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Im Rathaus sind Blumen abgegeben worden, spontan haben sich Demonstrationen gebildet. Bestürzte Bürger aus der Region haben Kerzen am Tatort aufgestellt, Fanpost und Geld geschickt an die tapfere junge Frau von Mittweida. Rebecca K. ist am Abend des 3. November 2007 einem kleinen Kind zu Hilfe geeilt, das von Rechtsradikalen drangsaliert wurde, und hat ihren Mut bitter büßen müssen: Die vier martialischen Gestalten haben sie gepackt und ihr mit einer skalpellartigen Waffe ein Hakenkreuz in die Hüfte geschnitten – obwohl sie sich nach Kräften gewehrt hat.

Diese Geschichte jedenfalls erzählte Rebecca K., und als Matthias Damm, Bürgermeister des sächsischen Städtchens, der 17-Jährigen in die Augen schaute, schenkte er ihr Glauben. Damm dachte bei sich: »Sollte sie gelogen haben, wird sie mir jetzt nicht ins Gesicht sehen können.« Doch Rebecca hielt seinem Blick stand. Heute weiß der Bürgermeister allerdings nicht mehr, was er von Rebecca halten soll. Fast alles, was die Polizei ermittelt hat, spricht dafür, dass das Mädchen sich diese brutale Szene bloß ausgedacht hat.

Im November jedenfalls schlug die Nachricht ein wie eine Bombe. Reporter und Kamerateams strömten nach Mittweida. Hatte man nicht geradezu auf das nächste Nazidelikt im Osten gewartet? Und jetzt hatte es sogar ein hilfloses Kind und ein unerschrockenes junges Mädchen getroffen! Die Polizei gab vorschnell bekannt, die Zeugin sei glaubwürdig.

Dabei gab es von Anfang an Ungereimtheiten in Rebeccas Geschichte: So ist sie nach ihrem traumatischen Erlebnis nicht einmal zur Polizei gegangen. Auch ihre Eltern erfuhren erst durch einen Verwandten von dem Überfall auf ihre Tochter, sie waren es, die Rebecca schließlich dazu drängten, den Vorfall anzuzeigen – neun Tage nach der Tat.

Auch von den zahlreichen Augenzeugen, die nach Rebeccas Angaben deren Martyrium tatenlos auf Balkonen stehend mitangesehen haben sollen, meldete sich keiner, nicht einmal, als 5000 Euro für sachdienliche Hinweise ausgesetzt wurden. Die Polizei ermittelte zwar eine Sechsjährige, die das schikanierte kleine Kind hätte sein können, doch auch diese Spur löste sich im Nichts auf.

Blieb das in die Hüfte eingeritzte Hakenkreuz als einziger Beweis. Eine Rechtsmedizinerin hielt es für möglich, dass Rebecca sich die Wunde selbst zugefügt haben könnte, legte sich aber nicht fest. Erst als die Staatsanwaltschaft Chemnitz den Chef der Gerichtsmedizin Hamburg, Klaus Püschel, um ein Gutachten bat, kam Licht in die Sache. Püschel ist ein Fachmann für selbst beigebrachte Hautläsionen in Hakenkreuzform, er hat darüber zahlreiche Aufsätze veröffentlicht und verfügt über eine ansehnliche Fotosammlung von blutunterlaufenen Hakenkreuzen auf Stirnen, Bäuchen, Armen und Beinen – die alle von der Hand der vermeintlichen Opfer stammen. Als Püschel die Fotos von Rebeccas Wunden analysiert, hat er keinen Zweifel, dass es sich um Selbstbeschädigungen handelt.

Vorgetäuschte Straftaten gehören zum Alltag der Gerichtsmedizin. Selbst beigebrachte Wunden erkennt der Fachmann zum Beispiel daran, dass sie an für die eigenen Hände leicht zugänglichen Körperpartien liegen, vor allem an Armen, Brust und Gesicht. Wichtige Funktionsbereiche wie Augen und Ohren oder schmerzempfindliche Regionen – Lippen oder Brustwarzen – bleiben ausgespart. Bei den Verletzungen handelt es sich meistens um sehr oberflächliche Ritz- und Schnittverletzungen, die sorgfältig parallel und gerade gezogen sind – so sehen gewaltsam beigebrachte Wunden nicht aus, schon gar nicht nach heftiger Gegenwehr. Eine polizeiliche Anzeige komme bei diesen Patienten fast ausschließlich auf Druck der Eltern oder Partner zustande.

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Ein selbst geritztes Hakenkreuz verspricht höchste Aufmerksamkeit

Allein in der Hamburger Rechtsmedizin melden sich pro Monat zwei bis drei junge Frauen zwischen 15 und 25 Jahren, die versuchen, sich als angebliche Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten vorzustellen. Die meisten werden rasch enttarnt, denn die Befunde decken sich nicht mit ihren Schilderungen. Viele gestehen alsbald. Die Motive der Frauen sind unterschiedlich, manche wollen jemandem gezielt Schaden zufügen, andere flüchten sich in die Opferrolle, um einem Konflikt in der Familie oder am Arbeitsplatz zu entrinnen, wieder andere wollen einfach nur die Zuwendung der Umwelt erzwingen.

