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Artikel 33 / 91

»ICH SEHE DEN STURM AUFZIEHEN

aus DER SPIEGEL 42/1965

5. Fortsetzung und Schluß

Kennedys Triumph

Am 9. Oktober 1962 genehmigte Präsident Kennedy den Flug eines U-2-Aufklärers über die Westspitze Kubas. Hauptzweck des Fluges war es, Informationen über die Ansammlung sowjetischer Raketen auf der Insel zu erhalten.

Schlechtes Wetter, verzögerte den Flug. Erst am 14. Oktober, einem wolkenlosen Sonntag, flog die Maschine in großer Höhe von Süden nach Norden über den Westen Kubas dahin.

Noch am gleichen Abend wurden die Filmstreifen genau geprüft und analysiert und mit früheren Aufnahmen verglichen. Am folgenden Tag studierten die ungewöhnlich begabten Photo-Experten des US-Geheimdienstes CIA das Material ein zweites Mal, und am späten Nachmittag entdeckten sie im Gebiet von San CristÒbal die ersten rohen Anfänge eines Stützpunktes für sowjetische Mittelstrecken-Raketen, die, mit einem Atomsprengkopf von 20- bis 30facher Stärke der Hiroshima-Bombe, zahlreiche Ziele in den Vereinigten Staaten erreichen konnten.

Am Montagabend (15. Oktober) waren die Experten ihrer Sache so sicher, daß sie zwischen 20 und 22 Uhr die höchsten CIA-Beamten unterrichteten. Diese wiederum alarmierten die Chefs

der militärischen und politischen Nachrichtendienste und den Sicherheits -Beauftragten des Präsidenten, McGeorge Bundy.

Bundy bemerkte sofort, daß der Vorfall von höchster Wichtigkeit war. Er entschied sich jedoch dafür - und ich glaube zu Recht -, Kennedy nicht gleich anzurufen, sondern ihm erst am nächsten Morgen bis ins einzelne zu berichten.

Der Präsident sah gerade die Morgenzeitungen durch, als Bundy gegen neun Uhr das Schlafzimmer im Weißen Haus betrat und die Neuigkeiten meldete. Kennedy war zwar über die Täuschungsversuche des sowjetischen Ministerpräsidenten verärgert, der mehrfach versichert hatte, die Sowjet-Union werde Kuba keinerlei Angriffs-Raketen liefern, nahm die Nachricht jedoch ruhig, wenn auch überrascht auf.

Er hatte nicht erwartet, daß die Sowjets an einem Punkt wie Kuba so unüberlegt und gefährlich vorgehen würden, und hatte - vielleicht zu bereitwillig - die Ansichten der Experten akzeptiert, solch eine Konzentration von Kernwaffen in der Karibischen See sei mit der sowjetischen Politik unvereinbar. Trotzdem war auch mit dieser Möglichkeit gerechnet worden. Gerade deshalb hatte Kennedy die Flüge der U-2-Aufklärer angeordnet. Er bat Bundy, für die Vorlage des Materials am selben Vormittag, zuerst vor dem

Präsidenten allein und dann vor einer Reihe von Beamten, zu sorgen.

Als Kennedy in seinem Büro eingetroffen war, ließ er mich kommen. Er forderte mich auf, um 11.45 Uhr an der Sitzung im Kabinettsraum teilzunehmen und inzwischen seine öffentlichen Erklärungen darüber, wie wir auf Angriffs -Raketen in Kuba reagieren würden, zu überprüfen.

Zu der Zeit, als er diese Erklärungen abgegeben hatte, mag er daran gezweifelt haben, daß er jemals gezwungen sein würde, nach ihnen zu handeln. Aber um elf Uhr, als der stellvertretende CIA-Direktor General Carter die U-2-Photos mit den Kommentaren eines Photo-Analytikers vor ihm ausbreitete, waren alle Zweifel beseitigt: Die sowjetischen Raketen waren da. Nach Reichweite und Zweck waren es Angriffs-Waffen, und sie würden bald einsatzbereit sein.

Um 11:45 Uhr (16. Oktober) begann die Sitzung im Kabinettssaal, an der neben anderen Außenminister Rusk, Verteidigungsminister McNamara, Justizminister Robert Kennedy, Finanzminister Dillon, Bundy, einige Staatssekretäre und Beamte des Geheimdienstes teilnahmen. Zum erstenmal sah ich jetzt die entscheidenden Luftaufnahmen, als General Carter und die Photo-Experten die Beweise für die Installierung von Sowjet-Raketen auf Kuba herauskristallisierten.

Kaum erkennbare Striche entpuppten sich als Kraftfahrzeug-Parks, Abschuß -Rampen und Spezialfahrzeuge für den Transport von Raketen, manche mit 20 Meter langen Raketen bestückt. Sie sähen aus, meinte der Präsident, »wie kleine Fußbälle auf einem Fußballplatz«, und waren kaum zu erkennen.

Sowjetische Mittelstrecken-Raketen sagte Carter, könnten Ziele in rund 1800 Kilometer Entfernung treffen. Washington, Dallas, Cape Canaveral, St. Louis und alle Stützpunkte des Strategischen

Bomber-Kommandos (SAC) lägen in ihrem Zielbereich. Man schätzte, daß 16 bis 24 Raketen in 14 Tagen einsatzbereit sein würden.

Auf den Photos konnten Hinweise für eine Lagerung von Atomsprengköpfen nicht entdeckt werden; aber niemand zweifelte daran, daß die Sprengköpfe vorhanden waren oder bald in Kuba sein würden.

Im Laufe der Woche wurden weitere Stellungen für Mittelstrecken-Raketen ausgemacht, insgesamt waren es sechs. Sie waren nicht mehr nur »für den raffiniertesten Experten«, wie der Präsident sich ausdrückte, erkennbar.

Der buchstäblich meilenlange Film von der Insel - die täglich durch sechs bis sieben Flüge ganz erfaßt wurde - enthüllte jetzt auch Ausschachtungen für drei Langstrecken-Raketen-Basen. Diese Raketen mit einer Reichweite von rund 3500 Kilometern bedrohten praktisch jeden Winkel der USA.

Auch Gebiete, die auf früheren Luftaufnahmen deutlich als Felder und Wälder zu erkennen waren, durchzog plötzlich ein Netz von Straßen. Zelte, Ausrüstungs-Lager und Gebäude wurden von sowjetischem Personal scharf bewacht.

