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Sascha Lobo

"Bild"-Chef Reichelt gegen Virologe Drosten Bloß nicht vernünftig

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Warum führt die "Bild"-Zeitung eine Kampagne gegen Christian Drosten? Der Virologe gilt als abwägend und abwartend - und steht damit gegen Bauchgefühl und vorschnelle Eindeutigkeit, die wichtigsten Essenzen von "Bild".
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt (Archivbild von 2018)

"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt (Archivbild von 2018)

Foto: Jörg Carstensen/ DPA/ picture alliance

Auf Twitter erkennt man gut, wann Julian Reichelt, Herr über die "Bild"-Medien, angespannt ist: immer. Er geht Streit nicht aus dem Weg, das muss keine schlechte Eigenschaft sein. Aber Reichelt wirkt stets wie jemand, der seine Auseinandersetzungen öffentlich rechtfertigt mit dem Satz: Der Kampf fing damit an, dass mein Gegner zurückschlug. Der "Bild"-Chef benutzt Twitter als Angriffswaffe im Glauben, sich doch bloß zu verteidigen. Er verwechselt soziale Medien mit dem Grundkurs "Rechthaben II für Meinungsingenieure (Sommersemester 2020)". Mustergültig zu erkennen bei der derzeit laufenden "Bild"-Kampagne  gegen den bekannten und einflussreichen Virologen Christian Drosten.

Reichelts Kampftaktik ist die simpelste und bestfunktionierende im Netz: wir gegen die. Für "Bild" oder gegen "Bild". Interessant wird Reichelts Twitter-Gebaren, wenn er meint, jemand habe zu Unrecht zurückgeschlagen. Dann retweetet er Leute, die er ohne nähere Recherche auf seiner Seite wähnt. Dadurch erscheint Julian Reichelt auf Twitter leicht manipulierbar. Man muss ihn in seinem quijotigen Kampf gegen die vielen Meinungswindmühlen nicht einmal unterstützen - es reicht, seine Gegner zu kritisieren. Diese Eigenart, wahllos Zeugen für die eigene Sache ins Feld zu führen, geschieht bei Julian Reichelt mutmaßlich reflexhaft. Anders wäre kaum zu erklären, dass er bedenkenlos auch mal den Tweet eines offenen Fans des Israelhassers KenFM retweetet.

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In den letzten Tagen hat Reichelts Zeitung ihren Angriff auf den Virologen Christian Drosten anlässlich einer Studie unternommen, die die Ansteckungsgefahren durch Kinder und Erwachsene vergleicht. Einige Medieninsider vermuten, es hinge damit zusammen, dass der Forscher der "Bild"-Zeitung keine Interviews habe geben wollen. Oder dass der dem Haus immer noch verbundene ehemalige Chefredakteur Kai Diekmann mit Hendrik Streeck einen "eigenen" Experten habe aufbauen wollen. Diese Sichtweisen halte ich für unterkomplex, denn Reichelt ist verblendet, nicht stumpf. Die Attacke auf Drosten aber ist in jedem Fall spektakulär nach hinten losgegangen . Nicht, weil sie unfair gewesen wäre, das gehört zum "Bild"-Standard. Sondern weil der Angriff sensationell dilettantisch  ausgeführt wurde.

Voreingenommen und ahnungslos

Der Artikel gegen Drosten und seine Studie präsentiert als Kronzeugen drei Wissenschaftler, die sich sinnverzerrend zitiert sahen und postwendend öffentlich gegen "Bild" Stellung bezogen. Ein Anfängerfehler, normalerweise fungieren eher verbündete Experten als "Bild"-Kronzeugen. Die erzählen dann das, was "Bild" zur Konstruktion einer Story braucht. Und bleiben dann auch dabei. Das Prinzip "Bild" funktioniert stark über Loyalität, auch wenn diese im Zweifel ähnlich einseitig werden kann wie bei Donald Trump. Die eindeutigste handwerkliche Minderleistung ist aber die mangelnde Vorausschau von "Bild" in Sachen soziale Medien. Denn Christian Drosten veröffentlichte  die Anfrage des Autors auf Twitter mit der Bemerkung, die "Bild"-Zeitung plane eine tendenziöse Berichterstattung und habe zusammenhangslos irgendwelche Zitate zusammengewürfelt. Bumm, 60.000 Likes inklusive Vorberichterstattung, was wiederum ein Framing des "Bild"-Artikels gesetzt hat. Mit einem Tweet hat Drosten die öffentliche Wahrnehmung des "Bild"-Titels vorab geprägt: voreingenommen und ahnungslos. Das dürfte zwar nur ein kleiner Prozentsatz des klassischen "Bild"-Publikums mitbekommen haben – aber dafür die meisten Multiplikatoren, Journalisten sowie die Politik, also der Resonanzraum, in dem auch "Bild" stattfinden muss, um noch einigermaßen wirksam sein zu können.