Das selbst geritzte Hakenkreuz kommt vornehmlich im Osten vor. 1994 erregte eine junge Rollstuhlfahrerin aus Halle international Aufsehen: Sie gab sich medienwirksam als Opfer von Rechtsextremisten aus, nachdem sie sich das Nazimal eigenhändig ins Gesicht geschnitten hatte. Manfred Kleiber, dem Chef der örtlichen Gerichtsmedizin, genügte damals eine Blickdiagnose. Ihm kommt alle ein bis zwei Jahre so ein Hakenkreuz unter die Augen – die Presse erfährt in den meisten Fällen nichts, und die Staatsanwaltschaft stellt die Verfahren in aller Stille ein. »Auch deshalb, weil die Selbstbeschädiger oft an einer psychischen Störung leiden«, sagt Kleiber. Ihre Wunden seien Appelle an die Umwelt, sich ihrer endlich anzunehmen. Und das Hakenkreuz stelle eine »maximale Tabuverletzung« dar und damit eine »Optimierung der öffentlichen Aufmerksamkeit«.

Eine Lüge ist umso effizienter, je perfekter sie die Erwartungen der Belogenen bedient. Mancher Zeitungsleser erinnert sich noch an den Rummel um eine mit einem Ausländer verheiratete Frau aus einem sächsischen Städtchen, die vor acht Jahren behauptet hatte, ihr kleiner, dunkelhaariger Sohn Josef sei von einer Horde Rechtsradikaler im städtischen Freibad ertränkt worden. Alle Badegäste hätten zugesehen. Die Medienreaktion erschütterte die Republik. Josefs Mutter ließ sich als Pietà von Sachsen tausendfach interviewen und fotografieren, sie geisterte durch Talkshows und wurde vom damaligen Bundeskanzler Schröder empfangen. Einige junge Leute wurden als Verdächtige festgenommen. Kaum jemand bezweifelte, dass die Geschichte von den mörderischen Rassisten stimmte.

Dem Rausch folgte die Ernüchterung. Die Staatsanwaltschaft Dresden ließ alle Inhaftierten nach wenigen Tagen wieder frei, sämtliche Vorwürfe der Frau waren erfunden gewesen. Der fünfjährige Josef hatte einen tödlichen Badeunfall erlitten; seine grausame Ermordung durch grölende Neonazis war nichts anderes gewesen als das Fantasiegespinst einer Mutter, die über den Tod ihres Kindes nicht hinwegkam.

Und nun Rebecca aus Mittweida. Welche Motive mochten sich hinter der vermuteten Selbstverletzung verbergen? Ihr Fall jedenfalls nahm einen grotesken Verlauf: Das Berliner Bündnis für Demokratie und Toleranz, eine vor acht Jahren vom Bundesinnen- und Bundesjustizministerium ins Leben gerufene Initiative gegen rechte Gewalt, entschloss sich, ihr den Ehrenpreis für Zivilcourage zu verleihen – unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Chemnitz gegen die designierte Preisträgerin mittlerweile wegen des Verdachts der Vortäuschung einer Straftat ermittelte. Es gehe in erster Linie darum, »Zivilcourage zu loben, und nicht um die Frage, ob das Mädchen sich diese Verletzung, von der immer wieder die Rede ist, selbst beigebracht« habe, sagte Rebeccas Laudatorin, die ehemalige parlamentarische Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast, in das Mikrofon des Lokalsenders 99drei Radio Mittweida .

Nicht selten sind die falschen Zeugen von ihrer Geschichte selbst überzeugt

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Am 1. Februar 2008 findet der Festakt im Rathaus Mittweida statt – und Rebecca kommt. Ihre Eltern und ihr Anwalt Axel Schweppe schirmen sie vor lästigen Fragern ab. In einer kleinen Rede dankt sie unter Schluchzern all jenen, die »trotz all dem Schwachsinn, der verbreitet wurde, zu mir gehalten haben«. Anschließend präsentiert sie sich »profihaft dem Medienansturm«, wie die Freie Presse befremdet registriert. Sie dreht und wendet sich bereitwillig vor den Kameras und nimmt die Gratulationen strahlend entgegen. Ob die Staatsanwaltschaft das Mädchen jetzt anklagen oder das Verfahren – wie es auch sonst meist geschieht – einstellen wird, ist noch offen. Sollte sie selbst die Urheberin des Hakenkreuzes sein, ist ein Geständnis von Rebecca jetzt nicht mehr zu erwarten, der Gesichtsverlust wäre zu gewaltig. Spätestens die Preisverleihung hat ihr den Rückweg zur Wahrheit abgeschnitten.