Trotz der ermüdenden Dauer und der anfänglich scharfen Meinungsverschiedenheiten beherrschten wir uns bei den Sitzungen, soweit wir konnten. Jeder wechselte mehr als einmal in dieser Woche seine Ansicht über den einzuschlagenden Kurs - nicht nur, weil neue Tatsachen und Argumente bekannt wurden, sondern weil, wie Kennedy sagte, »jeder Kurs, den wir auch einschlagen, viele Nachteile hat und jeder ... die Aussicht eröffnet, die Sowjet-Union in einen Atomkrieg hineinzusteigern«.

Die Sowjets hatten am 11. September gewarnt, jedes militärische Eingreifen der Vereinigten Staaten gegen Kuba würde den Atomkrieg entfesseln. Was würde Chruschtschow wirklich tun, wenn wir die Raketen-Stellungen bombardierten oder eine Blockade über die Insel verhängten oder auf Kuba landeten?

Zu den Punkten, die auf der Liste etwaiger Ziele einer sowjetischen Vergeltung standen, gehörten West-Berlin (bei jedem von uns an erster Stelle der Liste und daher Gegenstand eines vom Präsidenten eingesetzten Unterausschusses), die Türkei (weil unsere dort stationierten Jupiter-Raketen höchstwahrscheinlich als Gegenstück zu den sowjetischen Raketen in Kuba bezeichnet werden würden), der Iran (wo die Sowjets einen taktischen Vorteil, vergleichbar dem unserigen im karibischen Raum, und ein traditionelles Vormachtstreben hatten), Pakistan, Skandinavien und Italien.

Die Tatsache, daß Chruschtschow bereits einen großen Fehler in seiner Rechnung gemacht hatte - indem er glaubte, ungestraft Raketen auf Kuba stationieren zu können -, erhöhte die Gefahr, daß er noch mehr Fehler machen würde.

Wir konnten nicht einmal sicher sein, daß die von Kuba ausgehende sowjetische Bedrohung unserer Sicherheit auf unsere Verbündeten Eindruck machen würde. Westeuropa kümmerte sich nicht um Kuba und hielt uns in diesem Punkt für überängstlich.

Man hatte sich dort längst daran gewöhnt, Tür an Tür mit den sowjetischen Raketen zu leben. Würde man uns unterstützen, wenn wir einen Weltkrieg oder einen Angriff auf das Nato-Mitglied Türkei oder einen Vorstoß gegen West-Berlin riskierten, weil wir jetzt ein paar Dutzend feindlicher Raketen in nächster Nähe hatten?

Der Präsident bat Außenminister Rusk, eine Analyse der möglichen Gegenmaßnahmen unserer Verbündeten vorzubereiten, und der Minister gab uns auf der Sitzung in seinem Ministerium am Mittwochnachmittag einen Überblick darüber.

Rusk betonte, daß unsere Reaktion auf die Raketen-Drohung den Sowjets einen Ausweg lassen müßte, daß aber auch dann die Zweifel der Verbündeten bestehen blieben. Als er geendet hatte, fragte ich: »Wollen Sie damit wirklich sagen, daß die Verbündeten und die südamerikanischen Staaten, wenn wir stark reagieren, sich gegen uns, und wenn wir schwach reagieren, sich von uns abwenden werden?«

Rusk erwiderte: »So etwa ist es.« Es folgte ein Augenblick düsteren Schweigens, bis General Taylor meinte: »Na, dann fröhliche Weihnachten!«

Am Mittwoch (17. Oktober) flog Präsident Kennedy nach Connecticut, um einen Wahlkampf-Termin einzuhalten; eine Absage hätte nur Verdacht erregt. Vizepräsident Johnson setzte seine Wahlreise ebenfalls fort; er flog in den Westen.

Das Berater-Team traf sich wieder im Konferenzsaal des Außenministeriums und erzielte einige Fortschritte bei der Definition der strittigen Fragen. Als wir eine Abendbrotpause bis 21 Uhr einlegten, kamen Justizminister Robert Kennedy und ich überein, den Präsidenten vom Flugplatz abzuholen. Es war nach 21 Uhr, als seine Maschine landete. Wir warteten in seinem Wagen, um jedes Aufsehen zu vermeiden.

Ich habe noch in lebhafter Erinnerung, wie der lächelnde Wahlredner aus dem Flugzeug stieg, den Zuschauern lässig zuwinkte und dann, als er sich in den Wagen setzte, die Maske abwarf und die Last der Krise auf sich nahm. »Na, dann los, Bill«, sagte er zu dem Fahrer.

Auf der Fahrt zum Weißen Haus stopften wir alles in ihn hinein. Ich hatte ein Memorandum von vier Seiten verfaßt, das die Punkte zusammenfaßte, in denen wir Berater übereinstimmten oder verschiedener Meinung waren. Die Denkschrift enthielt auch eine Zusammenstellung möglicher Reaktionen der Vereinigten Staaten auf die sowjetische Raketen-Drohung und - als Längstes - eine Liste aller noch unbeantworteter Fragen.

Am 18. Oktober hatte der Präsident im Weißen Haus eine schon lange vorgesehene zweistündige Besprechung mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko, der sich zur Uno-Tagung in den USA aufgehalten hatte und jetzt nach Moskau zurückkehren wollte. Wir fragten uns, ob dies der Augenblick sei, den die Sowjets ausersehen hatten, Kennedy ihrer neuen Drohung zu konfrontieren, und wir waren uns alle einig, daß der Präsident Gromyko gegenüber verschweigen sollte, was wir wußten.

Der schlaue sowjetische Außenminister hätte auf die Idee kommen können, die Vorgänge auf Kuba von der Treppe des Weißen Hauses herab bekanntzugeben, was Kennedy unbedingt verhindern wollte. Er war überzeugt, daß er selbst die Bevölkerung der Vereinigten Staaten mit den Tatsachen bekannt machen müßte, um ihr Vertrauen und die Initiative zu behalten. Zugleich wollte der Präsident mitteilen, was unternommnen werden sollte, um der Bedrohung zu begegnen.

Er war voller Sorge vor der Besprechung, brachte es aber fertig zu lächeln, als er Gromyko und Botschafter Dobrynin in seinem Amtsraum empfing. Gromyko, der auf dem Sofa neben dem Schaukelstuhl des Präsidenten saß, vermied nicht nur jede Erwähnung der Angriffs-Raketen auf Kuba, sondern setzte die Täuschung fort, daß keine da seien.

