Language of document : ECLI:EU:C:2021:549

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

8. Juli 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Befreiungen – Art. 135 Abs. 1 Buchst. a – Begriffe ‚Versicherungsumsätze‘ und ‚dazugehörige Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden‘ – Art. 174 Abs. 2 – Recht zum Vorsteuerabzug – Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs – Garantieverlängerung für Haushaltsgeräte sowie Informatik- und Telekommunikationsartikel – Begriff ‚Finanzumsätze‘“

In der Rechtssache C‑695/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa – CAAD) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren – CAAD], Portugal) mit Entscheidung vom 10. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 2019, in dem Verfahren

Rádio Popular – Electrodomésticos SA

gegen

Autoridade Tributária e Aduaneira

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra, D. Šváby und S. Rodin (Berichterstatter) sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Rádio Popular – Electrodomésticos SA, vertreten durch A. M. Rosa da Silva Garcia, advogada,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, R. Campos Laires, A. Homem und P. Barros da Costa als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou, I. Kotsoni und K. Georgiadis als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Afonso und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Rádio Popular – Electrodomésticos SA (im Folgenden: Rádio Popular) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer‑ und Zollbehörde, Portugal) (im Folgenden: AT) wegen des von Rádio Popular für Umsätze aus dem Verkauf von Garantieverlängerungen vorgenommenen Vorsteuerabzugs.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.“

4        Der zu Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) des Titels IX dieser Richtlinie gehörende Art. 135 der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

a)      Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden;

b)      die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber;

c)      die Vermittlung und Übernahme von Verbindlichkeiten, Bürgschaften und anderen Sicherheiten und Garantien sowie die Verwaltung von Kreditsicherheiten durch die Kreditgeber;

d)      Umsätze – einschließlich der Vermittlung – im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einziehung von Forderungen;

e)      Umsätze – einschließlich der Vermittlung –, die sich auf Devisen, Banknoten und Münzen beziehen, die gesetzliches Zahlungsmittel sind, mit Ausnahme von Sammlerstücken, d. h. Münzen aus Gold, Silber oder anderem Metall sowie Banknoten, die normalerweise nicht als gesetzliches Zahlungsmittel verwendet werden oder die von numismatischem Interesse sind;

f)      Umsätze – einschließlich der Vermittlung, jedoch nicht der Verwahrung und der Verwaltung –, die sich auf Aktien, Anteile an Gesellschaften und Vereinigungen, Schuldverschreibungen oder sonstige Wertpapiere beziehen, mit Ausnahme von Warenpapieren und der in Artikel 15 Absatz 2 genannten Rechte und Wertpapiere;

g)      die Verwaltung von durch die Mitgliedstaaten als solche definierten Sondervermögen;

…“

5        Art. 173 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß den Artikeln 168, 169 und 170 besteht, als auch für Umsätze, für die kein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, darf nur der Teil der Mehrwertsteuer abgezogen werden, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt.

Der Pro‑rata‑Satz des Vorsteuerabzugs wird gemäß den Artikeln 174 und 175 für die Gesamtheit der von dem Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze festgelegt.

(2)      Die Mitgliedstaaten können folgende Maßnahmen ergreifen:

a)      dem Steuerpflichtigen gestatten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro‑rata‑Satz anzuwenden, wenn für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen geführt werden;

b)      den Steuerpflichtigen verpflichten, für jeden Bereich seiner Tätigkeit einen besonderen Pro‑rata‑Satz anzuwenden und für jeden dieser Bereiche getrennte Aufzeichnungen zu führen;

c)      dem Steuerpflichtigen gestatten oder ihn verpflichten, den Vorsteuerabzug je nach der Zuordnung der Gesamtheit oder eines Teils der Gegenstände oder Dienstleistungen vorzunehmen;

…“

6        Art. 174 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Der Pro‑rata‑Satz des Vorsteuerabzugs ergibt sich aus einem Bruch, der sich wie folgt zusammensetzt:

a)      im Zähler steht der je Jahr ermittelte Gesamtbetrag – ohne Mehrwertsteuer – der Umsätze, die zum Vorsteuerabzug gemäß den Artikeln 168 und 169 berechtigen;

b)      im Nenner steht der je Jahr ermittelte Gesamtbetrag – ohne Mehrwertsteuer – der im Zähler stehenden Umsätze und der Umsätze, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen.