Falsche Zeugen, die ein virulentes Interesse am Ausgang eines Verfahrens haben, kommen bei den unterschiedlichsten Delikten vor. Alle aber eint, dass sie die Wahrheitsliebe dem eigenen Vorteil unterordnen – der für jeden anders aussehen kann: Der Unfallfahrer beharrt darauf, dass ihm die Vorfahrt genommen worden sei; der diebische Geldbote gibt an, die Geldbombe sei ihm entrissen worden; die verlassene Geliebte will vom einstigen Liebhaber vergewaltigt worden sein; der enttäuschte Geschäftsmann bezichtigt seinen ehemaligen Kompagnon des Betrugs; und dann gibt es noch das Heer jener, deren Motiv zunächst gar nicht erkennbar ist, die es aber auf das höchste Gut einer Mediengesellschaft abgesehen haben: die Währung Aufmerksamkeit. Es sind die psychisch Fragilen, die die Justiz mit ihren Erzählungen in Atem halten. Menschen, die an Persönlichkeitsstörungen leiden, die in Selbstwertkrisen stecken, Hysterikerinnen, die sich ungeliebt und verstoßen fühlen. Wichtigtuer sind der Schrecken der Strafverfolger, es gibt sie schon so lange wie die Justiz selber – doch ihre Zahl wächst. Liegt es daran, dass mehr und mehr Menschen vereinsamen, in seelische und soziale Not geraten? Liegt es an der Allgegenwart des Fernsehens, das den Unbeachteten Macht suggeriert, in Doku-Soaps und Gerichtsshows?

Bei der Polizei jedenfalls melden sich Opfer krimineller Handlungen oder Zeugen, die Schlimmes beobachtet haben wollen – bis hin zu Mord und Totschlag. Nicht selten sind diese Anzeigeerstatter von ihren Geschichten zutiefst überzeugt. Wird ein Mensch gezielt beschuldigt, haben die Staatsanwälte ein Problem: Wenn es keine weiteren Anhaltspunkte für eine Straftat gibt als allein die Aussage des Zeugen und wenn der Beschuldigte die Tat bestreitet, dann steht Aussage gegen Aussage. Wem soll man dann glauben? Weil sich diese Frage den Staatsanwälten und Richtern immer häufiger stellt, ziehen sie verstärkt Glaubwürdigkeitssachverständige zurate.

Die Gutachter befragen den Anzeigeerstatter und analysieren seine Angaben anhand vom Bundesgerichtshof festgelegter Kriterien. Mit ihren Expertisen legen sie den Ermittlern oder Richtern eine Entscheidung nahe. Und oft wird das Verfahren dann eingestellt. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie häufig Falschbeschuldigungen vorkommen; fragt man aber Rechtspsychologen, werden Quoten zwischen vierzig und sechzig Prozent genannt.

Jasmin B. klang so authentisch, dass selbst der Psychologe auf sie hereinfiel

Axel Wendler, Richter am Oberlandesgericht Stuttgart, beschäftigt sich – auch als Lehrbeauftragter der Universität Tübingen – mit dem für die Gerichte immer drängender werdenden Problem: Woran erkenne ich, wer lügt? Für die DeutscheAnwaltAkademie bildet er Juristen in den Fachgebieten Aussagenanalyse und Vernehmungslehre weiter. Was spricht für die Wahrhaftigkeit einer Aussage, was dagegen? Wendlers zentrale Frage lautet immer: Könnte der Zeuge diese Geschichte so auch erzählen, wenn er sie nicht erlebt hat?

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An einem alltäglichen Exempel aus dem deutschen Straßenverkehr demonstriert er den Kursteilnehmern, wie anfällig selbst der Normalbürger für die Falschaussage vor Gericht ist und wie rasch durch gute Fragen ein Lügengebäude zum Einsturz gebracht werden kann. Drei der anwesenden Juristen verabreden im Rollenspiel eine Falschaussage zu einem vorgegebenen Verkehrsdelikt: Einer hat die Tat begangen, die beiden anderen – Freunde des Delinquenten – waren bei dem Vorfall zwar nicht dabei, sollen den Übeltäter aber nun als falsche Zeugen entlasten. Zunächst hören sich die abgestimmten Aussagen überzeugend an. Dann nimmt Wendler den Beschuldigten und seine Komplizen einzeln in die Zange. Er springt vor und zurück, er will Dinge wissen, die auch die ausgebufftesten Verschwörer nicht bedacht haben können, weil sie direkt vor oder nach dem Delikt geschehen sein müssen. Schließlich fangen die Zeugen an, einander zu widersprechen, bis die verabredete Aussage zuletzt zusammenbricht. »In Ihrem eigenen Interesse lasse ich Sie jetzt nicht schwören«, sagt Wendler scherzhaft zu seinen drei Versuchspersonen. Und fügt hinzu, 99 Prozent der Lügner blieben auch unter Eid bei ihrer Falschaussage – »die rennen sehenden Auges in den Untergang«.

Für einen Vernehmungsspezialisten ist es relativ einfach, den bewussten Lügner zu entlarven: Dessen Aussage ist häufig glatt und bleibt eher allgemein. Im angeblich Erlebten dominiert das Typische, nicht das Besondere. Der Lügner will den Überblick nicht verlieren, deshalb vermeidet er möglichst alle Komplikationen, weil jede ein Tor für weitere Nachfragen öffnet. Ist er gerissen, hütet er sich obendrein vor Verflechtungen mit den Aussagen weiterer Zeugen, die ihm widersprechen könnten.

