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Solidarität mit der Ukraine Schöne deutsche blau-gelbe Heimeligkeit

Ein Gastbeitrag von Deniz Yücel, Präsident des PEN-Zentrums Deutschland
Symbolische und praktische Solidarität brauchen nicht nur die, die aus der Ukraine fliehen, sondern auch jene, die bleiben und kämpfen.
Ukrainische Flagge bei Antikriegsdemonstration in Berlin, 13. März 2022

Ukrainische Flagge bei Antikriegsdemonstration in Berlin, 13. März 2022

Foto: CHRISTIAN MANG / REUTERS

Ob in der Bahn oder in der Bank und sowieso im Internet – seit dem russischen Überfall auf die Ukraine kann man hierzulande keinen Schritt machen, ohne auf Gesten der Verbundenheit mit der Ukraine oder Aufrufe zur praktischen Solidarität zu stoßen. Daran ist nichts auszusetzen, schon gar nicht im Sinne eines naserümpfenden Moralismus. Wie der Zeit-Journalist Yassin Musharbash treffend bemerkte , ist es keineswegs empörend, dass »Europäer einen Krieg in Europa mit mehr Entsetzen verfolgen als einen Krieg im Irak« – solange man einen Krieg in Europa nicht grundsätzlich schlimmer findet als einen Krieg anderswo.

Ja, die Solidarität mit der Ukraine ist erfreulich groß. Aber nach meinem Dafürhalten ist dies eine Solidarität mit Auslassungen. Doch zuvor zu der Frage, die mir (und vielen) in den vergangenen Wochen häufiger gestellt wurde als irgendeine andere: Nein, nichts mit Flugverbotszone – auch dazu später mehr –, sondern: Ist es richtig, russische Kultur zu boykottieren, russische Künstlerinnen und Künstler zu sanktionieren?

Das deutsche PEN-Zentrum muss nicht zu jedem Aspekt des Krieges eine kollektive Position haben und hat sie auch nicht. Hierbei schon. Sie lautet : »Der Feind heiß Putin, nicht Puschkin.«

Falsch sind nicht nur pauschale Boykottmaßnahmen, falsch ist es auch, russischstämmige Menschen einem Bekenntniszwang über Krieg und Putin auszusetzen.

Pauschale Maßnahmen gegen russische Künstler, Wissenschaftler, Sportler usw. halte ich für falsch, weil es einen Unterschied ums Ganze macht, ob man es mit einem Kritiker oder einem Anhänger des Putin-Regimes zu tun hat – und weil derlei Reaktionen geeignet sind, Putins wahnhaftes Weltbild von einer großen Verschwörung gegen das Russentum und die Propaganda von einer angeblichen »Russophobie«, die den Westen antreibe, zu bestätigen.

(Kein Einzelfall: Wo der ugandische Diktator Idi Amin noch Avantgarde darin war, internationale Kritik an seiner massenmörderischen Herrschaft als »Rassismus« und »Kolonialismus« zurückzuweisen, gehören heute Versatzstücke aus dem postkolonialen und antirassistischen Begriffsarsenal zum guten Ton unter Autokraten. Xi Jinping sieht ständig »Sinophobie« am Werk, Tayyip Erdoğan »Türkenfeindlichkeit« und »Islamophobie«. Zweck dieser Abwehrreaktion: universelle Menschenrechte zu Kulturgütern umzudeuten, die der »kollektive Westen« anderen Leuten aufzwingen wolle.)

Falsch sind nicht nur pauschale Boykottmaßnahmen, falsch ist es auch, russischstämmige Menschen einem Bekenntniszwang über Krieg und Putin auszusetzen. »Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, er heißt zum Sagen zwingen«, bemerkte der französische Philosoph Roland Barthes einmal. Personen des öffentlichen Lebens, die zuvor mit einschlägigen Äußerungen aufgefallen sind, müssen sich Nachfragen gefallen lassen. Ansonsten aber muss in einer liberalen Gesellschaft niemand etwas sagen.

Umgekehrt bedeutet dies nicht, an »Dialog« und Zusammenarbeit mit allem und jedem festzuhalten. Vielmehr halte ich es für geboten, sämtliche Institutionen des Putin-Regimes zu boykottieren – so wie einst die Anti-Apartheid-Bewegung für eine weltweite Ächtung des rassistischen Südafrika kämpfte. Ebenso halte ich es für angemessen, auf Distanz zu Leuten zu gehen, die sich in der Vergangenheit als lupenreine Autokratenkumpels gezeigt haben.

