Vernichtung der Juden zum zentralen Lebensthema: "Das Wichtigste ist mir nach wie vor, dass jetzt an Juden nach Osten abgefahren wird, was überhaupt nur menschenmöglich ist" (9.4.1943).

Er wurde Ende der 30er-Jahre, mit noch nicht 40 Jahren, zum "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei" und damit zu dem nach Hitler mächtigsten Mann. Er verfolgte drei Ideen, die sich zum historisch-weltanschaulich verbrämten Irrsinn eines "Germanentums" amalgamierten - einem wüsten Gemisch aus rassistisch-nationalistischem Wahn, germanisch-arisch-deutscher Volkstumsideologie und unbegrenztem Vertrauen auf Gewalt als Mittel der Politik.

Was das im Alltag bedeutete, verrät der Dienstkalender nicht, wohl aber die Kommentierung und quellengestützte Kontextualisierung der Herausgeber. So schlug Himmler am 8. Februar 1943, an dem es eher um Routinesachen ging, seinem Stabschef vor, rund um die Außenanlagen der KZ Gassen zwischen Drahtverhauen zu errichten, in denen Hunde laufen sollten, die "mit Ausnahme ihres Wärters jeden anderen zerreißen".

Vier Tage später verzeichnet sein Dienstkalender für den 12. Februar lapidar: "Besichtigung des SS-Sonderkommandos". Die Historiker bargen aus archivalischen Quellen den tatsächlichen Vorgang: Himmler ließ sich im Vernichtungslager Sobibor die Wirkung von Gas demonstrieren.

Weil kein Häftlingstransport eintraf, improvisierten SS-Gruppenführer Odilo Globocnik und sein Kollege Friedrich Wilhelm Krüger und beschafften 200 jüdische Mädchen und Frauen, deren Ermordung mit Motorabgas Himmler beiwohnte. Dann versprach Himmler Globocnik "für die besonderen Leistungen dieser harten Aufgabe (...) nach Abschluss der Arbeiten" eine Auszeichnung.

Das bezog sich auf die "Aktion Reinhardt", also den Massenmord an 250 000 Juden in Sobibor. Im Herbst 1943 gab Himmler dem Chef des SS-Wirtschafts- und Verwaltungsamtes den Befehl, Wehrmachtsschuhe von Häftlingen im KZ Sachsenhausen testen zu lassen.

Entscheidend war für Himmler der fast unbeschränkte Zugang zu Hitler

170 schlecht ernährte Häftlinge mussten auf einer nur 700 Meter langen Teststrecke bis zu 48 Kilometer zurücklegen. Täglich starben dabei 15 bis 20 Menschen vor Erschöpfung oder wurden erschossen.

Am 27. Oktober 1943 befahl Himmler, bevorzugt SS-Männer zu befördern, die sich im Kampf gegen Partisanen und Juden "in brutalster Form ausgezeichnet hatten".

Wie ein roter Faden zieht sich durch den Dienstkalender Himmlers idée fixe des Niedergangs der "völkischem" Entwicklung des Reiches. Dies motivierte ihn dazu, medizinische Untersuchungen an "fremdvölkischen" KZ-Häftlingen zu bewilligen.

Bei diesen Experimenten starben zahllose Menschen. Junggesellen in Hitlers Wachmannschaft ließ Himmler am 26. November 1944 befragen, "was sie bisher getan haben, um ihr Ledigsein bald aufhören zu lassen".

Einem SS-Mann gratulierte er zwei Monate vor dem Ende des Weltkriegs zum achten Kind und übernahm die Patenschaft für das neugeborene Mädchen.

Notorisch kehren seine Bemühungen wieder, die Ehefrauen von Frontsoldaten "für gemeinsame Urlaubstage" mit ihren Männern in Erholungsheime der SS einzuladen (19.6., 25.8., 2.10.1943). Geradezu skurril erscheint die Anordnung, Untersuchungen zur "Bekämpfung der Sterilität durch Moorbäder" fortzusetzen oder SS-Männer darüber aufzuklären, "wann Frauen am besten Kinder bekommen."