Oft ist er bei der Befragung angespannt, was zur Über- oder Unterkompensation führt, das heißt: Wer lügt, neigt zu emotionalen Ausbrüchen, er weint, braust empört auf oder wird immer leiser und meidet Blickkontakt. Auch deshalb wird bei polizeilichen Vernehmungen bestimmter Opferzeugen gern eine Videokamera aufgestellt. Die Vernehmung eines möglichen Lügners müsse mit größter Umsicht vorgenommen werden, mahnt Wendler seine Hörer, Gericht oder Verteidigung dürften bei ihren Überführungsversuchen keine zu direkten Fragen stellen, keinen zu starken Druck aufbauen, denn auch der einfältigste Zeuge habe »ein untrügliches Gespür dafür, worauf der andere hinauswill und wo die Gefahr lauert«.

Noch schwieriger wird es für den Vernehmer, wenn er einen Lügner vor sich hat, der subjektiv gar nicht lügt, sondern felsenfest davon überzeugt ist, die Wahrheit zu sagen. Solchen Fantasten ist mit den üblichen Methoden der Aussagepsychologie nicht mehr beizukommen, hier hilft bloß, die Entstehung der Aussage genau zu recherchieren und zu prüfen, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat und wann und wie es zu der möglichen Suggestion eines schrecklichen Erlebnisses gekommen sein kann.

So war es bei der 36-jährigen Jasmin B., deren Erzählungen um ein Haar einen Menschen lebenslang hinter Gitter gebracht hätten. Was ihr widerfahren sein soll, hörte sich so authentisch an, dass zunächst sogar der bekannteste deutsche Aussagepsychologe, der Berliner Professor Max Steller, darauf hereinfiel: Im Januar 2007 schreibt Frau B. aus der Justizvollzugsanstalt Vechta – wo sie wegen Betrugs einsitzt – an die örtliche Polizei, sie wolle einen Mord zur Anzeige bringen. Ihre Tante habe vor 26 Jahren den eigenen vierjährigen Sohn Markus mit einer Damenstrumpfhose erdrosselt. Sie selbst – Jasmin, damals neun Jahre alt – habe das Verbrechen, hinter einem Gebüsch verborgen, mit eigenen Augen gesehen. Ihr ganzes Leben lang sei sie diesen Eindruck nicht losgeworden. Den Mut, die Tante anzuzeigen, habe sie erst jetzt gefunden.

Die Zeugin will die zuckenden Arme des sterbenden Opfers gesehen haben

Frau B.s Tante, die 48-jährige Monika Kern, wird verhaftet. Ihr Sohn Markus ist tatsächlich ermordet worden, am 19. August 1981 im niedersächsischen Oldenburg. Anderntags spürte ein Polizeihund die Leiche des erdrosselten Kindes im Gebüsch am Bahndamm auf. Der Fall hatte damals viel Aufsehen erregt, die halbe Stadt nach dem verschwundenen Kind gesucht. Nach dem Leichenfund war Markus’ Mutter in Verdacht geraten, hatte die Tat aber heftig bestritten. Monika Kern konnte damals nichts nachgewiesen werden, ein Motiv war nicht erkennbar. Der Fall blieb ungeklärt. Und nun, 26 Jahre später, meldet sich die Nichte.

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Weil es auf die Aussage von Jasmin B. ankommt, soll Professor Steller die Zeugin auf ihre Zuverlässigkeit hin untersuchen. Steller trifft Jasmin B. nicht mehr im Gefängnis an, sie sitzt jetzt in der Psychiatrie. Die Diagnose lautet »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Borderlinerinnen gelten als wenig wahrheitsliebende Zeuginnen, sie sind manipulativ und hochsuggestibel und neigen dazu, sich mit allerhand Erfundenem interessant zu machen. Außerdem weigert sich die Probandin, über ihr Vorleben zu sprechen. Doch so viel wird klar: Sie ist eine hochproblematische Figur, hat Selbstverletzungen und Suizidversuche hinter sich und ist wegen Betrugsdelikten vorbestraft. Von diversen Männern hat sie etliche Kinder, die sämtlich in Pflegefamilien untergebracht sind. Psychisch ist Frau B. am Boden, fast die ganze Befragung hindurch weint sie.

Die Zeugin gibt an, bereits 2004 bei einem Gefängnisaufenthalt in Chemnitz einer Psychologin von ihrem Trauma berichtet und das Sterben von Markus auf 80 DIN-A4-Seiten niedergeschrieben zu haben. Dann erzählt sie, dass sie schon vor dem Tod des Kindes diverse Anschläge der Mutter auf Markus habe miterleben müssen: Monika Kern habe ihn die Treppe hinuntergestoßen und mit Fleckenwasser zu vergiften versucht – jedes Mal habe sie selbst dem Cousin das Leben gerettet. An seinem Todestag nun habe sie ihre Tante auf dem Fahrrad verfolgt, als diese – den kleinen Markus auf dem Gepäckträger – zum Bahndamm geradelt sei. Jasmin will eine Abkürzung genommen und durch ein Einkaufszentrum gefahren sein, das Rad irgendwann abgestellt und die Verfolgung zum Bahndamm hinauf zu Fuß fortgesetzt haben. Dort oben geschah die Tat: Jasmin B. will nur den Rücken der Mörderin und die zuckenden Arme des sterbenden Opfers erkannt haben. Dann drehte die Tante sich um, entdeckte die kindliche Zeugin, lief ihr nach und bedrohte sie mit dem Tode. Deshalb, sagt Frau B., habe sie so lange geschwiegen.