Das Hauptthema war Berlin, und dabei war Gromyko zäher und hartnäckiger denn je. Wenn nach den amerikanischen Wahlen keine Lösung in Sicht sein sollte, sagte er, würden die Sowjets mit der DDR, wie angekündigt, einen separaten Friedensvertrag abschließen. »Es paßte alles so gut zusammen«, sagte der Präsident später zu mir, »alles spitzte sich auf einmal zu - die Fertigstellung der Raketen-Stützpunkte, Chruschtschows Besuch in New York, ein neuer Vorstoß gegen Berlin. Wenn dieser Vorstoß sowieso kommt, werde ich mir nicht einreden lassen, daß eine Blockade Kubas ihn provoziert hat.«

Dann kam der Sowjet-Minister auf Kuba zu sprechen, nicht mit Entschuldigungen, sondern mit Beschwerden. Er erwähnte die Resolution des US-Kongresses, die Ermächtigung, Reservisten einzuberufen, und die Einmischung der Vereinigten Staaten in die Angelegenheiten einer kleinen Nation.

Gromyko nannte unsere Beschränkungen für die Schiffahrt der Verbündeten eine »Handelsblockade - eine Verletzung des internationalen Rechtes«, und meinte, »dies alles kann nur zu einem großen Unglück für die Menschheit führen ... Wie könnte die sowjetische Regierung einfach dasitzen - und die Lage untätig beobachten... wenn eine Aggression geplant werde und Kriegsgefahr auftauche?«

Kennedy blieb teilnahmslos; er äußerte sich weder zustimmend noch ablehnend zu Gromykos Behauptungen. Er zeigte auch keine Anzeichen von Spannung oder Verärgerung. Um aber bei seinem Gegner keinen falschen Eindruck zu erwecken, ließ er die Erklärung vom September kommen, in der er die Sowjet-Union vor der Stationierung von Angriffs-Raketen auf Kuba gewarnt hatte, und las sie vor.

»Gromyko muß sich gefragt haben, warum ich sie ihm vorlas«, sagte er später, »aber er reagierte nicht.«

Als Gromyko an diesem Donnerstagabend um 20 Uhr im Smoking zu einem Essen im achten Stock des Außenministeriums eintraf, tagte das Berater-Team des Präsidenten im siebenten Stock (ohne Rusk und Moskau-Botschafter Thompson, die an dem Essen teilnahmen).

Obgleich wir erst seit drei Tagen (die uns wie dreißig vorkamen) berieten, wurde die Zeit knapp. Starke militärische Bewegungen der Vereinigten Staaten waren bisher mit lange geplanten Flottenmanövern im Karibischen Meer und einer früher gemeldeten Verstärkung von Castros Luftwaffe erklärt worden. Aber das Geheimnis würde bald durchsickern, meinte der Präsident, und die Raketen würden bald einsatzbereit sein.

Die Mehrheit der Berater befürwortete jetzt die Blockade Kubas. Wir waren nun soweit, dem Präsidenten die ganze Skala der Alternativen und Fragen vorlegen zu können.

George Ball (stellvertretender US -Außenminister) ordnete an, daß die vor dem Hauptportal in auffallender Menge wartenden Dienstwagen sich verteilten, um keinen Verdacht zu erregen. Mit Ausnahme von Edwin Martin (Südamerika-Referent im Außenministerium), der zu Fuß gehen wollte, zwängten wir uns für die kurze Fahrt zum Weißen Haus alle in die Limousine des Justizministers.

»Wenn der Wagen einen Unfall hat, wird sich was tun«, witzelte einer.

In dem ovalen Arbeitszimmer des Präsidenten wurden die Alternativen erörtert. Es wurde sowohl die Blockade als auch der Vorschlag, einfach mit der Gefahr zu leben, vertreten.

Kennedy war aus dem Lager der Befürworter des Luftangriffes bereits in das Lager der Befürworter einer Blockade hinübergewechselt. Ihm gefiel der Gedanke, Chruschtschow einen Ausweg zu lassen und auf einer unteren Stufe anzufangen, von der aus man steigern konnte.

Am nächsten Tag wurden die Kommandostellen im Atlantik und im Karibischen Meer für den Fall von Luftangriffen auf den Panama-Kanal und andere Ziele in Castros Reichweite in Alarmbereitschaft versetzt. Alle Botschafter der USA in Südamerika, die auf Urlaub oder zu Besprechungen abwesend waren, wurden auf ihre Posten zurückgerufen. Nach dem Essen mit Gromyko erörterten Rusk und Thompson die Beschlüsse dieses Abends mit Martin und Johnson.

Aber eine endgültige Entscheidung war noch nicht gefallen, und am Freitagmorgen, dem 19. Oktober, schien sie ferner denn je zu sein.

Kennedy, der sich zum Abflug für ein Wahlkampf-Wochenende im Mittelwesten vorbereitete, ließ mich zu sich rufen. Er hatte gerade mit den Stabschefs gesprochen, die den Luftangriff oder die Invasion vorzogen, und alle anderen Ratgeber hatten Zweifel geäußert.

Der Präsident war ungeduldig und entmutigt. Er rechnete damit, wie er sagte, daß sein Bruder Bob und ich das Berater-Team bald mitreißen würden

- sonst beeinträchtigten Verzögerungen

und Meinungsverschiedenheiten jede Entscheidung, welche er auch immer treffen würde.

Er wollte bald handeln, möglichst am Sonntag, und Bob sollte ihn zurückrufen, sobald wir einen Entschluß gefaßt hätten.

Bei unseren Sitzungen an jenem Vormittag wurden zum großen Teil dieselben Argumente wiederholt. Zuerst wurden die Einwände gegen die Blockade, dann die Einwände gegen die Luftangriffe aufgezählt. Diejenigen, die am Abend oder an den letzten Tagen nicht dabeigewesen waren, machten denselben Prozeß durch, den wir anderen vorher durchgemacht hatten.

In jener Nacht arbeitete ich - gestärkt durch die erste warme Mahlzeit in der ganzen Woche - bis drei Uhr morgens an dem Entwurf der Rede, mit der Kennedy die Öffentlichkeit informieren und Gegenmaßnahmen ankündigen wollte. Zu den Texten, die ich zu meiner Information las, gehörten die Reden von Wilson und Roosevelt mit den Kriegserklärungen der beiden Weltkriege. Am Sonnabendmorgen um neun Uhr wurde mein Entwurf besprochen, ergänzt und allgemein gutgeheißen - und kurz nach zehn Uhr riefen wir den Präsidenten nach Washington zurück.

»Der Präsident hat sich erkältet«, verkündete Pressechef Pierre Salinger den Journalisten im Weißen Haus, die Kennedy nach Chikago begleitet hatten. Kennedy war wirklich erkältet; aber das war kein Faktor, der bei dem Beschluß zur Rückkehr mitspielte.

Ehe der Präsident in sein Flugzeug stieg, rief er seine Frau in Glen Ora an und bat sie, mit den Kindern ins Weiße Haus zurückzukommen. Keine andere Entscheidung seines Lebens würde mit

dieser zu vergleichen sein, und er wollte seine Familie bei sich haben.

