Zwölf Thesen zur Cancel Culture Politisch korrekt – was ist eigentlich noch erlaubt?

Analyse · Ein neuer Ausdruck macht derzeit die Runde – Cancel Culture. Danach muss jemand mit dem Verlust von Ansehen oder Job rechnen, wenn er oder sie sich nicht politisch korrekt ausdrückt. Ein Angriff auf die Meinungsfreiheit?

 In einer übersteigerten politische Korrektheit wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt (Symbolbild).

In einer übersteigerten politische Korrektheit wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt (Symbolbild).

Foto: picture alliance / Zoonar/DesignIt

Der Kampf um Sprache war und ist immer auch eine Machtfrage. Gerade totalitäre Regime wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus verordneten klare Sprachbilder und Sprachwendungen, um die Menschen zu indoktrinieren, zu verfolgen und zu bestrafen. Auf einer ganz anderen Ebene ist auch in Demokratien ein heftiger Konflikt entbrannt, was öffentlich sagbar ist und was nicht, was politisch korrekt ist und was nicht. Der Begriff der Cancel Culture macht die Runde.

Der aus dem angelsächsischen Raum stammende Begriff bezeichnet den Boykott von Personen, denen diskriminierende Sprache oder Haltungen vorgeworfen werden. Längst hat dieser Vorwurf auch in Deutschland Einzug gehalten. Jüngstes Beispiel sind Äußerungen des früheren Nationaltorhüters Jens Lehmann und des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (Grüne) gegenüber dem schwarzen Ex-DFB-Auswahlspieler Dennis Aogo. Sie wurden als rassistisch bewertet, kosteten Lehmann den Job und bescherten Palmer ein Parteiausschlussverfahren. Ironie der Geschichte: Auch Aogo verlor seine Stellung als TV-Experte, weil auch der Ex-Profi politisch unkorrekte Begriffe wie „Vergasung“ und „Zigeuner“ in der Vergangenheit benutzt hatte.

Ist das nun Cancel Culture oder notwendige Reaktion auf diskriminierende Äußerungen? Wer bestimmt, was gesagt werden darf und was nicht? Ist gar unsere Meinungsfreiheit in Gefahr, weil sich angeblich eine linksliberale Elite anmaßt, Sprachverbote zu verhängen, wie einige argwöhnen? Oder erlaubt ein scheinbar anonymes Netz ohne Anstandsregeln üble rassistische oder frauenfeindliche Beleidigungen?

Die Diskussion darüber ist breit, ein gutes Zeichen. Aber auch die Eiferer auf beiden Seiten legen es darauf an, den Konflikt eskalieren zu lassen. Unsere Redaktion hat sich deshalb Gedanken gemacht, wie Meinungsfreiheit und eine Diskussion unter Wahrung allgemein akzeptierter Regeln zusammengehen können. Dazu wurden zwölf Thesen aufgestellt und erläutert, die freilich ihrerseits wieder in Zweifel gezogen werden können. So funktioniert eine offene Debatte – das Fundament unserer Demokratie – nun einmal.