Der Sachverständige Steller ist sich über den psychischen Zustand der Zeugin durchaus im Klaren, aber er weiß auch, dass viele echte Zeugen von ihren Erlebnissen aufs Schwerste verstört sind. In seinem Gutachten hält er »eine Erfindung dieses Sachverhaltes ohne Aktenkenntnis« für »in hohem Maße unwahrscheinlich«. Auch findet er »keine Hinweise auf das Vorliegen einer absichtlichen Falschaussage«. Besonders die Erwähnung eines halbwüchsigen Jungen, der unweit der Stelle, wo Jasmin das Rad zurückließ, gestanden haben soll, beeindruckt den Gutachter. Diesen Jungen gab es damals wirklich, er hatte eine Mutter mit Kind auf dem Gepäckträger vorbeiradeln sehen, ein Mädchen, das die beiden verfolgte, hatte er allerdings nicht bemerkt.

Im September 2007 wird Monika Kern wegen Mordes angeklagt, sie beteuert unbeirrt, mit dem Tod ihres Kindes nichts zu tun zu haben: »Markus war mein Ein und Alles!« Doch die Anklage stützt sich auf die »glaubhaften Angaben« der Jasmin B. In dieser misslichen Lage wendet sich die Verteidigerin der Angeklagten, die Stuttgarter Rechtsanwältin Margrete Haimayer, an den Richter am Oberlandesgericht Axel Wendler und bittet ihn, das Steller-Gutachten unter die Lupe zu nehmen. Weil ihm darin etliche Ungereimtheiten auffallen, greift sie mit seiner Rückendeckung die Expertise des Psychologen an.

In ihrem Schriftsatz trifft Haimayer den Kern des Problems: Die Zeugin Jasmin B. sei »hochgradig suggestibel«, sie wolle helfen, sie wolle Anerkennung. Sie wolle den kleinen Markus »nachträglich retten«, indem sie den Mörder präsentiere. Bestärkt worden sei die Zeugin in ihrer Falschaussage von dem Aufklärungseifer der örtlichen Polizei.

Auch die eigene Rolle der Zeugin als rettender Engel, der nicht nur bei dem Treppensturz und bei der versuchten Vergiftung des Cousins eingegriffen habe, sondern auch noch als Mordzeuge zugegen gewesen sei, kommt Frau Haimayer mehr als verdächtig vor. Minutiös analysiert sie die jeweiligen Aussagen der Frau B., die ihre Darstellung immer wieder modifiziert hat. Selbst bei der Gefängnispsychologin der Justizvollzugsanstalt Chemnitz ruft die Verteidigerin an, die kann sich zwar noch schemenhaft an Jasmin B. erinnern, aber von deren Mordbeobachtung hat sie nie gehört. Dass die angeblich 80 Seiten lange Niederschrift nirgendwo zu finden ist, überrascht die Anwältin danach nicht weiter.

Die lebenslange Angst vor der Tante, in der Frau B. gelebt haben will, nimmt ihr Haimayer auch nicht ab: Die Tante sei nach Stuttgart verzogen, über viele Jahre habe es keinerlei Kontakte zwischen den Frauen gegeben. Bleibt die Erinnerung an den halbwüchsigen Jungen in der Nähe des Tatorts, die den Gutachter Steller so beeindruckt hat. Dabei, argumentiert Haimayer, könne nicht ausgeschlossen werden, dass Jasmin B. nicht doch irgendwie aus den Akten von dessen Existenz erfahren habe – immerhin hatten diverse Anwälte aus der Familie Akteneinsicht.

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Der Angriff der Verteidigung sitzt, Professor Steller reagiert professionell und relativiert sein Gutachten ohne Zögern: Wenn die Vollzugspsychologin von dem Mord nichts wusste und die 80 Seiten gar nicht existierten, könnte es durchaus sein, dass es sich bei den Beobachtungen der Zeugin B. bloß um Scheinerinnerungen handle.

Im Prozess gegen Monika Kern vor dem Landgericht Oldenburg zerfällt die Aussage der angeblichen Mordzeugin vollends. Das Gericht findet heraus, dass es das Einkaufszentrum, das die neunjährige Jasmin B. bei ihrer Verfolgung der Tante seinerzeit per Rad durchquert haben will, zum Zeitpunkt der Tat noch gar nicht gab. Es wurde erst 1985 gebaut – davor existierte dort nur eine Sumpflandschaft. Auch stellt sich jetzt heraus, dass der Fundort des toten Kindes höchstwahrscheinlich gar nicht der Tatort war. Jasmin B. will die Tat aber am Leichenfundort – dessen Foto in allen Zeitungen stand – beobachtet haben. Der Sachverständige Steller rückt nun ganz von seinem Gutachten ab und konstatiert bei der Zeugin Scheinerinnerungen. Am 22. Februar 2008 wird Monika Kern freigesprochen.

