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Titel
Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition


Autor(en)
Ziemann, Benjamin
Erschienen
Anzahl Seiten
635 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl-Heinz Fix, Evangelisch-Theologische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München

Über die These, dass die Literaturgattung Biographie der „Bastard der Geschichtswissenschaft“ sei, lässt sich trefflich streiten. Verallgemeinern kann man sie sicher nicht, und ganz gewiss kann man sie nicht auf die anzuzeigende Biographie Martin Niemöllers (1892–1984) anwenden. Niemöller war im Ersten Weltkrieg Marineoffizier, seit den 1920er-Jahren Pfarrer, von 1933 an Exponent der evangelischen kirchenpolitischen Opposition, seit 1938 persönlicher Gefangener Hitlers in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau, nach dem Krieg als streitfreudiger hessischer Kirchenpräsident und Adenauer-Gegner Ikone des bundesrepublikanischen sogenannten Linksprotestantismus.

Dass Ziemann die „Bastard-These“ erfolgreich widerlegt, beruht auf mehreren Faktoren. Als Allgemeinhistoriker ist er nicht in die innerprotestantischen Deutungs- und Legitimationskämpfe theologischer oder kirchenpolitischer Schulen eingebunden. Ziemann bewahrt zu seinem „Helden“ die gebotene Distanz und zeichnet Martin Niemöller ohne perspektivische Engführung in die deutsche Politik- und Mentalitätsgeschichte in fachlich und literarisch überzeugender Art und Weise ein. Selbst komplexe theologische Sachverhalte stellt er für Laien verständlich dar.

Ziemann gliedert seine reich bebilderte Darstellung chronologisch in drei Teile („Protestantischer Nationalismus in Kaiserreich und Republik“, „Kirchenstreit und Glaubenskrise im ‚Dritten Reich‘“ und „Kirche, Friedenspolitik und Ökumene nach 1945“) mit jeweils sechs Unterabschnitten, wobei im letzten Teil die Chronologie mit Sachthemen vermengt wird. Die zusammenfassenden Abschnitte am Ende der Kapitel sind nicht nur für eilige Leser sehr erhellend.

Die eigentliche Darstellung wird eingerahmt durch eine Einführung in Niemöllers Vita und die Methodik der Studie sowie durch ein Resümee unter der doppelsinnigen Überschrift „Ein Leben in Opposition“. Wer sich schnell, differenziert und jenseits harmonisierender Tendenzen über den widerspruchsfreudigen Menschen – und nicht über die Legende – Martin Niemöller informieren möchte, wird künftig an diesen beiden Kapiteln der Biographie nicht vorbeigehen können. Einleitend erklärt Ziemann, dass er über die Schilderung eines wahrlich „turbulenten Lebensweges“ hinaus Niemöllers Biographie „mit der Analyse von drei übergeordneten Themen“ verbinde, „die sich als roter Faden durch die Darstellung ziehen. Alle verweisen auf zentrale Probleme der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ (S. 9). Es sind dies die „Transformationen des protestantischen Nationalismus“ (S. 9), die „Verunsicherung religiöser und konfessioneller Identitäten“ (S. 10) und die „langfristige Veränderung in den kollektiven Einstellungen zu Militär und Krieg“ (S. 11).

Akribisch und stets quellennah zeichnet Ziemann stilistisch ausgezeichnet Niemöllers Lebensweg, beginnend im elterlichen Pfarrhaus in Lippstadt, nach. Dabei widerlegt Ziemann diverse von Niemöller schon zu Lebzeiten mit tatkräftiger Unterstützung seines Bruders Wilhelm gebildete Legenden und zeigt Kontinuitätslinien, Kompromisse und Ambivalenzen auf. In Auswahl seien genannt: Niemöllers „beinahe pathologische(r) Englandhass“ (S. 87); die lebenslange Verbundenheit des späteren Pazifisten mit Marinekameraden (darunter auch der von Hitler testamentarisch zu seinem Nachfolger als Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Reichspräsident ernannten Karl Dönitz!); das stark vom vielfältigen politischen Engagement für die radikale Rechte geprägte Theologiestudium in Münster – darüber hätte ein Theologe wohl ausführlicher berichtet – und das dabei entstandene „Narrativ“ (S. 109), das dann Niemöllers Buch „Vom U-Boot zur Kanzel“ (1934) prägen sollte; die in der Selbstdarstellung stets negierte frühe Beschäftigung mit der Parteipolitik; Niemöllers anfänglich keineswegs so kompromissloser Umgang mit dem kirchenpolitischen Gegner, den Deutschen Christen; sein – vorsichtig gesprochen – vorurteilsbehaftetes Verhältnis zum Judentum, auch nach 1945; die verklärende Deutung der Opposition gegen die Deutschen Christen und der Kirchenpolitik der Bekennenden Kirche als politischer Widerstand; Niemöllers Verhalten in und zur bundesrepublikanischen Politik, wobei er sich selbst eine herausgehobene und von seinen Anhängern akzeptierte Rolle zuschrieb; sowie schließlich seine unqualifizierte Kritik am politischen System der Bundesrepublik, die Anklänge an die theologische Delegitimation der Weimarer Republik durch evangelische Theologen zeigte.

Bei aller Kritik am Handeln und Denken Niemöllers bleibt Ziemann seinem differenzierenden Stil treu. Dies führt dazu, dass auch Weggefährten wie etwa Hans Asmussen nicht im Schatten einer „Lichtgestalt“ stehen bleiben, sondern die ihnen gebührende Würdigung erfahren. Ganz besonders gilt dies für Niemöllers erste Ehefrau Else, die immer weniger dem Frauenbild des Patriarchen gerecht wurde. Wie treffsicher Ziemann in seiner Dekonstruktion des Niemöller-Mythos ist, zeigen die empörten Einsprüche der Niemöller-Freunde sofort nach dem Erscheinen des Buches und die zum Teil unqualifizierte Kritik am Autor.1 Deren Quintessenz wäre, dass nur Zeitzeugen zeitgeschichtliche Forschung legitim betreiben könnten.

Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Personenregister und ein Abbildungsnachweis schließen dieses rundum gelungene Buch ab. Es erfüllt das langjährige Desiderat einer differenzierten Biographie einer prägenden Gestalt des deutschen Protestantismus jenseits von Legenden und Instrumentalisierungen. Um zumindest im Detail auch ein wenig Kritik anzumelden: Evangelische Bischöfe leiten keine „Bistümer“ (S. 257), sondern Landeskirchen.

Anmerkung:
1 Vgl. Michael Heymel, Ein Zerrbild gezeichnet. Benjamin Ziemanns Niemöller-Biografie wird ihrem Gegenstand nicht gerecht, in: zeitzeichen 2020, Juni, S. 15–17. Heymel wirft Ziemann hier u.a. vor, Niemöller nicht verstanden zu haben. Unterstützung erhielt Heymel in der Folgezeit in Leserbriefen an die Redaktion der zeitzeichen.

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