Den Wunsch eines Gestapo-Mitarbeiters, eine 50-jährige Frau zu heiraten, beschied Himmler negativ, "da aus dieser Ehe keine Kinder zu erwarten" seien und empfahl, den Heiratswilligen "in das schwierigste Bandenkriegsgebiet zu versetzen" (17.6.1943).

Himmler war machtbewusst und wusste, wie man Macht erringt, sichert und mehrt. Er hatte fast ein Dutzend Ämter inne, das wichtigste war das des Reichsführer-SS. Mit der Schaffung seiner Gefolgschaft von gewissenlos-ergebenen Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF) baute er seine Macht über das besetzte Europa aus.

Entscheidend war aber der fast unbeschränkte Zugang zum "Führer". Von 1943 bis März 1945 trafen sich Hitler und Himmler 168 Mal, also etwa alle fünf Tage. Mit seiner Ernennung zum Innenminister am 20. August 1943 und zum Befehlshaber des Ersatzheeres am 20. Juli 1944 gelangte er an die Spitze.

Als besonderen Dank für einen Terrorgehilfen gab es eine Kur in Karlsbad

Mit Hitler verband ihn besonders der Ausbau der SS, die Himmler zwischen Dezember 1942 von 246 000 Mann auf 600 000 Mann im Frühjahr 1944 ausbaute.

Am 21. März 1943 ernannte Himmler Erich von dem Bach-Zelewski, HSSPF Russland Mitte und Kommandant der Einsatzgruppe B, zum Chef der Bandenkampfverbände, die in Russland, Weißrussland und auf dem Balkan Zehntausende Partisanen, Juden und andere Zivilisten ermordeten.

Von dem Bach leitete auch die Niederschlagung des Warschauer Aufstands im Herbst 1944, in deren Verlauf 100 000 Polen zur Zwangsarbeit nach Deutschland und 60 000 Juden nach Auschwitz deportiert wurden.

Als Dank für die "Ausräumung des Weichselkessels" und für die Unterstützung bei der Absetzung des "Reichsverwesers" Miklós Horthy in Budapest ("Operation Panzerfaust") gewährte Himmler seinem skrupelfreien Gehilfen eine Kur in Karlsbad und verschaffte ihm eine Ju-52 als leistungsfähiges Dienstflugzeug und Ersatz für eine kleine Maschine.

SS-Chef Himmler: Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu, Dieter Pohl (Hg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945. Piper Verlag, München 2020. 1148 Seiten, 48 Euro.

Matthias Uhl, Thomas Pruschwitz, Martin Holler, Jean-Luc Leleu, Dieter Pohl (Hg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945. Piper Verlag, München 2020. 1148 Seiten, 48 Euro.

Die Loyalität seiner mörderischen Untergebenen sicherte sich von dem Bach, indem er an sie Uhren und andere Wertgegenstände verteilte, die er zuvor Juden rauben hatte lassen.

In seinem Tagebuch notierte der Massenmörder von Himmlers Gnaden: "Gewiss ist die Liquidierung von Frauen und Kindern ein Verbrechen. (...) Mein Gewissen ist jedenfalls rein geblieben, denn ich habe stets die menschliche Linie vertreten, auch dort, wo ich hassen muss".

Seine organisatorischen Fähigkeiten bewies Himmler mit dem forcierten Ausbau des KZ-Systems, das zum Rückgrat der Rüstungsindustrie wurde.

Die Zahl der dafür gebauten Außenlager stieg bis Kriegsende auf mehr als 1000 und jene der Häftlinge von 120 000 im Jahr 1943 auf 718 000 Ende 1944.

Privat führte Himmler ein Doppelleben - er hatte eine Zweitfamilie

Privat führte Himmler ein abgeschirmtes Doppelleben mit Ehefrau und Tochter am Tegernsee, wohin er selten fuhr, und seiner ehemaligen Sekretärin in Mecklenburg, mit der er zwei uneheliche Kinder zeugte, deren Vaterschaft er diskret anerkannte.

Bei der Geliebten hielt er sich im Unterschied zur Ehefrau oft auf und kaschierte diese Abstecher in seinem Dienstkalender als "Inspektionsreise" oder mit dem Hinweis "unterwegs".

Uneingeschränkten Respekt verdienen die fünf Herausgeber für ihre wissenschaftliche und editorische Pionierleistung.

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