…“

(2)      Abweichend von Absatz 1 bleiben bei der Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs folgende Beträge außer Ansatz:

a)      der Betrag, der auf die Lieferungen von Investitionsgütern entfällt, die vom Steuerpflichtigen in seinem Unternehmen verwendet werden;

b)      der Betrag, der auf Hilfsumsätze mit Grundstücks‑ und Finanzgeschäften entfällt;

c)      der Betrag, der auf Umsätze im Sinne des Artikels 135 Absatz 1 Buchstaben b bis g entfällt, sofern es sich dabei um Hilfsumsätze handelt.“

 Portugiesisches Recht

7        Die Art. 9 und 23 des Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch, im Folgenden: CIVA) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung setzen die in den Rn. 3 bis 6 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie in portugiesisches Recht um.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8        Rádio Popular ist eine Aktiengesellschaft, deren Haupttätigkeit im Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik‑ und Telekommunikationsartikeln besteht.

9        Außerdem bietet sie den Käufern ihrer Artikel eine Reihe von Zusatzleistungen an, zu denen u. a. eine Garantieverlängerung für die gekauften Artikel gehört. Diese Verlängerung ergibt sich aus einem Versicherungsvertrag, mit dem das Versicherungsunternehmen dem Käufer im Schadensfall über den von der Herstellergarantie erfassten Zeitraum hinaus die Reparatur des gekauften Artikels oder gegebenenfalls dessen Ersatz garantiert. Dieser Versicherungsvertrag wird zwischen einem Versicherungsunternehmen und den Käufern der von Rádio Popular veräußerten Artikel geschlossen.

10      Rádio Popular, die beim Verkauf der Versicherungsprodukte als Vermittlerin auftritt, stellt dem Kunden als Gegenleistung für die abgeschlossene Garantieverlängerung außer dem Preis des gekauften Artikels einen zusätzlichen Betrag in Rechnung. Die Verkaufstätigkeit betreffend die Garantieverlängerung findet somit beim Verkauf von Artikeln statt und erfolgt grundsätzlich unter Einsatz derselben materiellen und personellen Ressourcen wie dieser.

11      Da Rádio Popular der Auffassung war, dass es sich beim Verkauf von Garantieverlängerungen um von der Mehrwertsteuer befreite Versicherungsumsätze handele, berechnete sie hierfür keine Mehrwertsteuer, zog jedoch für ihre gesamte Tätigkeit in den Wirtschaftsjahren 2014 bis 2017 die entrichtete Vorsteuer in vollem Umfang ab.

12      Die AT kam, nachdem sie bei Rádio Popular eine diese Wirtschaftsjahre umfassende Prüfung durchgeführt hatte, zu dem Ergebnis, dass diese Gesellschaft zu Unrecht die in jenen Wirtschaftsjahren entrichtete Vorsteuer in vollem Umfang abgezogen habe, denn die von Rádio Popular mit dem Verkauf von Garantieverlängerungen erzielten Umsätze seien von der Mehrwertsteuer befreit und berechtigten daher nicht zum Vorsteuerabzug. Da die auf den Erwerb von gemischt genutzten Waren und Dienstleistungen entrichtete Steuer nur in Höhe des Prozentsatzes (pro rata) abzugsfähig sei, der dem jährlichen Betrag der Umsätze entspreche, die zum Abzug berechtigten, erließ diese Behörde gegen Rádio Popular vier Bescheide über Mehrwertsteuer und Ausgleichszinsen in Höhe von insgesamt 356 433,05 Euro.

13      Nachdem Rádio Popular einen Antrag auf Bildung eines aus mehreren Schiedsrichtern bestehenden Schiedsgerichts gestellt hatte, um diese Bescheide für rechtswidrig erklären zu lassen, erklärte das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa – CAAD) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren – CAAD], Portugal), dass seine Bildung am 11. April 2019 erfolgt sei.

