Naher Osten:Abrechnung mit den Autokraten

Naher Osten: Rainer Hermann: Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 302 Seiten. 18 Euro.

Rainer Hermann: Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 302 Seiten. 18 Euro.

Rainer Hermann erklärt erfrischend klar, was in der arabischen Welt alles schiefläuft.

Von Wolfgang Freund

"Die Achse des Scheiterns" ist ein Rundumschlag von großer innerer Logik und liefert eine ungebremste Abrechnung mit den inzwischen seit Jahrzehnten staatslenkenden Inkompetenzen der Machthaber von Marokko bis Irak: Korruption, Klientelismus, uferloser Machthunger, menschenverachtender, ausbeuterischer Umgang mit der eigenen Bevölkerung.

Und das Buch ist erfrischend. Vor allem dann, wenn man die berufliche Verankerung des Autors Rainer Hermann, Jahrgang 1956, in Betracht zieht. Mehrsprachiger (inkl. Arabisch) Islamwissenschaftler und Volkswirt, arbeitet er in der politischen Redaktion der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ressort: Türkei und Naher Osten allgemein. FAZ-Leser sind in der Regel einen anderen Sound gewöhnt: bürgerlich ausgewogen, "sowohl als auch"-Töne, politically correct wo immer möglich - doch hier geht es geradlinig zu.

Großbeispiel Ägypten, dem der Autor seine ganze Aufmerksamkeit schenkt: Die post-monarchischen Staatschefs ab 1952, Gamal Abdel Nasser, Anwar El-Sadat, Hosni Mubarak und ganz besonders der derzeit amtierende Abd al-Fattah al-Sisi, heißen bei Hermann "Generäle als Pharaonen". Zitat: "Unter Sisi entwickelte sich Ägypten zu einem Polizeistaat, und dank einer Verfassungsänderung kann er mindestes bis zum Jahr 2030 im Amt bleiben." Die jungen Menschen Ägyptens, und das ist die Mehrzahl von heute zwischen 102 und 103 Millionen, charakterisiert der Autor als "Generation Gefängnis". Dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron wirft Rainer Hermann vor, al-Sisi bei dessen Staatsbesuch in Paris den höchsten Orden der Republik (La Medaille de Grand-Croix de la Légion d'honneur) verliehen zu haben. Ja, für welche Verdienste eigentlich?

Die Frühlingsrevolten endeten in Sackgassen

Gleichartiges gilt für Algerien, Libyen, Sudan, Syrien, Jemen, Saudi-Arabien. Die arabischen Winter- und Frühlingsrevolten von 2010/2011, offen oder verdeckt operiert habend, enden in Sackgassen, abgesehen von Tunesien, das seine schmerzhaft errungenen demokratischen Strukturen bislang noch bewahren kann. Vielleicht schafft es auch Marokko, aus seinem postkolonialen, monarchischen Absolutismus allmählich auszubrechen. Möglicherweise ist König Mohammed VI. ein besserer "Demokrat", als der ihm vorausgegangene Ruf vermuten ließ. Eine nicht allzu ferne Zukunft wird uns dazu Näheres berichten. In Algerien, dem größten Land des ehemals französischen Maghreb, sowohl geografisch (2,38 Millionen Quadratkilometer) und demografisch (43,8 Millionen) als auch hinsichtlich des Wirtschaftspotenzials (Erdöl, Erdgas, leider in falschen Händen!), müssten in eine bessere Zukunft führende Gleise völlig neu gelegt oder deren Weichen umgeschaltet werden.

Am schlimmsten sieht es in Libyen, im Jemen sowie im sogenannten "Fruchtbaren Halbmond" (Syrien, Libanon, Irak) aus. Eigentlich existieren diese Länder in ihrer bis vor wenigen Jahren noch gegebenen Form heute gar nicht mehr, zerfallen zunehmend in ethnisch oder religiös gefärbte "Distrikte", wo meist hochkriminelle Warlords das Sagen haben, ausländische Mächte (Türkei, Iran, Russland, aber auch die USA) kleinkarierte mörderische Stellvertreterkriege führen (lassen) und Millionen Menschen in die Flucht treiben, Richtung Europa.

Niemand in Europa soll glauben, das ginge ihn nichts an

Doch Chaos total für jedermann, also auch für "uns", die wir glauben mögen, das Geschehen berühre Europa nur am Rande. In Wirklichkeit sitzen wir alle auf einem Monstervulkan, der jederzeit ex- wie auch implodieren kann. Hermann analysiert die zwischen Nordafrika, dem Nahen Osten und "uns" aufgebrochenen Perversitäten kühl und sachlich. Pikanterweise hat das alles mit dem "historischen" Nahostkonflikt (Israel, Arabische Welt) faktisch nichts mehr zu tun.

Jeder mit Maghreb und Nahost näher Befasste kommt an Rainer Hermanns "arabischem Scheitern" nicht vorbei. Lichtblicke am Horizont? Kaum wahrnehmbar. Bei Lehnert & Landrock, der traditionsträchtigen, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende deutschen Buchhandlung in Downtown Cairo, dürfte das Buch allerdings nicht zu finden sein. Stattdessen gibt es Hitlers "Mein Kampf" in diversen arabischen Übersetzungen (Kifahi) bei fliegenden Händlern an mehreren Straßenecken der Kairoer Innenstadt.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt in Südfrankreich.

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