Als die Entscheidung gefallen war, fragte er Jacqueline, ob sie es nicht vorziehe, Washington zu verlassen, wie es manche taten; sie könnte sich in der Nähe des Luftschutzbunkers aufhalten, in den die Präsidentenfamilie im Falle eines Angriffs evakuiert werden sollte, wenn noch so viel Zeit war. Jacqueline antwortete mit Nein: Wenn ein Angriff komme, ziehe sie es vor, in sein Büro zu kommen und sein Schicksal zu teilen, was es auch sein möge.

Der Hubschrauber des Präsidenten landete kurz nach 13.30 Uhr. Nachdem Kennedy den Rede-Entwurf gelesen hatte, plauderten wir ganz entspannt in seinem Büro bis zu der entscheidenden Sitzung, die für 14.30 Uhr vorgesehen war.

Die Beratungen fanden wieder im ovalen Arbeitszimmer des Präsidenten statt. Wir trafen zu verschiedenen Zeiten vor verschiedenen Portalen des Weißen Hauses ein, um den allmählich wachsenden Verdacht der Presse zu zerstreuen. Der Präsident bat zunächst Geheimdienst-Chef McCone, das neueste photographische und sonstige Nachrichtenmaterial zu erläutern.

Als McCone geendet hatte, entstand ein kurzes, verlegenes Schweigen. Es war die schwierigste und gefährlichste Entscheidung, die je ein Präsident zu treffen hatte, und nur er konnte sie treffen. Kein anderer trug seine Last, und keiner hatte seinen Überblick.

Da kam ihm ein Berater, der bei Sitzungen mit dem Präsidenten in Gegenwart des Verteidigungsministers - gewöhnlich nicht viele Worte machte, zu Hilfe. »Im Grunde genommen, Herr Präsident«, sagte er, »ist es die Wahl zwischen einem begrenzten und einem unbegrenzten Einsatz, und die meisten von uns halten es für besser, mit dem begrenzten Einsatz zu beginnen.« Der Präsident nickte zustimmend.

Die Befürworter des Luftangriffes und der Invasion sollten wissen, sagte er, daß auch diese Alternativen für die Zukunft keineswegs ausgeschlossen seien. Die in dem Entwurf der Rede enthaltene Kombination von Maßnahmen ließ nicht nur einen Stillstand der Vorbereitungen erwarten, sondern sah auch den Abzug der Raketen durch die Russen oder durch uns vor. Sie erhielt dem Präsidenten die Freiheit des Handelns und ließ auch Chruschtschow eine Wahl.

Das war wichtig zwischen Atommächten. Kennedy wünschte, daß unser Eingreifen sich gegen den Angriff der anderen Atommacht, nicht gegen Castro richtete. »Vor allem«, sagte er Monate später, »müssen Atommächte, auch wenn sie ihre eigenen lebenswichtigen Interessen verteidigen, solche Konfrontationen vermeiden, die dem Gegner nur die Wahl zwischen einem demütigenden Rückzug und einem Atomkrieg lassen.«

Chruschtschow hatte diese Krise ausgelöst; aber die Antwort durch eine Blockade könnte die Eskalation verlangsamen, statt den Sowjet-Premier in ein nicht wieder gutzumachendes-Abenteuer zu stürzen. Sie wendete genug militärischen Druck an, um unseren Willen zu zeigen, aber nicht so viel, um eine friedliche Lösung unmöglich zu machen.

Mit großer Entschiedenheit gebrauchte der Präsident den Ausdruck »Quarantäne« als weniger aggressiv und für einen Akt der friedlichen Selbsterhaltung passender als »Blockade«.

Dann fragte er nach den Plänen für Berlin. Die Sowjets würden dort einen Vorstoß machen, glaubte er; aber sie würden es wohl in jedem Fall tun, und vielleicht würde dieser Beweis von Stärke sie zum Nachdenken bringen.

»Das Schlimmste, was wir tun könnten, wäre, nichts zu tun.« Ich merkte mir in Gedanken vor, diesen Satz in die Rede hineinzubringen. »Es gibt keine gute Lösung«, fuhr er fort, »welchen Plan ich auch wähle; diejenigen, deren Vorschläge wir nicht berücksichtigen, sind die Glücklichen - sie werden in acht bis 14 Tagen sagen können: ,Ich habe es ja gesagt.' Aber dieser Plan ist wenigstens das kleinste Übel.«

Die Rede wurde auf Montag, den 22. Oktober, 19 Uhr (von den Fernsehleuten als Stunde P bezeichnet), festgesetzt, und für Sonntag wurde eine neue Sitzung einberufen.

Dann kehrten wir in unsere Büros zurück. Der Rede-Entwurf wurde in Umlauf gesetzt und neu gefaßt. Die Proklamation der Quarantäne wurde entworfen, ebenso ein Schreiben an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Briefe an die Staatschefs, ein Brief an den Bürgermeister von West-Berlin und eine Mitteilung zur Unterrichtung Chruschtschows.

Ex-Präsident Eisenhower wurde im Hubschrauber aus Gettysburg geholt, um zum zweitenmal in dieser Woche von CIA-Chef McCone informiert zu werden. Der Vizepräsident kehrte von seiner Wahlreise auf Hawaii zurück; er hatte sich an der Erkältung des Präsidenten angesteckt.

Die Stabschefs wiesen die Oberkommandierenden an, sich auf die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens vorzubereiten. Sie befahlen, den US-Stützpunkt von Guantánamo auf Kuba zu verstärken und die Angehörigen zu evakuieren.

Der frühere Außenminister Acheson, der zu Anfang der Woche vorgeschlagen hatte, einen Sonderbotschafter von

hohem Rang zur Unterrichtung von Staatspräsident de Gaulle und der Nato nach Paris zu schicken, wurde gebeten, selbst zu reisen. Er reiste auch nach London und Bonn.

Die Entsendung von Truppen, Flugzeugen und Schiffen nach Florida und dem Karibischen Meer, die Unauffindbarkeit von hohen Beamten, die Einladung an die Kongreßführer, die Aktivität am Sonnabendabend und Sonntag, die Absage der Wahlreisen des Präsidenten und des Vizepräsidenten und die Notwendigkeit, einen größeren Kreis von Beamten zu informieren bedeuteten, daß die schönen Stunden unserer Geheimhaltung gezählt waren.

Die Washingtoner und New Yorker Zeitungen stellten schon Vermutungen an. Die Verleger wurden gebeten, nichts ohne Nachprüfung zu veröffentlichen. Eine Zeitung bekam die Nachricht von

bevorstehenden Aktionen am Sonntagabend und erklärte sich auf persönliches Ersuchen des Präsidenten bereit, sie nicht zu bringen.