14      Nach den Ausführungen des Schiedsgerichts ist zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig, dass die im Verkauf von Garantieverlängerungen bestehende Tätigkeit von Rádio Popular unter die für Versicherungsumsätze geltende Steuerbefreiung nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt, der im CIVA umgesetzt wurde. Es weist darauf hin, dass grundsätzlich, da dieser Teil der Umsätze von Rádio Popular somit nicht zum Vorsteuerabzug berechtige, ein Pro‑rata‑Abzug vorzunehmen sei, wie ihn die Art. 173 und 174 der Richtlinie für gemischt genutzte Waren und Dienstleistungen vorsähen.

15      Rádio Popular macht jedoch geltend, dass es sich bei den Umsätzen aus Verkäufen von Garantieverlängerungen um „Finanzumsätze“ handele, denen gegenüber der im Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik‑ und Telekommunikationsartikeln bestehenden Haupttätigkeit eine untergeordnete Bedeutung zukomme, so dass der auf sie entfallende Betrag bei der Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs gemäß der sowohl in Art. 23 Abs. 5 CIVA als auch in Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Ausnahme außer Ansatz bleiben müsse. Der Begriff „Finanzumsätze“ im Sinne dieser Bestimmungen sei nämlich weit auszulegen, da andernfalls sowohl der für diese Richtlinie geltende Grundsatz der steuerlichen Neutralität als auch der Grundsatz der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen verletzt würden.

16      Die AT trägt dagegen vor, dass diese Umsätze weder als „Finanzumsätze“ noch als „Hilfsumsätze“ im Sinne dieser Bestimmungen qualifiziert werden könnten. Sie weist insoweit darauf hin, dass zum einen Versicherungsumsätze wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht mit „Finanzumsätzen“ gleichgesetzt werden könnten, da die Mehrwertsteuerrichtlinie klar zwischen diesen beiden Begriffen unterscheide. Zum anderen handele es sich angesichts des Urteils vom 29. April 2004, EDM (C‑77/01, EU:C:2004:243), bei Umsätzen aus dem Verkauf von Garantieverlängerungen nicht um „Hilfsumsätze“.

17      Insoweit führt die AT u. a. aus, dass Rádio Popular gewohnheitsmäßig Garantieverlängerungen verkaufe und der damit erzielte Gewinn 35 % des von jedem Erwerber einer Garantieverlängerung gezahlten Betrags ausmache; sie benötige diesen Erlös, um wirtschaftlich überleben zu können.

18      Das vorlegende Gericht hält die von der AT vorgenommene Beurteilung, wonach diesen Verkäufen keine untergeordnete Bedeutung gegenüber den Verkäufen von Haushaltsgeräten sowie Informatik- und Telekommunikationsartikeln zukomme, für tatsächlich und rechtlich fehlerhaft. Auch sei nicht bewiesen, dass das wirtschaftliche Überleben von Rádio Popular vom Verkauf von Garantieverlängerungen abhänge. Unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Nebenleistungen stellt das vorlegende Gericht u. a. fest, dass nur ein geringer Prozentsatz des Gesamtwerts der Gegenstände oder Dienstleistungen, die Rádio Popular zur Ausübung ihrer Tätigkeit erworben habe, nämlich ungefähr 0,62 %, den Umsätzen aus dem Verkauf von Garantieverlängerungen zugeordnet werden könne.

19      Jedenfalls stelle sich die Frage, ob diese Umsätze als „Finanzumsätze“ im Sinne von Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und c angesehen werden könnten. Bei einer Gesamtbetrachtung dieser Bestimmungen zeige sich, dass die auf Versicherungsumsätze entfallenden Beträge bei der Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs nicht ausgeschlossen seien.

20      Unter diesen Umständen hat das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa – CAAD) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren – CAAD]) beschlossen, den Rechtsstreit auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stellen Umsätze betreffend die Vermittlung des Verkaufs von Garantieverlängerungen für Elektrogeräte, die von einem Mehrwertsteuerpflichtigen getätigt werden, dessen Haupttätigkeit im Verkauf von Elektrogeräten an Verbraucher besteht, nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und/oder Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Zwecke des Ausschlusses des entsprechenden Betrags von der Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs Finanzumsätze dar bzw. sind sie diesen nach den Grundsätzen der Neutralität und der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen gleichzustellen?

