Gastkommentar

Anweisung zum Unglücklichsein – was die Corona-Massnahmen mit unseren Kindern machen

Schon der übermässige Gebrauch digitaler Geräte hat Kinder von dem getrennt, was lebendiges Menschsein bedeutet. Und nun zwingt die Eindämmung der Corona-Pandemie sie noch mehr zur Unterdrückung ihrer Bedürfnisse. Eine Entwicklung, die nichts Gutes verheisst.

Gerald Hüther 58 Kommentare
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Ein Kind ist nur da ganz Kind, wo es unbeschwert spielen und sich vertrauensvoll anlehnen kann.

Ein Kind ist nur da ganz Kind, wo es unbeschwert spielen und sich vertrauensvoll anlehnen kann.

Benoit Tessier / Reuters

Wenn wir unser Zusammenleben auch in Corona-Zeiten menschlich gestalten wollen, sollten wir versuchen, vor allem das zu bewahren und zu stärken, was uns als Menschen ausmacht. Wir müssten also nach dem menschlichen Herausstellungsmerkmal suchen, das uns nicht nur von anderen Lebewesen, sondern nun vor allem auch von unseren digitalen Geräten, Robotern und Automaten grundsätzlich unterscheidet.

Interessanterweise waren es nicht die Psychologen oder Hirnforscher, auch nicht die Seelsorger oder Pädagogen, sondern die Experten auf dem Gebiet der Entwicklung künstlicher Intelligenz, die das herausgefunden haben: Digitale Geräte haben keine Bedürfnisse. Deshalb können sie auch keine eigenen Vorstellungen davon herausbilden, wie ein solches inneres Bedürfnis gestillt werden könnte. Und weil sie dazu nicht in der Lage sind, können sie auch keinen eigenen Willen hervorbringen, um eine solche Vorstellung dann auch umzusetzen.

Ein Bedürfnis in uns

Bisher waren wir froh, uns einigermassen darauf geeinigt zu haben, was uns von unseren nächsten tierischen Verwandten, den Menschenaffen, unterscheidet: unsere weitaus stärker ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten. Sie ermöglichen es uns, vorausschauend zu denken und bestimmte Vorstellungen davon herauszubilden, wie sich ein in uns spürbar werdendes Bedürfnis stillen lässt.

Wer keine lebendigen Bedürfnisse mehr hat, wird sich nicht wehren, wenn von ihm verlangt wird, genauso effizient wie ein digitales Gerät zu funktionieren.

Diese Überlegungen setzen automatisch ein, sobald ein solches Bedürfnis entsteht. Falls sich die ausgedachte Strategie auf Dauer dafür doch nicht eignet, erwacht das betreffende Bedürfnis erneut und zwingt uns, nach einem besseren Weg zu suchen. So kann jeder Mensch eine neue Vorstellung nach der anderen entwickeln, bis er irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Bedürfnisse aus seiner eigenen Lebendigkeit erwachsende Botschaften sind, die ihn auffordern, dieses Lebendige in sich zu bewahren und ihm durch die Art und Weise, wie er mit sich selbst und allem Lebendigen umgeht, Ausdruck zu verleihen. Dazu bedarf es keiner besonders ausgeklügelten Vorstellung, das brauchen wir einfach nur zu tun. Zum Beispiel, indem wir etwas liebevoller mit uns selbst umgehen.

Das aber fällt den meisten Menschen gegenwärtig noch sehr schwer. Zu fest hat sich in ihren Gehirnen die Vorstellung eingegraben, alle Probleme dieser Welt liessen sich mit dem nackten Verstand lösen. Das war das Credo, mit dem das Zeitalter der Aufklärung seinen Siegeszug vor nun schon über dreihundert Jahren angetreten hatte. Die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften, die durch den Einsatz des nackten Verstandes in diesem Zeitraum hervorgebracht wurden, sind so beeindruckend und so bestimmend für unser heutiges Leben geworden, dass es eine naheliegende Versuchung war, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen in den Mittelpunkt unseres eigenen Selbstverständnisses zu stellen.