Doch einen pauschalen Kulturboykott fordert hierzulande ohnehin niemand. Aber warum diskutieren wir dann seit Wochen wieder und wieder über diese Frage? Bei Menschen, die Kontakte zum dissidenten Teil der russischen Gesellschaft haben und beispielsweise Ende vorigen Jahres – wie das deutsche PEN-Zentrum auch – gegen das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial protestiert haben, mag es Sorge geben, dass die falschen Leute bestraft werden. Aber ich vermute, der wesentliche Grund ist ein anderer: Wir, der Kulturbetrieb, das Feuilleton, diskutieren so gern über diese Frage, weil wir uns so insgeheim Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten vorgaukeln, die wir angesichts der mörderischen Gewalt eines Krieges nicht haben.

Die Leidtragende dieses Krieges ist nicht die russische Kultur, es sind die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine.

In der öffentlichen Wahrnehmung aber trägt diese Debatte ungewollt zu einer Unverhältnismäßigkeit bei. Darum eine Erinnerung, die nötiger ist, als sie auf den ersten Blick scheinen könnte: Die Leidtragende dieses Krieges ist nicht die russische Kultur, es sind die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine.

Anderer Aspekt, ähnliche Schieflage: Ich finde es bewundernswert, wie viele Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sich für die Flüchtlinge aus der Ukraine engagieren. Die allermeisten Menschen können nicht mehr tun, als in symbolischer Form Protest und Anteilnahme kundzutun, Geld zu spenden oder, wenn ihr Zuhause groß genug ist, Flüchtlinge in ihren eigenen vier Wänden aufzunehmen. Was sie nicht können: die Ukraine zum EU-Beitrittskandidaten erklären, Luftabwehrsysteme und andere Waffen liefern, eine Flugverbotszone einrichten, Gasimporte aus Russland stoppen, Gazprom- und Sberbank aus dem Swift-System ausschließen.

Nicht diesen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, aber sehr wohl Politikern, Journalisten, NGO-Vertretern und anderen, die öffentlich das Wort gegen den Krieg ergreifen, sei gesagt: Humanitäre Hilfe kann die Hilfe zur Selbstverteidigung der Ukraine nicht ersetzen. Symbolische und praktische Solidarität brauchen nicht nur die, die fliehen, sondern auch jene, die kämpfen.

Ein letzter Aspekt, in dem sich die Verzerrung der Diskussion zeigt: der – völlig berechtigte – Respekt, welcher der russischen Fernsehjournalistin Marina Owsjannikowa gezollt wird, deren Protestaktion um die Welt ging . Oder denjenigen, die unter großem persönlichem Risiko in Moskau und Petersburg, in Irkutsk und Wladiwostok gegen den Krieg auf die Straße gehen. Oder den russischen und belarussischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die den Krieg öffentlich verurteilen, darunter auch die russischen PEN-Zentren.

Aber: Die Menschen, die in der eroberten ukrainischen Stadt Cherson gegen die Besatzungstruppen demonstrieren, verdienen nicht weniger Aufmerksamkeit. Und die Zivilisten und Soldaten, die Kiew und Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen, verdienen nicht weniger Anerkennung.

Genau diese Auslassungen aber haben nahezu System. So erinnerte auf der Lit.Cologne, wo einige Einlassungen von mir Rücktrittsforderungen innerhalb des PEN nach sich gezogen haben, die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker in ihrem Grußwort an die Flüchtlinge, an Marina Owsjannikowa und die Proteste in Russland. Die in Cherson erwähnte sie nicht.

Ein besonders krasser Fall zeigte sich auf der Großkundgebung Ende Februar in Berlin. So erfreulich breit das Spektrum der Rednerinnen und Redner war, fehlte ausgerechnet die Initiative »Vitsche«. Dieser Zusammenschluss von eher linksgerichteten, jungen Deutsch-Ukrainern hatte bereits im Januar die Proteste gegen den Krieg organisiert – als andere, darunter die Bundesregierung, noch annahmen, die russische Armee sei zum Picknick an die ukrainische Grenze ausgerückt. Vergangene Woche wurde bekannt, warum sie und mit ihnen viele ukrainische Berliner nicht zwischen Großer Stern und Brandenburger Tor demonstrierten, sondern zur selben Zeit an anderer Stelle: Die Organisatoren der Großkundgebung wollten sie nicht dabeihaben, weil sie Waffenlieferungen und eine Flugverbotszone fordern.

Ich meine: Man muss diese Forderungen ja nicht teilen. Aber wer es ernst meint mit der Solidarität, muss diesen Stimmen wenigstens zuhören.