  1. Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. Dieser Satz aus Artikel fünf des Grundgesetzes gehört zu den unveräußerlichen Grundrechten jedes Menschen. In der Realität ist das Grundrecht durch Gesetze beschränkt – wenn es um Beleidigungen, Anstiftung zu Straftaten oder um Volksverhetzung geht. Im Rahmen unserer Thesen steht der Satz nicht umsonst an erster Stelle. Denn die Meinungsfreiheit ist die Maxime, von der alle weiteren Thesen zu politisch korrektem Verhalten abgeleitet werden müssen. Im Zweifel muss die Meinungsfreiheit gelten, nicht nur im Verhältnis zum Staat, sondern auch im Austausch der Bürger und Bürgerinnen untereinander.
  2. Die Diffamierung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft oder ihres Alters sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Hier stoßen zwei unveräußerliche Grundrechte aufeinander, das der Meinungsfreiheit und das der Gleichheit und Würde jedes einzelnen. Dass sich eine tolerante und zivilisierte Gesellschaft darauf einigt, dem Umgang miteinander einen Rahmen zu geben, dürfte allgemeine Zustimmung finden. Was unterdrückte Menschen als Diskriminierung empfinden, muss man dabei ihrem Urteil überlassen. Schwarze Menschen empfinden das „N-Wort“ als Beleidigung, damit ist es grundsätzlich tabu. Es darf nur in einem Kontext verwendet werden, der ganz klar keine Diskriminierung darstellt.
  3. Es gibt ein Recht auf dumme Meinungen. Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Der Spruch des deutschen Dichters und Freiheitsdenkers Friedrich Schiller kann durchaus auf den evangelischen Pastor Olaf Latzel aus Bremen angewandt werden. In einer Predigt über das Bibelwort „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ im Jahr 2015 bezeichnete er Buddha als „dicken, fetten Herrn“, das islamische Zuckerfest als „Blödsinn“ und den katholischen Segen Urbi et Orbi als „ganz großen Mist“. Zu Gewalt gegen andere Religionen rief er nicht auf, die Muslime nahm er als Gruppe ausdrücklich in Schutz. Trotzdem ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung, die Bremische Bürgerschaft beschloss eine Resolution „gegen Hasspredigten und Diskriminierung von der Kanzel“. Seine eigene Landeskirche warf ihm „geistige Brandstiftung“ vor. Gerade das sind die Tiraden des Pastors nicht, sondern eher abstruse und fundamentalistische Überzeugungen, die aber gleichwohl von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.
  4. Der Prozess der Meinungsfindung muss offen sein. In einer offenen Gesellschaft gibt es von vorneherein keine richtigen und falschen Meinungen. Frauen und Männer sind vor dem Gesetz gleich. Das hat der ehemalige Google-Softwareingenieur James Damore nicht in Frage gestellt. Er hat lediglich darauf hingewiesen, dass die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der Technologiebranche teilweise auf biologische Unterschiede zurückzuführen ist. Das sollte deshalb bei der Förderung der Frauen berücksichtigt werden. Man mag das vehement ablehnen, aber bitte mit Argumenten. Es könnte ja etwas dran sein, wenn der Meinungsprozess als offen begriffen wird. Google reagierte anders und entließ den Mann – ohne Diskussion.
  5. Außenseiter dürfen die herrschende Meinung herausfordern, ohne dafür geächtet und boykottiert zu werden. Das Europäische Institut für Klima & Energie (EIKE) leugnet den menschengemachten Klimawandel. Die Hotelkette NH verweigerte dem Verein 2019 die Ausrichtung seiner Jahrestagung, nachdem es zu Protesten von Umweltgruppen in der Hotellobby kam. Um es klar zu sagen: Die Proteste sind legitim – ebenso die Tagung des umstrittenen Instituts. Der Boykott und die Stornierung der Buchung sind aber Teil der Cancel Culture.