Fatale Sackgasse

Erst jetzt, angesichts der wachsenden Probleme auf der Welt, wird offenbar, dass wir mithilfe unseres nackten Verstandes nicht nur viele Probleme lösen, sondern auch sehr viele bisher nicht da gewesene Probleme erzeugen können. Anstatt uns immer stärker mit allem Lebendigen zu verbinden, hat uns der Einsatz unserer kognitiven Fähigkeiten immer stärker von allem Lebendigen getrennt.

Wir können inzwischen auf den Mond und womöglich bald auch auf den Mars fliegen und haben Computer erfunden, die viele unserer kognitiven Leistungen, sogar unsere Lernfähigkeit weit übertreffen. Aber wir schauen rat- und tatenlos zu, wie jeden Tag unvorstellbar viele Menschen verhungern, immer mehr Arten aussterben, Kriege angezettelt, Urwälder und Landschaften zerstört werden – das alles und noch viele andere lebensbedrohliche Entwicklungen verdanken wir dem Einsatz der kognitiven Fähigkeiten von Menschen. Offenbar hat uns die Vorstellung, mit dem nackten Verstand liessen sich alle Probleme dieser Welt lösen, in eine fatale Sackgasse geführt.

Unser Verstand ermöglicht es uns, Vorstellungen davon herauszubilden, wie etwas gemacht werden muss, damit es zu dem gewünschten Ergebnis führt. Aber er versagt kläglich, wenn es darum geht, unsere lebendigen Bedürfnisse zu stillen. Statt mit unseren Vorstellungen davon, was auf welche Weise zu machen ist, müssten wir uns wieder mit unserer eigenen Lebendigkeit verbinden, mit unserer Entdeckerfreude und unserer Gestaltungslust, mit unserer Sinnlichkeit und unserem Körperempfinden, auch mit unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit im Zusammenleben mit anderen. Dann könnten wir endlich auch all das wiederfinden, was wir ja alle bereits mit auf die Welt gebracht haben und zumindest eine Zeitlang erlebt hatten, als wir noch kleine Kinder waren.

Auf Distanz

Genau das ist die entscheidende Frage, die es jetzt möglichst schnell von uns allen – von den Befürwortern wie auch von den Gegnern der Corona-Massnahmen – zu beantworten gilt. Sonst werden wir nicht verhindern können, dass eine Generation von Heranwachsenden bereits von Kindesbeinen an lernt, ihre lebendigen Bedürfnisse zu unterdrücken, um den Vorstellungen zu folgen, die wir Erwachsenen für richtig halten, um ein möglichst langes und gesundes Leben führen zu können.

Ja, es stimmt, dieses ansteckende Virus breitet sich immer weiter aus und ist eine grosse Gefahr für alle, die daran erkranken, vor allem dann, wenn es zu einer Überlastung unserer Intensivstationen kommt. Aber es stimmt auch, dass die in diese neue, von Corona-Abwehrmassnahmen bestimmte Lebenswelt hineinwachsenden Kinder und Jugendlichen gezwungen sind, ihre lebendigen Bedürfnisse zu unterdrücken. Sie wollen ja dazugehören, wollen ihren Eltern, Erziehern und Lehrern alles recht machen, wollen Verantwortung übernehmen, wollen andere nicht gefährden – und deshalb setzen sie ihre Schutzmasken auf, halten Abstand, spielen nicht mehr mit ihren Freunden und folgen zu Hause dem Online-Unterricht, wenn die Schule wegen der Corona-Pandemie geschlossen ist. Von begeisterten Eltern und Lehrern und sogar in den Medien werden sie als besonders vorbildlich gelobt, weil sie so «vernünftig» sind.