Jede einzelne der türkischen Bayraktar-Kampfdrohnen hat mehr für die Verteidigung der Ukraine geleistet als alle deutschen Beiträge zusammen.

Selbst diese Aufgabe übernahm – auch das bezeichnend –, kein Publikumsblatt, sondern die kleine linke Wochenzeitung Jungle World: »Wir sind keine Waffenliebhaber«, sagte dort Anton Dorokh , ein Mitgründer von »Vitsche«. »Die Realität ist aber, dass unser Land gerade Waffen braucht, um zu überleben und sich zu verteidigen – nicht um anzugreifen.« Eine Erkenntnis, zu der die Bundesregierung bis zum russischen Angriff nicht fähig war und an der so manche – auch und gerade Linke – heute noch scheitern. Horrible dictu, erst recht für mich: Jede einzelne der türkischen Bayraktar-Kampfdrohnen hat mehr für die Verteidigung der Ukraine geleistet als alle deutschen Beiträge zusammen.

Seit dem erzwungenen Meinungswechsel der Bundesregierung ist das Thema Waffenlieferungen nicht mehr ganz so umstritten. Anders die Forderung nach einer Schließung des Luftraums über der Ukraine, die nicht nur Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj fordert. In den vergangenen Wochen habe ich keinen Beitrag eines ukrainischen Autors gelesen oder gehört, in dem dieses Thema nicht aufgetaucht wäre. Bei Serhij Zhadan, Oksana Sabuschko, Juri Andruchowytsch, Katja Petrowskaja, Katia Mishchenko, dem ukrainischen PEN-Präsidenten Andrej Kurkow … oder dem Übersetzer und Publizisten Juri Durkot. Bei einer Kundgebung auf dem Berliner Bebelplatz sagte er in einer Videozuschaltung  aus Lemberg: »Wenn es irgendwie hülfe, würde ich jene zwei oder drei Minuten lang, die für jeden von uns eingeplant sind, einfach nur das Wort ›Flugverbotszone‹ rezitieren.«

Woher diese Forderung rührt, liegt auf der Hand: Nachdem der heldenhafte Kampf der Ukrainer eine handstreichartige Eroberung verhindert hat, droht ukrainischen Städten dasselbe Schicksal wie dem tschetschenischen Grosny und dem syrischen Aleppo. Sie ließ Putin in Schutt und Asche bomben, vor den Augen der westlichen Welt, die weitgehend taten- und teilnahmslos zusah, nicht zuletzt deshalb, weil es sich dabei um mehrheitlich von Muslimen bewohnte Städte handelte (und es auch gegen Dschihadisten ging).

Ebenso wenig von der Hand weisen lässt sich, dass eine Flugverbotszone unkalkulierbare Risiken in sich bergen würde – im Extremfall bis zum Atomkrieg. Ohne dieses Risiko zu bestreiten, halte ich es für einen schweren Fehler, dass die Nato diese Maßnahme kategorisch ausgeschlossen hat. Womöglich hätte schon eine ernsthafte Drohkulisse Wirkung auf die russische Seite gezeigt. Zumindest den westlichen Teil der Ukraine könnten die Nato oder dazu bereite Staaten immer noch – im Idealfall mit einem Mandat der UN-Vollversammlung oder der OSZE – zur Flugverbotszone erklären.

Die Militärfachleute, die vor den möglichen Folgen warnen, bedürfen keiner Fürsprache eines Laien wie mir, um Gehör zu finden. Aber erlaubt ist der Hinweis, dass die meisten dieser Experten noch vor ein paar Wochen überzeugt waren, dass Putin nur »Säbelrasseln« betreibe und man ihn bloß nicht mit Waffenlieferungen provozieren dürfe. Und die Gefahr einer nuklearen Eskalation besteht auch ohne Flugverbotszone: Was, wenn auch Nato-Länder von russischen Truppen attackiert werden? Wenn sie in der Ukraine taktische Nuklearwaffen einsetzen? Wer Putin zutraut, gegen Nato-Staaten zu Atomwaffen zu greifen, kann dies mit Blick auf die Ukraine schwerlich ausschließen. Und die politische wie ethische Frage, ab welchem Punkt die westliche Welt zur Verteidigung von Freiheit, Menschenrechten und – selbstverständlich! – Frieden eine Konfrontation riskieren muss, kann man Militärexperten allein nicht überlassen.