  6. Es gibt Tendenzen zu einer Cancel Culture – insbesondere in Hochschulen, bei Behörden, großen Unternehmen, Medien und in kulturellen Einrichtungen. Wenn Verlage wie S. Fischer die Zusammenarbeit mit der namhaften Schriftstellerin Monika Maron aufkündigen wegen einer vermuteten Nähe zu einer islamkritischen und rechtslastigen Dresdner Buchhandlung, ist das als Tendenz für Cancel Culture zu werten. Die Leitung der Universität Hamburg konnte sich 2019 nicht dazu durchringen, die Aktionen linker Aktivisten zu verurteilen, die eine Vorlesung des AfD-Gründers Bernd Lucke massiv störten und den Wirtschaftsprofessor zu Boden stießen. Auch die Strafversetzung des Leiters des Gesundheitsamts im bayerischen Aichach-Friedberg, Friedrich Pürner, nach einer fundamentalen Kritik an der Corona-Politik des Freistaats zeugt von Intoleranz. Das erinnert an den Extremistenerlass der 70er Jahre, als Lehrer, die der kommunistischen DKP angehörten aus dem Schuldienst entlassen wurden. Denn Cancel Culture ist nicht nur eine Erfindung der Rechten gegen das linksliberale Establishment. Die Ausladung der politischen Punkband Feine Sahne Fischfilet durch das Dessauer Bauhaus nach Druck aus dem rechten Lager ist dafür ein Beleg. Angeblich hatte die Gruppe in ihrem Song „Staatsgewalt“ zu illegalen Aktionen aufgerufen, sich aber inzwischen davon distanziert. Das Bauhaus blieb bei seiner Ausladung. „Wir sind als Bauhaus ein bewusst unpolitischer Ort“, lautete die Begründung. Allerdings handelt es sich bei diesen Beispielen um Einzelfälle. Anders als in den USA können in Deutschland Personen mit Außenseiterpositionen durchaus in Universitäten, Medien oder bei Podiumsdiskussionen auftreten und ihre Meinung verbreiten. Solche Beispiele schaden der Meinungsfreiheit, bedrohen sie aber nicht, wie manche besorgte Autoren meinen.
  7. Gedichte Schwarzer Menschen dürfen auch von Weißen übersetzt werden – um umgekehrt. Kultur ist universell und sollte nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sein – egal ob mit weißer oder schwarzer Hautfarbe. Bekanntheit erlangte diese Frage, als ein niederländischer Verlag die Gedichte der afro-amerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman von einer weißen Autorin übersetzen lassen wollte. Entschieden wurde die Frage durch den Rückzug der ursprünglichen Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld. Die Kritik an der Auswahl Rijnevelds bezog sich darauf, dass Weiße die Gefühle von schwarzen Autoren und Autorinnen nicht adäquat empfinden und ausdrücken können. Auch von kultureller Aneignung war die Rede. Der erste Punkt kann tatsächlich dazu führen, dass man für eine schwarze Autorin einen Übersetzer oder eine Übersetzerin der gleichen Hautfarbe, vielleicht mit der gleichen Erlebniswelt auswählt. Es muss aber nicht so sein. Schon gar nicht handelt es sich automatisch um eine Aneignung einer fremden Kultur. Die ist im negativen Sinne nur dadurch gegeben, dass sich der Übersetzer oder die Übersetzerin keine Mühe gibt, die Gedanken- und Erlebniswelt der Dichterin zu ergründen. Es muss möglich sein, dass Asiaten die Gedichte von Amerikanern, Frauen die von Männern, Muslime die von Katholiken oder Homosexuelle die von Heterosexuellen übersetzen. Das gilt auch für Film und Theater. Bei der historischen Netflix-Serie Bridgerton aus dem 19. Jahrhundert in Großbritannien spielte die Hautfarbe beim Casting keine Rolle. Das Ergebnis war wunderbar.
  8. Satire darf alles. Jeder hat das Recht, individuell beleidigt zu werden. Nach der berühmten Frage des deutschen Schriftstellers Kurt Tucholsky: Was darf Satire? ist Satire ihrem Wesen nach zutiefst ungerecht. Daraus folgt der Satz, dass jeder das Recht hat, individuell beleidigt zu werden: der Muslim, der Jude, die Christin, die Lesbierin, der Mensch mit Behinderung. Aber die Person darf nicht beleidigt werden als Muslima, Jude oder Behinderter. Das wäre Hetze. Ein Grenzfall ist die österreichische Kabarettistin Lisa Lasselsberger, die unter dem Künstlernamen Lisa Eckhart auftritt. In den WDR-Mitternachtsspitzen bediente sie 2018 über ihre Kunstfigur ein antisemitisches Klischee, als sie sagte: „Juden, da haben wir immer gegen den Vorwurf gewettert, denen ginge es nur ums Geld, und jetzt plötzlich kommt raus, denen geht’s wirklich nicht ums Geld, denen geht`s um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld.