Wir wollen die Virologen mit der Deutung der Lage nicht allein lassen. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?"  führende Forscherinnen der Geistes- und Sozialwissenschaften, was sie in der Krise zu bedenken geben und worüber sie sich nun den Kopf zerbrechen. Die Fragen stellt Elisabeth von Thadden. Die israelische Soziologin Eva Illouz, 59, ist Professorin an der École des hautes études en sciences sociales in Paris. Zuletzt erschien 2019 ihr Buch "Das Glücksdiktat".  

ZEIT ONLINE: Worüber denken Sie gerade nach, Eva Illouz?

Eva Illouz: Ehrlich gesagt beschäftigt mich vieles gleichzeitig und ich möchte nicht einen einzelnen Faden herauspräparieren. Es sind zumindest fünf Fragen, über die ich mir Gedanken mache. Diese Felder würde ich hier gern umreißen, einverstanden?

ZEIT ONLINE: Klar.

Illouz: Das erste Thema ist die beunruhigende Sphärenvermengung des Politischen und des Medizinischen. Diese Sphären müssten eigentlich getrennt und unabhängig voneinander sein. Aber sie sind es in manchen Staaten nicht mehr. Den Einbruch der Politik in die Wissenschaft, besonders in Israel, bezeichne ich als eine Verunreinigung – als Kontamination – und ich wähle das Wort mit Bedacht. In Israel sind viele der Auffassung, dass Netanjahu die Krise zu eigenen Zwecken genutzt hat. Ein enormer Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Regierenden geht mit ihr einher. Aber es gibt auch Staaten, und sie sind fast alle weiblich regiert, in denen auf die Pandemie sorgsam reagiert wird …   

ZEIT ONLINE: Und das ist ihr zweiter Punkt?

Illouz: Tatsächlich fällt doch auf, dass in Staaten wie Island, Norwegen, Deutschland, Taiwan oder Finnland die Krise relativ gut und umsichtig bewältigt wird, und in diesen Staaten ist eine Frau die Regierungschefin. Die Bevölkerung wurde früh informiert und gewarnt, das öffentliche Leben wurde transparent und umsichtig heruntergefahren, die Vorsorge wurde möglichst früh aktiv betrieben, die Sterblichkeit ist relativ niedrig. Die gegenwärtige Krise zeigt sich mir als ein Labor, in dem sich ein weiblicher Regierungsstil herausdestilliert, im Kontrast zu dem von Männern, die den Ernst der Lage viel zu lange nicht begriffen oder bestritten haben. Xi Jinping hat es lange mit Verheimlichung versucht, Trump hat das Virus als Erfindung der Demokraten deklariert, Macron ist am 16. März noch demonstrativ entspannt ins Theater gegangen, Netanjahu hat über Nacht die Gerichte und das Recht stillgelegt und Bolsonaro seine Bevölkerung für virusresistent erklärt. Mich macht dieser Unterschied der Geschlechter wirklich perplex.      

ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie ihn angesichts der Tatsache, dass das ja ganz unterschiedliche Staaten und Volkswirtschaften sind?

Illouz: Ich neige nicht zu essenzialistischen Erklärungen. Ich stelle fest: Als Macron ins Theater ging, um zu zeigen, dass man ruhig das Haus verlassen könne, kündigte Angela Merkel an, die Situation sei ernst und solle daher ernst genommen werden, mit diesem Virus würden sich bis zu 70 Prozent der Bevölkerung infizieren. Frauen achten auf Menschen und deren Wohlergehen, Männer indes auf die Ökonomie. Auf diese Weise sind Frauen in der Lage, sowohl mit der Gesundheits- wie mit der Wirtschaftskrise umzugehen. Sie sind so sozialisiert, dass sie sich zu gleicher Zeit um verschiedene Dinge kümmern können: Gegenwärtig zeigt sich, dass ihr Regierungsstil ein "Sowohl-als-auch" umfasst. Sie handeln ökonomisch wie medizinisch wie sozial vorausschauender und sorgfältiger. Frauen erkennen offenbar leichter die wechselseitige Abhängigkeit dieser Faktoren.

ZEIT ONLINE: Und drittens?