 Zur Vorlagefrage

21      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass für die Beantwortung der Vorlagefrage nicht nur Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und c der Mehrwertsteuerrichtlinie, auf den sich das vorlegende Gericht in seiner Frage unmittelbar bezieht, zu berücksichtigen ist, sondern auch Art. 174 dieser Richtlinie, der die Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs betrifft.

22      Insbesondere sieht Abs. 2 der letztgenannten Bestimmung für bestimmte Umsätze, u. a. für Hilfsumsätze, eine Abweichung von der in Abs. 1 dieses Artikels vorgesehenen Berechnungsweise des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs vor, nach der der Betrag dieser Umsätze im Nenner des Bruchs für die Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs im Sinne dieses Abs. 1 unberücksichtigt bleiben muss.

23      Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage dahin zu verstehen, dass im Wesentlichen bestimmt werden soll, ob Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 135 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er auf Umsätze Anwendung findet, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen seiner Haupttätigkeit, die im Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik‑ und Telekommunikationsartikeln an Verbraucher besteht, mit der Vermittlung des Verkaufs von Garantieverlängerungen erzielt, und ob demzufolge der Betrag dieser Umsätze im Nenner des Bruchs für die Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs im Sinne von Art. 174 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie unberücksichtigt bleiben muss.

24      Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens übereinstimmend der Auffassung sind, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsätze, die mit der Vermittlung des Verkaufs von Garantieverlängerungen erzielt werden, unter Art. 135 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie fallen und daher von der Mehrwertsteuer befreit sind.

25      Allerdings sind die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Umsätze unter den Umsätzen, für die die Abweichung nach Art. 174 Abs. 2 dieser Richtlinie gilt, nicht aufgeführt.

26      Daher ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob Umsätze wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unter Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen. Gegebenenfalls ist in einem zweiten Schritt festzustellen, ob solche Umsätze gleichwohl unter Art. 174 Abs. 2 Buchst. b oder c der Richtlinie fallen können, mit der Folge, dass der Betrag dieser Umsätze im Nenner des Bruchs für die Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs im Sinne von Abs. 1 dieses Artikels unberücksichtigt bleiben muss.

27      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe, mit denen die in Art. 135 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgeführten Steuerbefreiungen umschrieben werden, eng auszulegen sind, da die Befreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (Urteil vom 8. Oktober 2020, United Biscuits [Pensions Trustees] und United Biscuits Pension Investments, C‑235/19, EU:C:2020:801, Rn. 29).

28      Nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten „Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“ von der Steuer.

29      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es nach allgemeinem Verständnis das Wesen von Versicherungsumsätzen, dass der Versicherer sich verpflichtet, dem Versicherten gegen vorherige Zahlung einer Prämie beim Eintritt des Versicherungsfalls die bei Vertragsschluss vereinbarte Leistung zu erbringen. Sie setzen ihrem Wesen nach eine Vertragsbeziehung zwischen dem Erbringer der Versicherungsdienstleistung und der Person, deren Risiken von der Versicherung gedeckt werden, d. h. dem Versicherten, voraus (Urteile vom 17. März 2016, Aspiro, C‑40/15, EU:C:2016:172, Rn. 22 und 23, sowie vom 25. März 2021, Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 32).

30      Den vom vorlegenden Gericht übermittelten Informationen ist zu entnehmen, dass Rádio Popular durch den Versicherungsvertrag, der die Garantieverlängerung zugunsten der Käufer von Haushaltsgeräten sowie Informatik- und Telekommunikationsartikeln als Versicherten vorsieht, selbst nicht gebunden ist, sondern dass sie nur zwischen den Käufern und einem Versicherer vermittelt, mit dem dieser Vertrag geschlossen wird und der außerdem die Deckung des so versicherten Risikos übernimmt.

31      Gleichwohl ist zu prüfen, ob es sich bei Umsätzen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden um „dazugehörige Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“, im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt.

32      Wie sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt, hängt die Steuerbefreiung dieser Leistungen von der Erfüllung zweier kumulativer Voraussetzungen ab: Zum einen müssen diese Leistungen zu Versicherungsumsätzen „dazugehörige“ Dienstleistungen sein und zum anderen müssen sie „von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden“ (Urteil vom 25. März 2021, Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 34).