Es war »das am besten gehütete Geheimnis in der Geschichte der amerikanischen Regierungspolitik«, sagte der Präsident, ebenso erstaunt wie erfreut. In dieser Woche wußten sehr wenige Menschen außerhalb des Kreises der 15 Eingeweihten, ihrer Frauen und einiger ihrer Sekretärinnen von diesen Dingen.

Wir trugen uns nicht mehr in das Meldebuch am Portal des Außenministeriums ein, benutzten verschiedene Eingänge zum Ministerium und zum Weißen Haus und hielten, wenn irgend möglich, die üblichen Termine ein.

Am Sonntag, dem 21. Oktober, kam der Präsident um 14.30 Uhr wieder zum Nationalen Sicherheitsrat. Er bat den Stabschef der Marine, Admiral Anderson, die Pläne und das Verfahren für die Blockade zu beschreiben. Zunächst, sagte der Admiral, werde jedes sich nähernde Schiff aufgefordert zu stoppen, damit wir an Bord gehen und es durchsuchen können. Wenn keine befriedigende Antwort erfolgen sollte, würde ein Schuß vor den Bug abgefeuert werden. Wenn auch dann noch die gewünschte Reaktion ausbliebe, würde ein Schuß in das Ruder abgefeuert werden, um das Schiff manövrierunfähig zu machen, aber nicht zu versenken.

Am Montag wußte die ganze Nation, daß es eine Krise gab, besonders nachdem Pressechef Salinger mittags bekanntgegeben hatte, der Präsident werde um 19 Uhr eine Fernsehrede von »höchster nationaler Wichtigkeit« halten. Eine Menschenmenge, einzelne Demonstranten und Reporter versammelten sich vor dem Weißen Haus. Ich ließ alle Anrufe von Journalisten unbeantwortet. Nur auf die telephonische Frage eines einflußreichen Kongreß -Abgeordneten »Ist es ernst?« antwortete ich »Ja«, und auf Ted Kennedys Frage »Soll ich meine Wahlrede über Kuba halten?« erwiderte ich: »Nein!«

Für den Präsidenten war dieser Montag, der 22. Oktober, ein Tag der Konferenzen. Telephonisch sprach er mit den früheren Präsidenten Hoover, Truman und Eisenhower. Um 16 Uhr erschien er vor dem Kabinett, erklärte kurz, was er beabsichtige, und vertagte die Sitzung sofort. Er sprach energisch und ohne zu lächeln. Es gab keine Fragen und keine Diskussion.

Kurz vor der Kabinettssitzung hatte er eine seit langem vorgesehene Besprechung mit dem Premierminister Obote von Uganda. Er hatte gehofft, sie abzukürzen, und Außenminister Rusk, der daran teilnahm, war sichtlich zerstreut. Der Premierminister plauderte ahnungslos weiter und debattierte mit dem Präsidenten über die Zweckmäßigkeit amerikanischer Hilfe für rhodesische Schulen.

Kennedy ließ sich von der Unterhaltung einfangen und genoß den Wechsel des Themas und das geistige Duell mit dem Afrikaner. Rusk raschelte mit seinen Papieren, die Minister gingen vor den Fenstern auf und ab. Schließlich war die Besprechung zu Ende, und der Präsident begleitete Obote persönlich zum Portal des Weißen Hauses, wobei er zum ersten Mal an diesem Tag entspannt aussah.

Der einzige Mißklang des Tages war die für 17 Uhr angesetzte Besprechung des Präsidenten mit etwa zwanzig prominenten Kongreß-Abgeordneten. Sie waren von ihren Wahlreisen und aus dem Urlaub im ganzen Lande weggeholt worden, manche mit Düsenjägern und Übungsflugzeugen.

Hale Boggs, stellvertretender Fraktionschef der Demokraten im Repräsentanten-Haus, zum Beispiel, der im Golf von Mexiko angelte, sah zuerst eine Maschine der Luftwaffe, die in einem Plastikbeutel eine Nachricht für ihn abwarf, im Tiefflug über sich und wurde dann im Hubschrauber nach New Orleans gebracht, von wo er in einem Düsenflugzeug nach Washington flog.

Mitglieder beider Parteien, die gerade auf Wahlreisen waren, sagten ihre Reden gern mit der Begründung ab, der Präsident brauche ihren Rat.

Aber manche gaben spitzfindige und widersprüchliche Ratschläge. Auf die Unterrichtung anhand von Luftaufnahmen durch McNamara, Rusk und McCone reagierten viele in derselben Weise wie wir anfänglich. Sie fanden, die Blockade sei unwirksam und ein Zeichen von Unentschlossenheit; sie reize unsere Freunde, beseitige aber nicht die Raketen auf Kuba.

Statt dessen forderten so einflußreiche demokratische Senatoren wie Russell und Fulbright, die 1961 stark gegen die Landung in der Schweinebucht opponiert hatten, jetzt die Invasion.

Der republikanische Fraktionschef im Repräsentanten-Haus, Charles Halleck, sagte, er unterstütze den Präsidenten, wollte aber im Protokoll festgestellt wissen, daß er in letzter Minute informiert, aber nicht befragt worden sei.

Der Präsident blieb jedoch eisern. Er hatte vorher alle Vorschläge, den Kongreß einzuberufen oder eine formelle Kriegserklärung abzugeben, abgelehnt. Und er hatte die Kongreßführer erst zu sich gebeten, als er ihnen stichhaltige Beweise und eine bestimmte Richtlinie für sein Vorgehen vorlegen konnte.

Die Sitzung schleppte sich bis nach 18 Uhr hin. Ich wartete vor der Tür mit Kennedys Manuskript. Schließlich erschien der Präsident, ein bißchen verärgert, und eilte in seine Wohnung, um sich zu der Rede um 19 Uhr umzuziehen.

Auf dem Wege zu seiner Wohnung erzählte Kennedy mir von der Sitzung und murmelte dabei: »Wenn sie meinen Posten haben wollen, können sie ihn haben - mir macht er nicht viel Freude.«

Aber ein paar Minuten später hielt er, ruhig und entspannt, vor den Fernsehkameras die ernsteste Rede seines Lebens:

»Guten Abend, meine Mitbürger«, begann er. »Die Regierung hat, wie versprochen, die militärischen Vorbereitungen der Sowjets auf Kuba dauernd scharf überwacht. In der vergangenen Woche erhielten wir unmißverständliche Beweise dafür, daß auf der unterdrückten Insel Kuba eine Reihe von Stellungen für Angriffs-Raketen ausgebaut wird. Diese Maßnahmen können keinen anderen Zweck haben als den, ein Kernwaffen-Angriffspotential gegen die westliche Hemisphäre zu schaffen.