Man muss feststellen, dass Julian Reichelt die sicher geglaubte Deutungshoheit der "Bild"-Zeitung über das politische und gesellschaftliche Geschehen in Deutschland entgleitet, vielleicht längst entglitten  ist. Wenn ein Chefredakteur derart strategielos in sozialen Medien agiert und vor allem unsouverän reagiert, ist das ein Warnsignal der Schwäche. Die "Bild"-Zeitung hat katastrophal unterschätzt, dass und wie man Social Media als medial attackierte Person heute nutzen kann. Viel wurstiger, fahriger und unsouveräner kann man eine Person des öffentlichen Lebens kaum angreifen, und der verbissene Trotz von Reichelt und seinen Like-Boys hat den Eindruck eines öffentlichen Großfehlschlags noch verstärkt.

Da ich mich persönlich seit Jahren als Gegner des Axel-Springer-Verlags und insbesondere der "Bild"-Zeitung begreife, weil sie dieses Land verschlechtern, kann man meine Qualitätseinschätzung womöglich als subjektiv gefärbt betrachten. Aber es ist schon etwas anderes, wenn ein Mann namens Georg Streiter, der selbst rund 15 Jahre bei "Bild" war, öffentlich den Satz schreibt , dass "der aktuelle Chefredakteur mit einer Handvoll gläubiger Jünger seit März 2018 die gute Arbeit der Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen ruiniert". Natürlich könnten hier Dissonanzen von Ex-Mitarbeitern dahinterstehen, aber man muss das im Kontext sehen. Was Streiter "gute Arbeit" nennt, ist ja bereits Boulevard der Marke "Bild", im Zweifel also eine Mixtur aus Schamlosigkeit und der Abwertung von Menschen oder Gruppen. Um das zu "ruinieren", ist schon eine besonders panikgetriebene Energie notwendig.

Ressentiment ist das Kapital der "Bild"-Zeitung

Ich habe eine qualifizierte Vermutung, welche das sein könnte. "Bild" hat immer noch nicht ein gigantisches Trauma seiner jüngeren Geschichte verarbeitet, nämlich die kurze kampagnenhafte Phase der Menschenfreundlichkeit im Jahr 2015. Reichelt selbst hat es Ende 2016 so ausgedrückt : "Nichts hat uns ganz nachweislich wirtschaftlich in der Reichweite so sehr geschadet wie unsere klare, menschliche, empathische Haltung in der Flüchtlingskrise." Aus diesem Trauma dürfte sich das "Bild"-Schaffen zur Coronakrise erklären. Reichelt scheint seine Analyse einfach zur Erfolg versprechenden Betriebsanleitung umgedreht zu haben und versucht offenbar, nicht klar, nicht menschlich und schon gar nicht empathisch zu sein. "Bild" versucht mit aller Macht, nicht noch einmal den Fehler zu begehen, sich versehentlich auf der Seite der Menschenfreunde wiederzufinden. Das Ressentiment ist das wesentliche soziale Kapital der "Bild"-Zeitung, es muss verbalisiert, gepflegt und verstärkt werden und nicht durch zu viel Aufklärung und Verständnis am Ende noch verkleinert. Christian Drosten steht in den Augen eines großen Teils der Öffentlichkeit für das wissenschafts-, vernunft- und wertebasierte Handeln und eine abwägende Kommunikation in gesundheitsfachlichen Dingen. Die "Bild"-Zeitung attackiert ihn deshalb als Symbol gegen Bauchgefühl, Volksressentiment und vorschnelle Eindeutigkeit, die Essenzen also, aus denen diese Zeitung zusammengebraut wird.

Drosten ist mit seinem Mut, Fehler einzugestehen, die Grenzen seines Wissens zu zeigen und vor allem mit seiner Bereitschaft zur Differenzierung eine Art Antireichelt. Was leider nicht heißt, dass er - abseits seiner Expertise - nicht selbst merkwürdige bis schwierige Vorstellungen  von Medien und Journalismus hat erkennen lassen. Etwa einen Anflug der Haltung, eine öffentliche Person könne über juristische Grenzen hinaus mitbestimmen, was über sie berichtet wird. Das halte ich für eine Begleiterscheinung des sehr plötzlich und explosiv entstandenen Superruhms von Drosten, damit geht schnell das Gefühl des Kontrollverlusts über das eigene Leben einher. Verstärkt noch durch die zahlreichen Drosten-Fans, von denen einige zu ihrer Bewältigung der Coronakrise eine Erlösererzählung offenbar gut gebrauchen können. Wenn man in der Öffentlichkeit steht, lernt man schneller, mit schlimmen Gegnern umzugehen als mit schlimmen Unterstützern. Aber abgesehen von seiner zu eindimensionalen Medienschelte ist Drosten ein Segen der Wissenschaftskommunikation und der Aufklärung. Ganz, ganz anders als die "Bild"-Zeitung.

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Der "Bild"-Titel zum Twitter-Fight zwischen Drosten und Reichelt lautete: "Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht". Nicht nur, dass die Studie nicht so falsch ist, wie "Bild" behauptet. Das Publikum kann auch kaum anders, als die Zeile so zu verstehen, dass die Studie der ursprüngliche Grund für die Schließung gewesen ist. Das wäre allerdings irrwitzig, denn Schulen und Kitas wurden in Deutschland ab dem 16. März 2020 geschlossen. Die Studie erschien in einer Vorabversion erst am 29. April. Um diese "Bild"-Schlagzeile trotzdem für sinnvoll zu halten, muss man entweder eine Zeitmaschine haben oder Julian Reichelt sein.

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