33      Zur ersten dieser Voraussetzungen hat der Gerichtshof entschieden, dass der Ausdruck „dazugehörig“ hinreichend weit ist, um verschiedene Dienstleistungen zu umfassen, die zur Bewirkung von Versicherungsumsätzen und insbesondere zur Schadensregulierung beitragen, die einen der wesentlichen Bestandteile dieser Umsätze bildet (Urteil vom 17. März 2016, Aspiro, C‑40/15, EU:C:2016:172, Rn. 33).

34      Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Dienstleistung, wie aus der Sachverhaltsdarstellung des vorlegenden Gerichts hervorgeht, im Wesentlichen im Verkauf von Garantieverlängerungen für gekaufte Artikel in Form eines Versicherungsvertrags, wie er in Rn. 30 des vorliegenden Urteils beschrieben ist, besteht, ist sie als im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zu einem Versicherungsumsatz dazugehörig anzusehen.

35      Was die zweite Voraussetzung anbelangt, ist für die Feststellung, ob die Dienstleistungen, deren Steuerbefreiung nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie beantragt wird, von einem Versicherungsmakler oder ‑vertreter erbracht werden, nicht auf die formale Eigenschaft des Dienstleistungserbringers abzustellen, sondern der Inhalt dieser Dienstleistungen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. März 2021, Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      In diesem Rahmen ist zu prüfen, ob zwei Kriterien erfüllt sind. Erstens muss der Dienstleistungserbringer sowohl mit dem Versicherer als auch mit dem Versicherten in Verbindung stehen, wobei diese Verbindung auch nur mittelbarer Natur sein kann, wenn der Dienstleistungserbringer ein Unterauftragnehmer des Versicherungsmaklers oder ‑vertreters ist. Zweitens muss seine Tätigkeit wesentliche Aspekte der Versicherungsvermittlungstätigkeit – wie Kunden im Hinblick auf den Abschluss von Versicherungsverträgen zu suchen und diese mit dem Versicherer zusammenzubringen – umfassen (Urteil vom 25. März 2021, Q‑GmbH [Versicherungsschutz für besondere Risiken], C‑907/19, EU:C:2021:237, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Im vorliegenden Fall sind diese Voraussetzungen von einer Dienstleisterin wie Rádio Popular von vornherein erfüllt, da sie, wie den vom vorlegenden Gericht übermittelten Informationen zu entnehmen ist, sowohl mit dem Versicherer, dessen Garantieverlängerungen umfassende Versicherungsprodukte sie verkauft, als auch mit dem Versicherten in unmittelbarem Kontakt steht, um diese Versicherungsprodukte beim Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik‑ und Telekommunikationsartikeln zu veräußern, und da sie damit Tätigkeiten ausübt, die im Wesentlichen mit der Tätigkeit eines Versicherungsvermittlers zusammenhängen, wie die Kundensuche und die Herstellung des Kontakts zwischen den Kunden und dem Versicherer im Hinblick auf den Abschluss von Versicherungsverträgen.

38      Vorbehaltlich der letztlich vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen, handelt es sich bei Umsätzen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen seiner Haupttätigkeit, die im Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik‑ und Telekommunikationsartikeln an Verbraucher besteht, mit der Vermittlung des Verkaufs von Garantieverlängerungen erzielt, folglich um zu Versicherungsumsätzen dazugehörige Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden, im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie.

39      Wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, fallen solche Umsätze jedoch nicht unter die in Art. 174 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Abweichung von der Berechnungsweise des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs, da diese Bestimmung nicht auf Art. 135 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie verweist.

40      Somit ist zu prüfen, ob Umsätze wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, obwohl es sich dabei um zu Versicherungsumsätzen dazugehörige Dienstleistungen, die von einem Versicherungsvertreter erbracht werden, im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt, u. a. im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität dennoch als „Hilfsumsätze mit Finanzgeschäften“ im Sinne von Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c dieser Richtlinie qualifiziert werden können.