»Ich traue jungen Frauen inzwischen alles zu«, sagt die Staatsanwältin

Was wäre gewesen, wenn das Oldenburger Einkaufszentrum 1981 schon dort gestanden hätte, wo es steht? Wenn das Gericht sich mit der Angeklagten Kern nicht so viel Mühe gegeben hätte? Sie säße heute im Gefängnis – unschuldig als Mörderin. Wie viele Menschen mag es geben, deren Leben aufgrund flott vorgetragener falscher Anschuldigungen zerstört ist?

Max Steller räumt gegenüber der ZEIT ein, bei der Zeugin Jasmin B. »völlig danebengelegen« zu haben. Andererseits kann auch ein Gutachter nicht hellsehen, die Aussagepsychologie ist keine Gedankenleserei. Wäre der Sachverständige von der Staatsanwaltschaft über die Anknüpfungstatsachen informiert gewesen, wäre ermittelt worden, dass eine Menge Fakten in der Aussage der Frau B. nicht zutreffen – Steller hätte diese Zeugin niemals ernst genommen.

Der Mord an ihrem Cousin sei eine Art »Live-Event« in der Biografie der Jasmin B. gewesen, erklärt Steller heute die Scheinerinnerungen der Frau. Durch jahrelange gedankliche Beschäftigung habe sie in diesem gewaltsamen Tod den Grund für ihr enormes seelisches Leid und die ganze Misere ihres Lebens gefunden. Gefördert wurde die Autosuggestion durch das Umfeld, in dem Verwandte insgeheim der Mutter Kern die Verantwortung für den Tod des Jungen zuschoben. Diese Mixtur aus eigenem Versagen und familiären Schuldzuweisungen habe wohl dazu geführt, dass Frau B. schließlich selber glaubte, eine Mordzeugin zu sein.

Um Tötungsdelikte geht es aber nur in Ausnahmefällen, die meisten Falschbeschuldiger zeigen Körperverletzungen oder Sexualverbrechen an: Der ersten Zeugengruppe fühlt deshalb die Gerichtsmedizin auf den Zahn, die Gruppe der Sexualopfer bereitet der Justiz enorme Schwierigkeiten. Hier steht in der Regel Aussage gegen Aussage – vor allem dann, wenn es keine körperlichen Befunde gibt und der sexuelle Übergriff schon einige Zeit zurückliegen soll. Susanne Folkers, die in der Staatsanwaltschaft Bochum Sexualdelikte und häusliche Gewaltdelikte verfolgt, ermittelt deshalb oft viele Wochen, ehe sie ein Verfahren einstellt oder vor Gericht bringt. In zehn bis dreißig Prozent ihrer Verfahren klagt sie an – und in den allermeisten Fällen werden die Angeklagten dann auch verurteilt.

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Die Mehrzahl der Verfahren aber stellt Folkers ein: entweder weil die Anzeigeerstatterin plötzlich von ihrem Zeugnisweigerungsrecht als Angehörige Gebrauch macht (um des häuslichen Friedens willen, vermutet Folkers) oder weil die Staatsanwältin nicht klären kann, wer lügt – Verdächtiger oder Opferzeugin. Es kommt allerdings auch immer wieder vor, dass Zeuginnen, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Unschuldigen mit Hilfe der Justiz über die Klinge springen lassen wollen. Das Fazit der Staatsanwältin nach 17 Jahren in diesem Dezernat: »Die meisten Zeuginnen sagen die Wahrheit, auch wenn sie sich nicht immer nachweisen lässt«, aber sie sagt auch: »Ich traue jungen Frauen inzwischen alles zu.«

Misstrauisch wird Susanne Folkers vor allem dann, wenn ihr ein Sexualdelikt erst Wochen oder gar ein halbes Jahr nach der Tat gemeldet wird. Und besonders hellhörig reagiert sie, wenn sich der beschuldigte Mann kurz vor der behaupteten Tat von der Familie getrennt hat, aus der die Anschuldigung kommt, womöglich wegen einer neuen Frau; oder wenn ein junges Mädchen den angezeigten Stiefvater von jeher als Eindringling betrachtet hat. In solchen Fällen greift die Staatsanwältin auf das Spezialwissen der Aussagepsychologie zurück. Um die Selbstdarstellerinnen unter den Opfern herauszufiltern, müsse man Zeuginnen heute deutlich härter anpacken als früher, sagt Folkers. Und das tut ihr leid für all jene, die Missbrauch und Vergewaltigung wirklich erlitten haben. »Die Leidtragenden«, sagt sie, »sind die wirklichen Opfer.«