»Diese eilige Umwandlung Kubas in einen bedeutenden strategischen Stützpunkt für Langstrecken-Raketen, die offensichtlich Angriffswaffen zur plötzlichen Massenvernichtung sind, stellt eine ausdrückliche Bedrohung des Friedens und der Sicherheit aller amerikanischen Staaten dar...«

Dann sagte Kennedy: »Wir wollen nicht voreilig oder unnötig einen weltweiten Atomkrieg riskieren, in dem sogar die Früchte des Sieges in unserem Mund zu Asche werden würden; aber ebensowenig wollen wir jemals vor dieser Gefahr zurückweichen, wenn wir uns ihr stellen müssen.«

In vorsichtiger Sprache, die uns in der ganzen folgenden Woche zum Vorbild dienen sollte, beschrieb der Präsident die Anfangsschritte, die unternommen werden müßten: Quarantäne und Überwachung des Stützpunkt-Baus auf Kuba. Er kam dann zu den Maßnahmen für den Fall einer Fortsetzung des Ausbaus und erläuterte unsere Reaktion auf jede Anwendung von Raketen, die Verstärkung des US -Stützpunktes auf Kuba, Guantánamo, die Schritte bei der OAS und der Uno und einen Appell an Ministerpräsident Chruschtschow und die Kubaner.

Der Präsident kündigte an: »Um die offensive Aufrüstung (Kubas) zu stoppen, wird eine Sperre über alles militärische Angriffsmaterial verhängt, das auf dem Seeweg nach Kuba gebracht werden soll. Alle für Kuba bestimmten Schiffe, gleich welcher Nationalität, werden zurückgeschickt, wenn Atomwaffen an Bord festgestellt werden.«

»Der Weg, den wir gewählt haben, ist voller Gefahren«, sagte Kennedy, »aber es ist der Weg, der unserem Charakter und Mut als Nation und unseren Verpflichtungen in der ganzen Welt am besten entspricht... Und einen Weg werden wir niemals wählen, das ist der Weg der Kapitulation oder der Unterwerfung.«

Nun gab es die Krise offiziell. Manche Amerikaner reagierten mit Panik, die meisten mit Stolz.

Einheiten des Strategischen Bomber-Kommandos (SAC) und der Nordamerikanischen Luftverteidigung (North American Air Defense) waren in höchster Alarmbereitschaft, als der Präsident zu sprechen begann.

Die Rede Kennedys wurde in 38 Sprachen in die ganze Welt ausgestrahlt, sofort gedruckt und in vielen anderen Sprachen verbreitet. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Präsidenten ging ich nach Hause, um mich schlafen zu legen.

Der Präsident ging auch früh schlafen, da er seit dem Mittagessen keine Ruhepause gehabt und vorher nur schnell im Schwimmbecken gebadet hatte.

Viele staunten darüber, daß Kennedy überhaupt baden und schlafen konnte. Aber in der ganzen vergangenen und in der folgenden Woche hatte er ein möglichst normales Leben geführt. Er arbeitete zwar ohne Rücksicht auf die Uhrzeit, ließ unwichtige Sachen verschieben und dachte an nichts anderes als an die kubanischen Raketen, aber trotzdem hatte er mit seiner Familie zusammen gegessen, mit ahnungslosen ausländischen Staatsmännern und Mitarbeitern gesprochen, eine Flieger-Medaille überreicht und Dienstag abend mit seinen Freunden, den Ormsby-Gores, und anderen Gästen an einem Diner anstelle einer früher geplanten Galaparty teilgenommen.

»Seine Ruhe... (und) unerschütterliche gute Laune«, sagte der britische Botschafter, waren »erstaunlich (und) erhielten allen anderen die Ruhe und gute Laune«.

Das Telephon unterbrach ihn dauernd bei diesem Diner; aber er kehrte jedesmal sofort zu der leichteren Unterhaltung zurück, die er vor dem Anruf begonnen hatte. Seine Frau sah ihn während der Krise öfter als gewöhnlich, da er ihre Gesellschaft bei Mahlzeiten, die sonst Regierungsgeschäften vorbehalten waren, und bei Spaziergängen wünschte.

Doch der Präsident war nie einsamer als in dem Augenblick, in dem er vor der ersten Konfrontation mit Atomwaffen stand. Er verlor niemals die Wirkung aus den Augen, die Krieg oder Unterwerfung auf die ganze Menschheit haben würden. Die US-Delegation bei den Vereinten Nationen bereitete einen Verhandlungsfrieden und seine Vereinigten Stabschefs bereiteten den Krieg vor; Kennedy war jedoch fest entschlossen, die Initiative selbst zu behalten.

Die Chancen, daß die Sowjets wirklich bis zum Krieg gehen würden, standen für ihn damals, wie er später sagte, »etwa zwischen 1:3 und 1:1«. Am Sonnabend sprach er auf der Veranda nicht von der Möglichkeit seines Todes, sondern von all den unschuldigen Kindern in der Welt, die niemals eine Chance oder eine Stimme gehabt hatten.

Wenn er auch manchmal ein Scherzwort in unsere Debatte warf, so wird seine Stimmung doch am besten illustriert durch das Gekritzel, das er in einer Sitzung kurz nach seiner Rede auf zwei Bogen seines gelben Notizblocks machte:

ernst - ernst - 16-32 (Raketen) in einer Woche - 2200 (Meilen) - Chruschtschow sowjetische U-Boote - 16-32 - Freitag früh Gefahr erhöht - muß verfolgt werden - McCone - 1 Million Mann - Bündnis erhalten -.

Das Bündnis hielt. Briten-Premier Macmillan sagte telephonisch seine Unterstützung zu. Bundeskanzler Adenauer, Bürgermeister Brandt und die West-Berliner wichen nicht zurück und beklagten sich nicht. Trotz eines gewissen Schwankens von Kanada sicherten der Nato-Rat und de Gaulle nach der Unterrichtung durch Acheson ihre Unterstützung zu.

Die große Frage war der große Ozean. Für uns schien Chruschtschow, der die angekündigte Quarantäne gegen Kuba am Dienstag. (23. Oktober) in einer scharfen, aber weitschweifigen Erklärung als Piraterie zurückwies, aus dem Gleichgewicht geworfen, unsicher zu manövrieren, um Übereinstimmung im Kreml bemüht.