»Bisher jedenfalls ist es nicht westlicher Übermut, sondern eher westlicher Kleinmut, der Putins Aggression beförderte«, resümiert der Journalist Alan Posener  in der Zeit in einer der wenigen deutschen Wortmeldungen für eine Flugverbotszone. Wer ihm – oder mir – »Kriegstreiberei« vorwirft, unterliegt nicht nur einer grotesken Überschätzung, was Zeitungsartikel bewirken können, er übersieht auch, dass der Krieg bereits da ist und diese Überlegung der Maßgabe dient, wie er beendet werden kann, ohne die Ukraine einem Aggressor zu überlassen, der die Existenzberechtigung dieses Landes bestreitet.

Journalisten, Intellektuelle und Künstler haben ein Privileg, das zugleich Verpflichtung ist: die Freiheit, über Dinge nachzudenken, ohne dass dies sofort handfeste Folgen nach sich ziehen würde.

Zugleich bin ich in dieser Situation noch glücklicher als sonst, dass ich nicht der Bundesregierung angehöre und keine Freigabecodes für Luftwaffeneinsätze besitze. Dafür genießen Journalisten, Intellektuelle und Künstler ein anderes Privileg, das zugleich Verpflichtung ist: die Freiheit, über Dinge nachzudenken, ohne dass dies sofort handfeste Folgen nach sich ziehen würde. Wie tauglich eine kritische Öffentlichkeit ist, zeigt sich in Momenten der Krise. Selbstverständlich dürfen Beobachter und Kritiker auch dann mit ihrer Regierung übereinstimmen. Aber sie sind keine publizistischen Grenztruppen; ihre Aufgabe besteht nicht darin, die Diskursgrenzen zu überwachen, die eine Regierung gezogen hat.

Doch die ukrainischen Stimmen stoßen im besten Fall auf jenes betretene Schweigen, das der Bundestag nach der Videoansprache von Präsident Selenskyj vorführte: mit Geburtstagsgrüßen und Geschäftsordnungsdebatte, feige oder teilnahmslos, auf jeden Fall aber beschämend für das deutsche Parlament und für dieses Land.

Ruppiger geht es – wo sonst? – im Internet zu. Ob der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk poltert und anklagt (und mit unglücklichen Äußerungen wie etwa über die in weiten Teilen rechtsextreme Asow-Brigade für zusätzlichen Unmut sorgt) oder die deutsch-ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja bei Anne Will verzweifelt zu erklären versucht, warum die Ukrainerinnen und Ukrainer ihren Himmel sichern möchten – eine wachsende Zahl der Deutschen reagiert mit herrischer Abweisung. Tenor: »Wir sind schon solidarisch, dafür erwarte ich Dankbarkeit. Mir reicht’s langsam mit diesen ständigen Anschuldigungen und überzogenen Forderungen.«

Das sagen nicht nur Leute, die im Einklang mit der russischen Propaganda die Nato für den wahren Kriegsschuldigen halten und den ukrainischen Widerstand für eine faschistische Angelegenheit, sondern auch welche, die ihren Twitteraccount blau-gelb gefärbt oder Petitionen gegen den Krieg unterschrieben haben.

In anderer Hinsicht werden ukrainische Stimmen nicht schroff abgewiesen, bloß geflissentlich übergangen, nämlich wenn sie darauf hinweisen, dass Putins Angriff nicht nur ihrem Land gilt. »Nicht Sie helfen uns, der Ukraine. Indem sich die Ukraine gegen die russischen Besatzer verteidigt, hilft die gerade der freien Welt«, formuliert die Schriftstellerin Oksana Sabuschko diesen Gedanken. Weiter geht Serhij Zhadan, der aus dem bedrängten Charkiw im SPIEGEL schreibt: »Dies ist kein lokaler Konflikt, der morgen zu Ende sein wird. Dies ist der dritte Weltkrieg. Und die zivilisierte Welt hat kein Recht, diesen zu verlieren.«

Das ist verstörend, womöglich auch überspitzt – aber allemal eine ernsthafte Debatte wert. Doch weite Teile der deutschen Öffentlichkeit scheren sich nicht um solche Fragen. Den Ukrainerinnen und Ukrainern billigt man allein die Rolle von fürsorgebedürftigen Opfern zu, gleichauf mit russischen Regimegegnern. Als politische wie militärische Subjekte hingegen stören sie die blau-gelbe Heimeligkeit, die an die Stelle der Putin-Versteherei getreten ist. Kurz: Die Solidarität der Deutschen mit der Ukraine könnte so schön sein, wir wären so mächtig stolz auf uns, würden da nicht immer diese Ukrainer dazwischengrätschen. Himmelherrgott, was erlaube Ausländer?