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Henrik Müller

Steigende Preise Gewinne, Gier und Inflation

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Die aktuelle Berichtssaison zeigt: Im Kriegs- und Krisenjahr 2022 verdienen viele Unternehmen enorm viel Geld. Ist der Profitboom schuld an der Inflation?
Von Krise keine Spur? Autohersteller verzeichneten im dritten Quartal Gewinne

Von Krise keine Spur? Autohersteller verzeichneten im dritten Quartal Gewinne

Foto: Boris Roessler / picture alliance / dpa

Klar, negative Nachrichten verbreiten sich schneller als positive. Das gilt auch für die Wirtschaft. In der vergangenen Woche kam heraus, dass der Gasimporteur Uniper in den ersten neun Monaten dieses Jahres den rekordverdächtigen Verlust von mehr als 40 Milliarden Euro eingefahren hat. Die Meldung machte Schlagzeilen. Der Staat muss einspringen. Es ist ein Desaster.

Aber sonst? Es herrscht Krieg in Europa, die Energiekosten sind hoch, die Inflation geht durch die Decke, die Zinsen steigen – und viele Unternehmen fahren sehr ansehnliche Ergebnisse ein. Von den Dax-Konzernen, die bislang ihre Geschäftszahlen fürs dritte Quartal vorgelegt haben, konnten mehr als die Hälfte ihre Gewinne steigern, teils sogar deutlich. Besonders spektakulär schneiden die Autokonzerne ab. Ob Volkswagen, Mercedes oder BMW – die Margen schnellen sportlich nach oben. Aber auch die Logistiker von der Deutschen Post konnten das Ergebnis verbessern, trotz hoher Spritpreise, ebenso der Gasespezialist Linde, die Deutsche Bank, der Konsumgüterhersteller Beiersdorf oder die Duft- und Geschmacksfirma Symrise, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Mit schrumpfenden Gewinnen haben vor allem energieintensive Unternehmen zu kämpfen. Bei BASF ging der Überschuss ebenso zurück wie bei Heidelberg Cement oder beim Kunststoffhersteller Covestro. Aber rückläufige Ergebnisse relativieren sich vor dem Hintergrund des Rekordjahres 2021, als viele Firmen spektakulär gute Zahlen einfuhren. Für alle Dax-Konzerne zusammengenommen war bereits das zweite Quartal dieses Jahres das zweitbeste der Geschichte, wie die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY ausgerechnet hat, auch wenn der Gesamtgewinn um 19,3 Prozent niedriger als im Vorjahr lag.

Ähnlich erfreulich dürfte die derzeit noch laufende Berichtssaison fürs dritte Quartal im Schnitt ausfallen , jedenfalls für die Firmen und ihre Eigner. (Achten Sie auf die Veröffentlichungen von Dax-Schwergewichten wie Bayer, Allianz, Telekom, RWE und E.on in der bevorstehenden Woche.)

Denn die Kehrseite des Profitbooms sind rapide Preissteigerungen. Unternehmen, die mit höheren Einkaufspreisen konfrontiert sind, versuchen diese Zusatzkosten an ihre Abnehmer weiterzugeben. Mehr als die Hälfte aller Firmen in Deutschland planen weitere Erhöhungen, im Lebensmitteleinzelhandel sind es sogar 100 Prozent, wie das Ifo-Institut ermittelt hat . Schlechte Nachrichten, gerade für einkommensschwache Privathaushalte.