Viele Richter bilden sich fort, man ist Zeugen gegenüber jetzt misstrauischer

Rüdiger Deckers sieht das Leid eher aufseiten seiner Mandanten. Deckers ist Verteidiger in Düsseldorf, auf Sexualstraftaten spezialisiert und schätzt die zu Unrecht Beschuldigten unter jenen Mandanten, die die Tat bestreiten, auf 40 bis 50 Prozent. Jedes Jahr organisiert Deckers eine Fachtagung zum Thema »Zeugenaussagen im Strafprozess«, auf der führende Wissenschaftler, Sachverständige und Bundesrichter das Problem der Zeugenzuverlässigkeit beraten. Viele in der Justiz, stellt Deckers fest, bildeten sich neuerdings fort; man sei Zeugen gegenüber erheblich misstrauischer geworden. Auch weil die Richter es mit einer wachsenden Zahl von Opferzeuginnen zu tun hätten, die für ihren Auftritt vor Gericht von Personen im Hintergrund »gecoacht« und mit Spezialwissen zur Glaubhaftigkeitsanalyse aufgerüstet worden seien.

Auf die 16-jährige Eva hatten gleichfalls schon etliche wohlmeinende Kräfte eingewirkt, bevor sie am 8. Juni 2006 bei der Staatsanwaltschaft Flensburg gegen ihren Stiefvater Anzeige wegen schweren sexuellen Missbrauchs erstattete. In einem von ihrer Anwältin formulierten siebenseitigen Schreiben wirft sie Peter L. vor, sie seit dem achten Lebensjahr mit Intimitäten und körperlichen Manipulationen verfolgt, sie geküsst und Geschlechtsverkehr mit ihr versucht zu haben. Detailreich und anschaulich wird beschrieben, wie es in der Badewanne oder im Schlafzimmer zu den Übergriffen kam, was der Beschuldigte sagte, wie er roch und was Eva bei alledem durch den Kopf ging. Bei der polizeilichen Videovernehmung einen Monat später fallen die Schilderungen des Mädchens weit blasser aus. Unsicher und von zahlreichen Pausen und Ausbrüchen unangemessener Heiterkeit unterbrochen, wiederholt sie die Anschuldigungen gegen L.

Ohne größere Ermittlungen angestellt zu haben, klagt die Staatsanwaltschaft Flensburg Peter L. wegen sexuellen Missbrauchs in über 30 Fällen an – obwohl der Beschuldigte entschieden bestreitet, seiner Stieftochter ein Leid zugefügt zu haben. Obwohl weder der Mutter noch dem Freund des Mädchens vor deren Missbrauchsbehauptungen irgendetwas Verdächtiges aufgefallen ist und Eva immer als unkompliziertes Kind und gute Schülerin galt. Obwohl keinerlei Indizien ihre Angaben stützen. Obwohl das Mädchen die Vorwürfe erst erhoben hat, nachdem der Stiefvater ihre Mutter verlassen und sich einer anderen Frau zugewandt hatte und zwischen den Exeheleuten Streit um das gemeinsame Haus entbrannt war. Obwohl Eva die Delikte erst volle 15 Monate nach ihrer ersten Offenbarung angezeigt hat.

Die zuständige Staatsanwältin, die eng mit Wagemut, der örtlichen Beratungsstelle für sexuellen Missbrauch, zusammenarbeitet – und für die Schaffung eines Flensburger Netzwerks gegen sexuelle Gewalt sogar mit der Verdienstmedaille des Bundesverdienstkreuzes ausgezeichnet wurde –, glaubt der Zeugin auch so: Sie beruft sich auf ihre Erfahrung und auf viele für Missbrauch typische Umstände in Evas Bekundungen. Ein aussagepsychologisches Gutachten holt sie nicht ein.

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Am 28. Januar 2008 beginnt der Prozess gegen Peter L. vor dem Landgericht Flensburg. Dem Angeklagten droht eine langjährige Freiheitsstrafe. Weil L.s Verteidiger, der Hamburger Rechtsanwalt Johann Schwenn, darauf besteht, beauftragen die Richter nun doch die Kieler Glaubwürdigkeitssachverständige Petra Hänert mit der Untersuchung der Zeugin, die ihr Gutachten am Ende des Prozesses erstatten wird.

Zuerst schildert der Angeklagte, wie seine Stieftochter, die schon einmal den Verlust eines Vaters erlitten hatte, heftig weinte, als sie erfuhr, dass er die Familie verlassen werde. Dann treten die ersten Zeugen auf: die Mutter und der Freund. Ihrer Mutter hat Eva all die Jahre kein Wort von den Übergriffen des Stiefvaters gesagt, obwohl die beiden ein vertrauensvolles Verhältnis verbindet. Der Freund sagt aus, Eva habe ihm nach dem Auszug des Peter L. lediglich unter Tränen erzählt, dass sie von L. missbraucht worden sei, was im Einzelnen vorgefallen sei, habe sie für sich behalten.