41      Da Art. 174 Abs. 2 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Umsätze im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b bis g der Richtlinie verweist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 135 Abs. 1 dieser Richtlinie klar zwischen den Versicherungsumsätzen im Sinne von Buchst. a dieser Vorschrift und den in ihren Buchst. b bis g genannten Umsätzen, insbesondere den Umsätzen finanzieller Natur, unterscheidet.

42      Aus dem Wortlaut von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zum einen und von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b bis g dieser Richtlinie zum anderen geht nämlich hervor, dass diese Bestimmungen unterschiedliche Umsätze betreffen und dass Versicherungsumsätze nicht mit Finanzumsätzen gleichgesetzt werden dürfen, insbesondere nicht für eine Anwendung der in Art. 174 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Abweichung (vgl. entsprechend Urteil vom 17. März 2016, Aspiro, C‑40/15, EU:C:2016:172, Rn. 29).

43      Diese Feststellung kann auch nicht durch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität in Frage gestellt werden. Zwar lässt es dieser Grundsatz nach ständiger Rechtsprechung nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing, C‑224/11, EU:C:2013:15, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch enthalten die dem Gerichtshof vorgelegten Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei Versicherungsumsätzen und Finanzumsätzen um „gleichartige“ Umsätze im Sinne dieser Rechtsprechung handelt.

44      Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, erlaubt es dieser Grundsatz jedenfalls nicht, den Geltungsbereich einer Steuerbefreiung auszuweiten, ohne dass hierfür eine eindeutige Bestimmung in der Richtlinie existiert. Dieser Grundsatz ist nämlich keine Regel des Primärrechts, die für den Umfang eines Befreiungstatbestands bestimmend sein könnte, sondern ein Auslegungsgrundsatz, der neben dem Grundsatz der engen Auslegung von Befreiungen anzuwenden ist (Urteil vom 17. März 2016, Aspiro, C‑40/15, EU:C:2016:172, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Schließlich kann dementsprechend auch einer Auslegung, wonach der Begriff „Versicherungsumsätze“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie synonym zu dem der „Finanzumsätze“ im Sinne von Art. 174 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie sei, nicht gefolgt werden.

46      Das ordnungsgemäße Funktionieren und die einheitliche Auslegung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems verbieten es nämlich grundsätzlich, unter die Mehrwertsteuerrichtlinie fallende gleichartige Umsätze mit unterschiedlichen Begriffen zu bezeichnen, je nachdem, ob sie in der einen oder in der anderen Vorschrift dieser Richtlinie verwendet werden (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Oktober 2009, Swiss Re Germany Holding, C‑242/08, EU:C:2009:647, Rn. 31).

47      Folglich kann ein im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Versicherungsumsatz“ bezeichneter Umsatz kein Hilfsumsatz mit Finanzgeschäften im Sinne von Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 135 Abs. 1 Buchst. b bis g sein, und zwar unabhängig davon, ob es sich darüber hinaus um einen „Hilfsumsatz“ im Sinne der letztgenannten Bestimmungen handelt.

48      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 135 Abs. 1 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er auf Umsätze, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen seiner Haupttätigkeit, die im Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik- und Telekommunikationsartikeln an Verbraucher besteht, mit der Vermittlung des Verkaufs von Garantieverlängerungen erzielt, keine Anwendung findet, mit der Folge, dass der Betrag dieser Umsätze im Nenner des Bruchs für die Berechnung des Pro‑rata‑Satzes des Vorsteuerabzugs im Sinne von Art. 174 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht unberücksichtigt bleiben darf.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 174 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Art. 135 Abs. 1 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass er auf Umsätze, die ein Steuerpflichtiger im Rahmen seiner Haupttätigkeit, die im Verkauf von Haushaltsgeräten sowie Informatik- und Telekommunikationsartikeln an Verbraucher besteht, mit der Vermittlung des Verkaufs von Garantieverlängerungen erzielt, keine Anwendung findet, mit der Folge, dass der Betrag dieser Umsätze im Nenner des Bruchs für die Berechnung des ProrataSatzes des Vorsteuerabzugs im Sinne von Art. 174 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht unberücksichtigt bleiben darf.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Portugiesisch.