Wer aber fragt danach, was diese Kinder mit ihren lebendigen Bedürfnissen machen, damit sie so vernünftig sein können? Sie müssen sie unterdrücken. Neurobiologisch betrachtet, geht das nur, indem die für die Entstehung dieser Bedürfnisse zuständigen Bereiche und Netzwerke in ihrem Gehirn mit hemmenden Nervenzellverschaltungen überbaut werden. Das ist eine schwierige Lernleistung, die unsere Kinder da vollbringen, weil sie nicht ihrer Natur entspricht. Deshalb dauert es ein wenig, bis sie fest genug im Gehirn verankert ist. Aber die meisten schaffen das.

Dann ist das Bedürfnis, mit anderen zu spielen, weggehemmt, auch jenes, die Grossmutter zu besuchen und mit ihr zu kuscheln, Freunde zu treffen, zu toben, ein Kämpfchen zu wagen – alles weg. Sogar ihre angeborene Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten ist dann verschwunden. Auch jene am gemeinsamen Tanzen, Singen, Musizieren, am Fussballspielen und Herumtoben. Eine Theatervorführung oder ein Konzert wollen solche Kinder dann auch nicht mehr besuchen.

Brav funktionierend

Aber die Erwachsenen freuen sich darüber, wie brav das Kind alle Anweisungen befolgt und die entsprechenden Vorschriften einhält. Es hat perfekt gelernt, genau so zu funktionieren, wie sie es von ihm erwarten. Die Gefahr ist deshalb sehr gross, dass diese Kinder den digitalen Geräten immer ähnlicher werden, die in dieser Corona-Zeit besonders schnell in ihre Lebenswelt vordringen und ihren Alltag bestimmen. Diese digitalen Geräte können ja auch nur deshalb so perfekt funktionieren, weil sie keine Bedürfnisse haben.

Was den Erfolg und die rasche Ausbreitung technischer Innovationen ermöglicht, ist genau das Gegenteil von dem, was für Viren gilt. Die fortschreitende Digitalisierung bietet eine Vielzahl bisher unvorstellbarer Möglichkeiten, unser Leben zu erleichtern, stupide Tätigkeiten an Roboter abzugeben, komplexe Prozesse digital zu steuern, uns jederzeit problemlos auszutauschen und unser Zusammenleben reibungsloser zu gestalten als bisher.

Ich bin siebzig. Ein Jahr im Leben eines Siebenjährigen entspricht zehn Jahren in meinem Alter.

Im Gegensatz zu einer Viruspandemie bleiben die negativen Auswirkungen der Ausbreitung digitaler Technologien sehr lange unbemerkt. Dazu zählt nicht nur all das, was uns von dem abtrennt, was unser lebendiges Menschsein ausmacht und uns von der Wahrnehmung und der Stillung unserer lebendigen Bedürfnisse abhält, sondern auch all das, was uns dazu verführt oder gar zwingt, unsere Lebensgestaltung an die Funktionsweise, die Programme und die Algorithmen digitaler Geräte anzupassen.

Wer noch Zugang zu seinen lebendigen Grundbedürfnissen hat und noch mit all seiner Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit seiner Freude am Sichbewegen und am Tätigsein, auch mit seinen körperlichen Bedürfnissen und seiner Sinnlichkeit verbunden ist, wird nicht in Gefahr geraten, sich in den virtuellen Welten digitaler Geräte zu verlieren. Der wird sich auch mit aller Kraft gegen die von digitalen Programmen gesteuerte Lenkung und Überwachung seiner Aktivitäten zur Wehr setzen.

Kinder können das noch nicht, und sie haben keine Lobby, die sie vor digital gesteuerter Lenkung, Kontrolle und Überwachung schützt. Die Erfahrungen, die wir unseren Kindern gegenwärtig mit den staatlich verordneten Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zumuten, zwingen sie zur Unterdrückung ihrer lebendigen Bedürfnisse, bevor sie beim Heranwachsen selber lernen konnten, wie sich diese Bedürfnisse stillen lassen. Damit machen wir die Kleinsten in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu den grössten Verlierern dessen, was uns als Menschen von den digital gesteuerten Automaten und Robotern unterscheidet. Wer keine lebendigen Bedürfnisse mehr hat, ist gefügig geworden und wird sich nicht mehr wehren, wenn von ihm verlangt wird, genauso perfekt, fehlerfrei und effizient wie ein digitales Gerät zu funktionieren.