Mit seinem Beistand wendet sich Eva nun nicht an die Polizei, sondern an Wagemut. Auch dort macht sie keine näheren Angaben und wird an eine der Beratungsstelle nahestehende Psychotherapeutin weitergereicht, bei der sie ihr Trauma ein Jahr lang bearbeitet. In der Therapie geht es zunächst um ganz andere Sorgen: Eva fühlt sich in der Klasse gemobbt, zu Hause herrscht schlechte Stimmung, Mutter und Tochter fürchten, das Häuschen an den Geschiedenen abtreten zu müssen. Vom Missbrauch – dessentwegen sie ja da ist – sagt Eva ihrer Therapeutin zunächst wenig, später deutet sie Erinnerungsfragmente an, bleibt aber, was Ort und Zeit angeht, im Ungefähren. Die Therapeutin ist es dann, die der Patientin die Erinnerungen entlockt und allerlei Daten abringt, die sie auch gleich in die Maschine tippt – für eine spätere Anzeige. So kommt es im Verlauf der Therapie bei Eva zu schwallartigen Erinnerungsschüben, die von der Therapeutin alsbald dokumentiert werden. Nach einem Jahr, in dem die Therapeutin ihr wiederholt nahelegte, L. anzuzeigen, bricht Eva die Behandlung ab.

Schwenn beantragt, die Unterlagen der Therapeutin zu beschlagnahmen, und fördert damit Neuigkeiten zutage, die Eva in ihrer Aussage nicht erwähnt hat: Vor der Anzeige gegen den Stiefvater hatte die Zeugin ein Praktikum bei der Staatsanwaltschaft Flensburg gemacht – unter anderem im Dezernat für Sexualdelikte, wenn auch nicht bei der ermittelnden Staatsanwältin. Aber den Entschluss, L. vor Gericht zu bringen, fasste das Mädchen auf einer Informationsveranstaltung ebenjener Staatsanwältin, die später in Evas eigener Sache auftrat. Diese gerät im Prozess plötzlich in Erklärungsnot: Sie kann sich an Eva nicht erinnern. Doch die Tatsache, dass sich eine spätere Zeugin innerhalb der Behörde fortbilden konnte, dass niemand dokumentierte, in welche Akten sie Einsicht hatte und bei welchen Prozessen sie zuhörte, ist eine Blamage für die Staatsanwaltschaft Flensburg.

Wie zu erwarten, kommt die Glaubwürdigkeitssachverständige Hänert zu dem Ergebnis, dass die Aussage der Zeugin Eva zwar detailreich und logisch sei, aber unter Berücksichtigung dieser Entstehungsgeschichte gar nichts tauge. Viel zu viele Einflüsse hätten auf Eva eingewirkt: Die Therapeutin habe sie unter Druck gesetzt, Erinnerungen zu entwickeln. Die Anwältin habe Eva das eigene polizeiliche Vernehmungsprotokoll vor dem Prozess zu lesen gegeben – eine Todsünde für Aussagepsychologen, die nach echten Erinnerungen graben, nicht nach auswendig gelernten. Sollten unter dem Berg von Evas Scheinerinnerungen irgendwo tatsächliche Missbrauchserlebnisse verborgen sein – was möglich sei –, meint die Sachverständige, so seien die nun sicher nicht mehr auffindbar. Am 3. März 2008 wird Peter L. freigesprochen.

Verfahren wie das gegen L. sind wenig publikumswirksam – außer es handelt sich bei dem Angeschuldigten um einen Prominenten wie den Fernsehmoderator Andreas Türck, der 2005 vom Landgericht Frankfurt freigesprochen wurde –, aber sie machen die Masse der Prozesse aus, in denen Aussagepsychologen gebraucht werden. Und immer häufiger stoßen die Sachverständigen bei den Zeuginnen auf vermeintliche Erinnerungen, die ihnen in Wirklichkeit von Lebensberatern, Sektengurus oder Therapeuten, also von Ratgebern, bei denen sie in einer psychisch labilen Phase Hilfe gesucht hatten, eingeimpft worden sind. Im Glauben, ein Sexualopfer zu sein, brechen die Irregeführten mit ihren Partnern und Familien und geraten tiefer und tiefer in die Krise. In Wuppertal haben sich jetzt mehrere Hundert Betroffene – Frauen, denen falsche Missbrauchserinnerungen induziert wurden, und deren Angehörige – zu einem Selbsthilfeverein mit Namen Schulterschluss zusammengefunden.

Auch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe erreichen die Probleme – in Form von Revisionsanträgen. Dort registriert man sorgenvoll die Manipulation der Opferzeugen durch »rechtlich Ungebildete mit Helfersyndrom«, wie es der Bundesrichter Axel Boetticher formuliert.

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»Diese Leute machen alles kaputt«, sagt er. Stehe der Vorwurf eines Sexualdelikts im Raum, müsse sich das Opfer auf der Stelle zur Polizei begeben, wo eine Videovernehmung anzufertigen sei. Nur so lasse sich mit der Aussage vor Gericht etwas anfangen.

Ein Blick ins Internet hat Boetticher noch misstrauischer gemacht: Dort können jugendliche User inzwischen Anweisungen herunterladen, wie man sich den Ermittlungsbehörden mit einer Anschuldigung am glaubhaftesten präsentiert und so die Justiz für eigene Zwecke einspannt.