Den gleichen Eindruck gewannen wir aus zwei privaten Briefen Chruschtschows an Kennedy vom Dienstagmorgen und Mittwochabend, die inner* halb von wenigen Stunden mit der Wiederholung unserer festen Haltung beantwortet wurden.

Die Sowjets hatten anscheinend damit gerechnet, uns zu überraschen, und kalkuliert, Uneinigkeit im Westen und Kriegsfurcht in den Vereinigten Staaten würden militärische Gegenmaßnahmen verhindern.

Wir machten uns darüber lustig, daß Chruschtschow anscheinend heute seinen Starrköpfen und morgen seinen Friedensaposteln nachgab. Aber die 18 sowjetischen Frachter, die Kurs auf

Kuba hielten, waren kein Spaß. Fünf von diesen Schiffen, die große Laderäume besaßen, wurden besonders scharf beobachtet.

Ein Exekutiv-Komitee, das aus den engsten Beratern des Präsidenten gebildet worden war, kannte bald alle beteiligten sowjetischen Schiffe bei Namen und wußte, welche im Verdacht des Waffentransports standen.

Am Dienstagabend, als die Frachter näher kamen, erreichte die Spannung den Höhepunkt. An diesem Abend wurde Robert Kennedy - zum sowjetischen

Botschafter geschickt, um herauszufinden, ob die sowjetischen Kapitäne irgendwelche Anweisungen erhalten hatten.

Er erfuhr nichts. »Diejenigen von ihnen, die die Blockade für die friedlichste Reaktion hielten, werden vielleicht bald merken, daß das nicht so ist«, sagte der Präsident.

Bei unserer Sitzung am Mittwochmorgen (24. Oktober), gerade als die Blockade gegen die Insel in Kraft trat, wurde gemeldet, daß etwa ein halbes Dutzend sowjetischer U-Boote diesen Schiffen folgte. Daraufhin wurde der Befehl zur Versenkung jedes U -Boots, das die Blockade durchbrach, vorbereitet.

Mitten in der Sitzung trafen neue Nachrichten ein. Die Raketen-Frachter, die Kuba am nächsten waren, hatten anscheinend gestoppt oder den Kurs geändert. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in unserer Runde bemerkbar.

Die Gefahr einer Konfrontation auf See war jedoch keineswegs abgewendet. Die Absichten der Sowjets waren noch nicht klar. Die Blockade war noch -nicht ausprobiert worden.

Chruschtschow ließ einen amerikanischen Geschäftsmann, der die Sowjet -Union besuchte, zu sich rufen und sagte, Kennedy solle einer Gipfelkonferenz zustimmen; ein Konflikt im Karibischen Meer könnte zum Atomkrieg führen, wobei auch die Angriffs-Raketen auf Kuba, deren Vorhandensein er jetzt zugab, eingesetzt würden. Der Kreml -Chef drohte, sowjetische U-Boote würden jedes amerikanische Fahrzeug versenken, das ein sowjetisches Schiff zum Halten zwingen würde.

Am frühen Morgen des Donnerstag (25. Oktober) wurde einem sowjetischen Tanker signalisiert, und auf Anweisung des Präsidenten

- der es für möglich hielt,

daß der Tanker noch keine Anweisung aus Moskau erhalten hatte - passierte er die Sperre, wie alle unverdächtigen Tanker, nachdem sie sich zu erkennen gegeben hatten. Ebenso wurde ein ostdeutscher Passagierdampfer durchgelassen.

Am frühen Morgen des Freitag (26. Oktober) stoppte ein Marine-Kommando einen in Amerika gebauten, in Panama registrierten, mit Griechen bemannten libanesischen Frachter unter sowjetischer Charter und ging an Bord - nachdem der Präsident zugestimmt hatte. Kennedy hielt es für richtig, sowjetische Schiffe nicht eher als nötig aufzuhalten, jedoch an Bord eines blockfreien Schiffes unter sowjetischer Charter zu gehen, um zu zeigen, daß es uns Ernst war.

Der Frachter, der von unbewaffneten Marine-Soldaten (des Zerstörers »Joseph P. Kennedy jr.") inspiziert wurde und nur Lastwagen und Lastwagenteile beförderte, durfte die Fahrt nach Kuba fortsetzen.

Nach und nach trafen dann, vermischt mit den erwähnten »schlechten« Nachrichten, die guten Nachrichten ein. Am Mittwoch (24. Oktober) wurde gemeldet,

daß 16 von den 18 russischen Schiffen einschließlich der fünf mit den großen Ladeluken gestoppt hatten, dann unbeweglich liegenblieben oder sich in ziellosen Kreisen bewegten, und Donnerstag und Freitag schließlich hieß es, die Frachter drehten ab.

»Das ist nett«, bemerkte jemand aus unserem Kreis, »zur Abwechslung reagieren die Sowjets auch mal auf uns.«

Amerikanische Flugzeuge folgten den Sowjet-Schiffen auf dem ganzen Weg zurück zu den sowjetischen Häfen. Ein Minimum an Kraftaufwand hatte ein Maximum an Erfolg erzielt. Im Atomzeitalter war der Wert der konventionellen Stärke in einer Weise zum Ausdruck gekommen wie niemals zuvor.

Die Gefahr des Zusammenstoßes auf See war zwar nicht vorbei, aber wenigstens im Augenblick gemildert. Die Gefahr, die von den Raketen auf Kuba ausging, wurde dagegen größer. Mittelstrecken-Raketen würden am Ende der Woche, die Langstrecken-Raketen etwa vier Wochen später einsatzbereit sein, berichtete Geheimdienst-Chef McCone.

Am Freitagabend traf im Außenministerium, ein neuer Brief Chruschtschows an Kennedy ein - lang, gewunden, voller Polemik; aber im Grunde schien er den Ansatz zu einer vernünftigen Lösung zu enthalten. Weil die sowjetischen Raketen auf Kuba nur den Zweck hätten, die Insel gegen einen amerikanischen Angriff zu verteidigen, schrieb Chruschtschow, würde seine Regierung die Raketen unter Aufsicht der Vereinten Nationen zurückziehen, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika sich verpflichteten, keine Invasion zu unternehmen.

Ahnlich äußerten sich am selben Tag der sowjetische UN-Delegations-Chef Sorin gegenüber UN-Generalsekretär U Thant und - über einen privaten Kanal - der Legationsrat an der Sowjet-Botschaft in Washington Alexander Fomin gegenüber dem ABC -Fernsehkorrespondenten für das Außenministerium, John Scali.

In Chruschtschows Brief war das Angebot etwas - unbestimmt. Es variierte von einem Absatz zum anderen und war von den üblichen Drohungen begleitet. Trotzdem trat das Exekutiv-Komitee am Sonnabendmorgen (27. Oktober) mit großen Hoffnungen zusammen, um die Antwort zu entwerfen.