Große allgemeine Preisunsicherheit

Manche Firma erhöht in einem Zug gleich noch ihre Marge – oder versucht es zumindest. Von »Greedflation« (Gierflation) ist in diesem Zusammenhang die Rede. Dazu tragen zwei Effekte bei: Zum einen herrscht derzeit große Verunsicherung, was das Preisgefüge angeht. Die Inflation, also die Steigerung der Verbraucherpreise insgesamt, liegt bei über zehn Prozent. Aber nicht alle Güter werden in gleichem Maße teurer. In einem solchen Umfeld werden Preiserhöhungen eher akzeptiert. Wie viel Zuschlag angemessen ist, lässt sich angesichts der Inflationsunsicherheit aus Sicht der Abnehmer kaum beurteilen. Der Anreiz, kräftig zuzulangen, ist umso größer. »Die heutige Inflation ist vor allem von Profitexpansion getrieben«, urteilt Paul Donovan, Analyst der Schweizer Großbank UBS . Die Unternehmen seien geschickt darin, das »Narrativ« von der allgemeinen Inflation für sich zu nutzen und damit die Konsumenten dazu zu bringen, Preiserhöhungen hinzunehmen.

Zum anderen sind es gerade Unternehmen, die über einige Marktmacht verfügen und unter geringerem Wettbewerbsdruck stehen, die ihre Preisvorstellungen durchsetzen können. Eine Umfrage der Europäischen Zentralbank (EZB) kommt zu dem Ergebnis, dass deutsche Industrieunternehmen eher zu kräftigen Preiserhöhungen neigen als ihre Pendants in Frankreich, Italien und Spanien . Der Grund dürfte darin liegen, dass sie im Schnitt größer sind, hohe Marktanteile in ihren jeweiligen Segmenten haben und deshalb in geringerem Maße Konkurrenz fürchten müssen.

Who’s got the power?

Es ist nur so: Die strukturellen Veränderungen, die derzeit in der Wirtschaft ablaufen, erhöhen die Preissetzungsmacht von Unternehmen weiter. Die Deglobalisierung schreitet fort; der grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Menschen und Kapital wird durch allerlei Restriktionen behindert. Der sich verschärfende Systemgegensatz zwischen China, Russland und Co. einerseits und dem Westen andererseits schafft neue Hürden, die den Austausch behindern.

Westliche Staaten ihrerseits begünstigen selektiv jeweils heimische Anbieter gegenüber ausländischen – siehe die Made-in-America-Kampagne von US-Präsident Joe Biden. (Achten Sie am Mittwoch auf die Ergebnisse der Midterm-Wahlen.) Großbritannien, zuvor immerhin die zweitgrößte EU-Volkswirtschaft, ist nun nicht mehr Mitglied des Binnenmarkts; an den Grenzen werden in beide Richtungen Kontrollen, Gebühren, Zölle fällig. All diese Entwicklungen vermindern den Wettbewerbsdruck und stärken die Markt- und Preissetzungsmacht der Platzhirsche.

Schon bevor die Deglobalisierung einsetzte, kam es auf einigen Märkten zu Konzentrationseffekten, die dazu führten, dass sie von wenigen oder sogar nur einem einzigen Unternehmen dominiert werden. Was für die jeweils herrschende Firma eine tolle Sache sein mag, ist für die Wirtschaft insgesamt schlecht.

Bereits vor der Coronakrise zeigte der Internationale Währungsfonds (IWF) in einer groß angelegten Untersuchung, wie stark die zunehmende Konzentration westliche Gesellschaften im Griff hat. In den Jahren zwischen 2000 und 2015 habe die Marktmacht einiger Unternehmen spürbar zugenommen. Die Gewinnaufschläge (»mark-ups«) einer relativ kleinen Zahl von Unternehmen und Branchen seien gestiegen. Zwei Drittel der höheren Preisaufschläge gehen auf Anbieter zurück, die bereits eine starke Marktposition haben, nicht auf innovative Newcomer. Übrigens: Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass die freigiebige Geldpolitik der Notenbanken in den vergangenen Jahrzehnten die Konzentration begünstigt hat; billiges Geld ermöglichte viele Firmenübernahmen, die sonst nicht finanzierbar gewesen wären.

Die Effekte der abnehmenden Wettbewerbsintensität werden durch die geopolitischen Verschiebungen verstärkt. Und sie verschärfen die Krise der Lebenshaltungskosten. »Die Gewinne, nicht die Löhne waren die Hauptverursacher der Inflation«, urteilt Isabel Schnabel, deutsches EZB-Direktoriumsmitglied, mit Blick auf den Beginn der aktuellen Inflationsphase im vorigen Jahr .