“ Solche Sprüche brachten ihr die Absage beim Hamburger Literaturfestival „HarbourFront“ ein. Man kann Eckharts Aussage durchaus geschmacklos finden. Satire darf kritisiert werden. Aber Hetze ist es nicht, eine Ausladung nicht gerechtfertigt. Der Autorin sei es um die Entlarvung von Vorurteilen gegangen, verteidigt übrigens der WDR den Auftritt. 
  9. Meinungsfreiheit ist nicht das Recht auf Widerspruchsfreiheit. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Satz gesagt. Und sie hat recht. Provokative, verstörende oder geschmacklose Äußerungen können, ja müssen Reaktionen auslösen. Wenn ein evangelischer Pastor das islamische Zuckerfest als „Blödsinn“ bezeichnet oder der italienische Kernforscher Alessandro Strumia sagt „Physik ist von Männern erfunden und aufgebaut worden“, und Frauen dürften aus politischen Gründen Posten dort nicht einfordern, muss man solchen Leuten entschieden widersprechen. Manche empfinden einen solchen scharfen Widerspruch, vielleicht auch eine Störaktion, schon als Zensur. Zu Unrecht. Wenn etwa der deutsche Eishockey-Torwart Thomas Greiss als bekennender Trump-Fan die Gegenkandidatin Hillary Clinton auf Instagram mit Hitler vergleicht und sie auf einem weiteren Post mit abgeschlagenem Kopf zeigt, ist das in der Tat „politischer Extremismus“, der im Sport nichts zu suchen habe, wie der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB), Alfons Hörmann, scharf kritisiert. Dass er vom Deutschen Eishockey-Bund zu einem Gespräch eingeladen wurde und dabei auch gerügt wurde, ist noch längst keine Zensur.
  10. Das, was politisch als korrekt angesehen wird, hat sich über die Jahrzehnte verändert. Es gibt heute vielfältige Klage darüber, dass eine linksliberale gutsituierte Elite, wie der Psychologe und Buchautor Kolja Zydatiss argwöhnt, oder eine „beleidigte Generation“, wie die französische Feministin Caroline Fourest klagt, das Sagbare definieren wollen. Dabei, so diese Kritik, würden die Grenzen so eng gezogen, dass die Meinungsfreiheit auf der Strecke bleibe. An Universitäten und in Medien würden sich die Autoren nur noch ganz strikt an das halten, was diese hohen Priester und Priesterinnen der politischen Korrektheit vorgäben. Egal, ob daran etwas dran ist oder nicht, und vieles spricht dagegen: Neu wären solche Vorgaben allerdings nicht. In den 50er und noch in den 60er Jahren galt die Verweigerung des Wehrdienstes als Vaterlandsverrat, Bekenntnisse zur Homosexualität waren strafbar und Angriffe auf die Kirchen wurden mit Berufsverboten belegt. Der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der vorbehaltlos die Nazi-Verbrechen einiger seiner Mitbürger verfolgen wollte, hatte fast den gesamten Polizeiapparat damals gegen sich – trotz der Unterstützung durch den hessischen SPD-Ministerpräsidenten Georg-August Zinn. Kein Geringerer als Konrad Adenauer machte 1961 Wahlkampf gegen Willy Brandt, in dem er dessen uneheliche Geburt indirekt brandmarkte und ihn damit als unseriös darstellte. Auch das war eine Art Cancel Culture, die inzwischen längst überwunden ist. Und so könnte es mit der politischen Korrektheit unserer Tage auch kommen.
  11. Die Zukunft unserer Gesellschaft wird bunter und multikultureller sein. Die Leitkultur ist das Grundgesetz. Das entspricht genau den Regeln, an die sich alle zu halten haben – für dieses herausfordernde Experiment. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es ein langer Weg mit Irrungen und Wirrungen zum Grundgesetz war.
  12. Wir sollten alle etwas rheinisch gelassener sein. Jeder Jeck ist anders. Das bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.
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