Zur Besinnung kommen

Es wäre also höchste Zeit, zur Besinnung zu kommen und uns gemeinsam um das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen zu kümmern. Sie sind die Gestalter unserer Zukunft. Es ist nicht nur unverantwortlich, unsere Angst vor diesem Virus auf sie zu übertragen und sie zur Sicherung unserer Gesundheit und unseres Wohlergehens einzusetzen. Es ist auch selbstzerstörerisch und lebensfeindlich. Denn unsere Kinder sind diejenigen, von denen wir am allerbesten wieder lernen könnten, wie lustvoll und wie beglückend es ist, auch noch als Erwachsene richtig lebendig zu sein.

Deshalb mein Weihnachtswunsch: Machen Sie Weihnachten in diesem Jahr zu einem Fest für die Kinder. Schenken Sie ihnen ein paar Tage, um endlich wieder so leben zu können, wie es ihrer Natur und ihren Bedürfnissen entspricht. Spielen Sie mit ihnen, tanzen, singen, musizieren Sie mit ihnen, bauen, basteln, malen Sie mit ihnen, gehen Sie raus in die Natur und zeigen Sie ihnen, was es dort sogar im Winter alles zu entdecken gibt. Machen Sie all das, was die Entdeckerfreude und die Gestaltungslust Ihrer und unserer Kinder wieder weckt.

Ich bin jetzt fast siebzig. Für ein Jahr die verordneten Corona-Massnahmen zu befolgen, verändert nicht allzu viel in meinem Gehirn. Aber ein Jahr im Leben eines Siebenjährigen entspricht zehn Jahren in meinem Alter. Das bleibt nicht folgenlos, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen. Wenn Kinder nur eine Woche lang ihre lebendigen Bedürfnisse wieder stillen können, ist das so, als würde mir das in meinem Alter zehn Wochen lang ermöglicht. Sie können es ja zumindest über die Feiertage einmal versuchen. Die Kinder in ihrer ganzen unbekümmerten Lebendigkeit zu erleben, ist wahrscheinlich das schönste Geschenk, das Sie sich in dieser schwierigen Zeit zu Weihnachten machen können.

Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologe an der Universität Göttingen und Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung. Kürzlich sind erschienen: «Wege aus der Angst – Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen» (Vandenhoeck & Ruprecht) und «Was schenken wir unseren Kindern?» (mit Andre Stern, Patmos, 2019).

58 Kommentare
P. P.

An meinem 22-jährigen Sohn sehe ich, was es macht, wenn man als Kind die Lebendigkeit noch ausleben durfte, aber seit März nicht oder nur noch eingeschränkt. Die Uni ist geschlossen. Der Austausch mit Menschen ist reduziert sich. Neue Menschen lernt man nicht kennen. Zu vieles findet im eigenen Zimmer oder in der Wohnung statt. Die Virtualität nimmt weiter zu. Aber auch Deprimiertheit und Aggressivität. Zwischen 20 und 24 hatte ich die unbeschwertesten Jahre meines Lebens. Dem Elternhaus entwachsen und noch ohne die Last grösserer Verantwortung. Wir rauben jungen Menschen einen Grossteil der schönsten und unbeschwertesten Jahre.

T. F.

Sehr guter Kommentar, vielen Dank. Die Lebendigkeit fehlt aber auch generell in dieser zunehmend sich selbst kasteienden, moralinsauren Gesellschaft. Alles Unvernünftige, Überbordende ist des Teufels, als besserer Mensch gilt der, der sich selbst einschränkt, verbiegt und optimiert. Arme Kinder, die solche Vorbilder haben.