Wenn man sich die aktuellen Quartalszahlen anschaut, sieht es so aus, als habe sich daran wenig geändert, zumindest was die Rolle der Unternehmen angeht. Zusätzliche Inflationstreiber: Löhne, Klima, Staatsausgaben.

Nun kommt zusätzliche Bewegung in die Sache: Die Verteilungskämpfe werden härter. Berechtigterweise fordern die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften höhere Löhne. Schließlich haben sie im vorigen und in diesem Jahr herbe Realeinkommensverluste erlitten und fordern jetzt Kompensation. (Achten Sie Dienstag und Donnerstag auf die weiteren Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie.) Wenn es so weitergeht, könnte es zu einem Aufschaukeln der Forderungen der Beschäftigten und der Gewinnansprüche der Unternehmen kommen, einer Preis-Lohn-Spirale, wie in den alten monetaristischen Modellen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren.

Entsprechend bemühen sich die Notenbanken in Washington, Frankfurt und anderswo, die Dynamik in den Griff zu bekommen – und die Erwartungen weiterer Preissteigerungen aus den Köpfen. Das wird schwierig: Die Inflation hat sich bereits bedenklich verfestigt. Dass Energie teuer bleibt und auch auf längere Sicht die Inflation eher weiter antreiben wird, um den Klimawandel zu bremsen, gilt als gesetzt. (Achten Sie auf die Weltklimakonferenz in Ägypten, die am Montag beginnt.) Dazu kommt die Deglobalisierung. Preistreibende Faktoren, die in den vergangenen Jahrzehnten keine große Rolle gespielt haben und die jetzt die Lage verkomplizieren.

Mehr Kapitalismus wagen

Umso wichtiger ist es, dass auch die Regierungen ihren Teil zur Preisberuhigung beitragen: indem sie sich bei defizitfinanzierten Ausgabenprogrammen zurückhalten – und indem sie entschlossen gegen die Konzentration vorgehen.

Was die Eindämmung von Marktmacht angeht, sollten sie mit drei Instrumenten zu Werke gehen:

  • mit einer entschlosseneren Wettbewerbspolitik, die nicht nur Übernahmen und Kartelle kontrolliert, sondern auch gegen das ungebührliche Ausnutzen von marktbeherrschenden Stellungen vorgeht;

  • mit einer Freihandelsoffensive, insbesondere gegenüber Großbritannien und den USA, zumal mit einer Wiederbelebung der Verhandlungen über ein transatlantisches Abkommen, ähnlich der Verträge zwischen der EU und Kanada sowie Japan;

  • mit einer Öffnung der Kapitalmärkte für neue, innovative Unternehmen, die in Deutschland und im übrigen Europa wenig Chancen haben, weil sich die Börsen zu einem Klub etablierter Großunternehmen aus saturierten Branchen entwickelt haben, wie die OECD in einer Untersuchung gezeigt hat .

All das würde den Wettbewerb anregen, Spielräume für Preissteigerungen beschränken und die Wirtschaft insgesamt inflationsresistenter machen.

Gegen Inflation hilft nicht nur eine striktere Geldpolitik. Manchmal lohnt es sich auch, mehr Kapitalismus zu wagen.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche

Scharm al-Scheich – Es wird warm – Das 1,5-Grad-Ziel für die Erderwärmung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ist nicht zu halten. Wie soll es weitergehen? Beginn der Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen (COP27).

Peking – Globalisierung in Fernost – Chinas Zoll legt Zahlen zur Entwicklung des chinesischen Außenhandels vor.

Brüssel – Die Neunzehn – Die Eurogruppe (Finanzminister der Eurostaaten) berät über Haushaltspläne und Maßnahmen zur Abfederung der hohen Energiepreise.

London – On strike – Erneute Streits im Königreich. Wieder mal trifft es die Eisenbahnen.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Biontech, Qiagen, PostNL, Ryanair.