Im Verlauf dieser Sitzung schwand unser Optimismus jedoch schnell dahin. Ein neuer Chruschtschow-Brief traf ein, diesmal offiziell, der die private Korrespondenz nicht erwähnte, aber den Einsatz erhöhte: Die amerikanischen Jupiter-Raketen in der Türkei müßten ebenfalls entfernt werden.

Hatten die Starrköpfe um Chruschtschow wieder die Oberhand bekommen? fragten wir uns, oder hatte das Auftauchen dieses Tauschvorschlags in der Londoner und Washingtoner Presse die Sowjets zu der Annahme ermutigt, daß wir unter Druck nachgeben würden? Viele westliche und neutrale Staatsmänner waren, tatsächlich schnell bereit, die neue sowjetische Haltung zu billigen.

Dann kam die schlimmste Nachricht: die ersten Schüsse und Verluste, Flakfeuer auf zwei niedrig fliegende Aufklärungsflugzeuge über Kuba und der Abschuß einer hochfliegenden U-2 durch eine von Sowjets bediente Luftabwehr -Rakete (SAM). Der tote Pilot, Major Rudolf Anderson, hatte 13 Tage vorher

den Aufklärungsflug geflogen, auf dem die Raketen-Basen auf der Insel entdeckt wurden.

Die Situation wurde noch bedrohlicher, als am selben Tag ein amerikanisches U-2-Flugzeug über Alaska in Navigationsschwierigkeiten geriet und tief in sowjetisches Gebiet einflog, wodurch es ein Rudel sowjetischer Jäger, die allerdings nicht schossen, auf sich lenkte, ehe es den richtigen Kurs wiederfand.

Auf beiden Seiten war alles in Kampfbereitschaft. Sowohl die konventionellen als auch die Atomwaffen der Vereinigten Staaten waren in der ganzen Welt alarmiert. Flugzeuge für den Luftangriff und die größte Invasionsflotte, die seit dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt worden war, waren in Florida zusammengezogen.

Unser kleiner Kreis, der an diesem Sonnabend ununterbrochen um den Kabinettstisch saß, hatte das Gefühl, daß uns der Atomkrieg an diesem Tag näher als jemals zuvor im Atomzeitalter war. Wenn die sowjetischen Schiffe ihre Fahrt, die SAM-Bedienungen die Abschüsse, die Raketen-Mannschaften auf Kuba die Arbeit fortsetzten und Chruschtschow weiter auf Konzessionen bestand, während er uns die Pistole auf die Brust setzte, dann - so glaubten wir alle - mußten die Sowjets den Krieg wollen, und Krieg würde unvermeidlich sein.

Wir blieben den ganzen Sonnabend zusammen, bis der Präsident, der eine zunehmende Erregung und Reizbarkeit bei uns feststellte, die Sitzung um 20 Uhr für das Abendessen um eine Stunde verschob.

Die Sitzung um 21 Uhr war kürzer, kühler und ruhiger. Mit dem Gedanken, daß der nächste Morgen die Entscheidung über Krieg und Frieden bringen könnte, trennten wir uns für die Nacht.

Als ich am Sonntag (28. Oktober) aufwachte, stellte ich das Radio neben meinem Bett für die Nachrichten ein, wie ich es an jedem Morgen der Woche getan hatte. In den 9-Uhr-Nachrichten kam eine besonders wichtige Meldung aus Moskau. Ein neuer Brief von Chruschtschow war eingetroffen, sein fünfter seit Dienstag, den er wegen der Eile auf offiziellem Wege schickte. Er nahm Kennedys Bedingungen an. Die Raketen würden zurückgezogen. Die Kontrolle des Abzuges würde gestattet. Die Konfrontation war vorüber.

Ich konnte es kaum glauben und rief Bundy im Weißen Haus an. Aber es stimmte. Er hatte gerade mit dem Präsidenten telephoniert, der die Nachricht mit »ungeheurer Befriedigung« aufgenommen hatte. Unsere Sitzung wurde von zehn auf elf Uhr verschoben. Es war in jeder Hinsicht ein schöner Sonntagmorgen in Washington.

Ich ging durch die Halle in das Zimmer, in dem meine Sekretärin Gloria Sitrin arbeitete, was sie seit fast zwei Wochen Tag und Nacht tat. Von ihrem Bücherbrett nahm ich ein Exemplar von »Profiles in Courage« und las ihr aus dem Zitat vor, das John F. Kennedy zur Einführung aus Burkes Lobesworten für Charles James Fox ausgewählt hatte:

»Er kann noch lange leben, er kann noch viel tun. Aber dies ist seine Vollendung, Größeres als das, was er heute tut, kann er nicht mehr tun.«

Ende

Copyright für Deutschland: Piper Verlag, München

Blockade-Verkünder Kennedy am 22. Oktober 1962*: »Die Fruchte des Sieges wären Asche in unserem Mund«

Nachrichten-Überbringer Bundy, Chef

»Wie kleine Fußbälle ...

... auf einem Fußballplatz": U-2-Luftbild vom Raketen-Stützpunkt San Cristobal auf Kuba

Kuba-Gesprächspartner Gromyko (Mitte), Kennedy: »Es paßte alles so gut zusammen«

Kennedy-Ehefrau Jacqueline, Kinder

Wohin beim Angriff auf das Weiße Haus?

Geheimdienst-Chef McCone

Photographien erklärt

Krisen-Berater Eisenhower (r.), Kennedy

Im Hubschrauber eingeflogen

Krisen-Botschafter Acheson, Adenauer: Die Deutschen wichen nicht und klagten nicht

Alarmierte US-Bomber in Florida: Der Präsident schätzte die Chancen für Krieg und Frieden...

...auf 1:1: Alarmierter US-Stützpunkt Guantánamo

Briefschreiber Chruschtschow

»ernst - ernst«

Beschatteter Sowjet-Raketen-Frachter »Anosov"*: »Freitag früh Gefahr erhöht«

U-2: Der Major, der die Sowjet-Raketen entdeckte, wurde 13 Tage später...

Raketen-Entdecker Anderson

... abgeschossen

Präsident Kennedy, Berater Sorensen: »Größeres kann er nicht mehr tun«

* Bei seiner Rede zur Kuba-Krise in seinem Arbeitszimmer vor den Fernseh-Kameras.

* Am 18. Oktober 1962 mit Sowjet-Botschafter Dobrynin im Weißen Haus.

* Bewacht von US-Zerstörer »Barry« (vorn) und einem US-Marine-Aufklärungsflugzeug.

Theodore C. Sorensen
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