Illouz: Wir erleben einen anthropologischen Bruch im Umgang mit Leid, Sterben und Tod. Mich treibt um, wie leicht wir die Anordnungen hinnehmen, dass wir die Leidenden und Sterbenden allein lassen sollen. Schlagartig haben wir ihnen den Trost, die Begleitung und Beistand ihrer Nächsten entzogen. Bis dahin, dass die Toten in Isolation bestattet werden. Die Sterbenden sehen, wenn ihr Leben zu Ende geht, nicht mehr in menschliche Augen. Sie sehen zuletzt nur abgeschirmte Menschen hinter Schutzgläsern, in Schutzanzügen. Das bedeutet eine Zäsur, wie auch die Tatsache, dass wir dieses Geschehen einfach hinnehmen. Mir scheint, dass unsere Gesellschaften ein bleibendes Trauma erleben. Auf der weltpolitischen Ebene aber beschäftigt mich etwas ganz anderes …

ZEIT ONLINE: … das vierte Feld der Gedanken …

Illouz: … und zwar ist das der Kniefall der westlichen Staaten vor China und seiner Politik der Verschleierung. Chinas Regierung trägt nicht nur die Verantwortung dafür, dass die Verspätung ihrer politischen Reaktionen zu einer Ausbreitung des Virus in anderen Ländern geführt hat. Das autoritäre Regime Chinas übt auch weiterhin die Kontrolle darüber aus, welche Version der Informationen, der Deutung, der Schlussfolgerungen die Weltöffentlichkeit erreicht. Der Westen darf das unverantwortliche Verhalten des chinesischen Regimes nicht hinnehmen. Dieses Verhalten hat unermessliche Folgen.

ZEIT ONLINE: Sie sind als Soziologin der Gefühle bekannt. Was macht die gegenwärtige Krise mit dem Privaten und der Intimität?

Illouz: Das ist der fünfte Punkt, der mich beschäftigt: der Begriff des Zuhauses, der privaten Innenwelt. Home, sweet home, wie die Redensart sagt, wird unter dem Lockdown zu einem bitteren Ort des Zusammenlebens von Frauen und Männern. Jetzt sehen wir, was in Familien und in Paaren geschieht, wenn die umgebende Welt dem Zuhause keine Struktur mehr gibt. Üblicherweise erlaubt es das berufliche und soziale Leben außer Haus vielen Paaren zu überleben und nur unter dieser Bedingung ist für viele das Zuhause als Ort der Begegnung zu ertragen. In dem Moment, wo das Leben außer Haus wegfällt, wird die Situation oft unerträglich und schlägt in Gewalt um. Als in der chinesischen Provinz Hubei der Shutdown gelockert wurde, schnellte die Zahl der eingereichten Scheidungen auf Rekordhöhe. Die Schule ist ein weiteres Beispiel: Fällt sie aus, sind viele Familien hilflos. Der Staat ist durch die Schule auf unsichtbare Weise in den Familien als stützende Struktur anwesend. Und schließlich wirkt auch die Freizeit strukturierend: Sie gibt der Sphäre des Intimen eine Form, ob durch das Kino, den Sport oder die Begegnungen unter Freunden.

ZEIT ONLINE: Wenn all diese Strukturierungen der umgebenden Welt wegfallen, zeigt das traute Heim sein wahres Gesicht?

Illouz: Die Philosophin Hannah Arendt nimmt in ihrem Denken die aristotelische Unterscheidung zwischen dem Privaten und der Öffentlichkeit auf: Aristoteles hielt die private Sphäre, in der Frauen, Kinder und Sklaven lebten, für weniger wertvoll. Erst in der öffentlichen Sphäre erweise sich die Freiheit, gemeinsam zu handeln. Arendt nun tritt der Mythologisierung des weiblichen Privaten entgegen, in dem eine Fee die Wunden der Welt heilen soll. Was wir heute in der Pandemie erleben, ist in meinen Augen eine Rechtfertigung von Arendts Kritik: Das Zuhause wird unerträglich, wenn man es nicht in die Außenwelt verlassen kann. Und gäbe es das Internet nicht, dann wäre das Zuhause jetzt schlicht die Hölle.