Kollektivvertragsverhandlungen in Zeiten hoher Inflation

17. Januar 2022

Die Inflationsrate ist derzeit so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Auch die ersten Monate des Jahres 2022 werden überdurchschnittliche Inflationsraten bringen, vor allem aufgrund des Preisanstiegs bei Energie, Bewirtung und Beherbergung. Inflation gefährdet die Kaufkraft und damit den materiellen Wohlstand, sofern Löhne und Sozialausgaben nicht mithalten, zudem trifft sie Einkommensschwächere heftiger als Einkommensstarke. Die Inflationsrate bildet deshalb eine wichtige Grundlage der Kollektivvertragsverhandlungen. In den letzten Jahrzehnten stiegen die dort vereinbarten Löhne merklich stärker als die Verbraucherpreise.

Ein kurzer historischer Blick auf die Inflationsmessung

Die Inflationsmessung hat in Österreich eine vergleichsweise lange Geschichte. Bereits unter Maria Theresia wurden amtliche Preistafeln für einzelne Städte festgelegt, für Wien gibt es seit dem Jahr 1470 durchgehende Preisaufzeichnungen.   
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts veröffentlicht die heutige Statistik Austria durchgehend Preisindizes, und erste erhobene Daten zur Ausgestaltung des Konsums existieren seit 1869, als die durchschnittlichen Ausgaben einer vierköpfigen Arbeiterfamilie aus Wien erhoben wurden. Die Messung der Verbrauchsstruktur, die nun alle fünf Jahre durchgeführte Konsumerhebung, wurde erstmals in den Jahren 1912 und 1914 durchgeführt und ähnelte bereits sehr stark der heutigen Erhebungsmethodik.
Durch diese langen Zeitreihen lässt sich die Entwicklung der einzelnen Bestandteile der Konsumausgaben sehr anschaulich vergleichen. So haben beispielsweise in der Konsumerhebung 1955 die durchschnittlichen monatlichen Ausgaben für Lebensmittel fast 47 Prozent des Haushaltseinkommens ausgemacht, während Wohnen sich nur mit 5 Prozent und Verkehr mit 4,2 Prozent niederschlugen. Die aktuellste Konsumerhebung 2019/20 zeigt, dass der Anteil an den Konsumausgaben der Lebensmittel derzeit bei rund 12 Prozent liegt, Wohnen jedoch bei 24,4 Prozent und Verkehr bei 14 Prozent. Dieser Vergleich zeigt klar, dass mit steigendem Wohlstand und wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sich die Ausgaben der Haushalte stark verändern.

Die Instrumente und ihre Schwächen

Die Struktur der Ausgaben fließt in die Indizes zur Inflationsmessung ein, wobei verschiedene Warenkörbe mit variierenden Gewichtungen der einzelnen Posten gemessen werden. Neben dem am häufigsten eingesetzten Verbraucherpreisindex (VPI), der rund 750 Waren und Dienstleistungen umfasst, kommen auch andere Indizes für verschiedene Anwendungszwecke zum Einsatz. Der Mini-Warenkorb (60 Waren und Dienstleistungen) soll etwa den durchschnittlichen wöchentlichen Einkauf nachskizzieren, während der Mikro-Warenkorb mit 20 Gütern den täglichen Einkauf abbilden soll. Beide Indizes sind recht volatil und beinhalten Ausgaben, die für viele Menschen, nicht nur wegen der Pandemie, die Realität nicht widerspiegeln. Die Preissteigerung des Mini-Warenkorbs war im ersten Pandemie-Jahr durchwegs negativ, während er seit Februar 2021 sehr deutlich stärker als der VPI gewachsen ist. Diese Volatilität macht den Mini-Warenkorb ungeeignet als Basis für Kollektivvertragsverhandlungen, da in Zeiten ohne Produktivitätssteigerungen und Preissteigerungen im Mini-Warenkorb unter null wie 2020 auch Lohnabschlüsse dementsprechend beeinflusst wären – trotz positivem VPI. Der Mikro-Warenkorb ist allein schon aufgrund seiner Bestandteile nicht als Referenzindex geeignet. Unter die 20 Güter des Warenkorbs fällt nämlich auch die Melange im Kaffeehaus, die 12 Prozent des gesamten Warenkorbs ausmacht. Der tägliche Kaffeehausbesuch ist für die allermeisten wohl nicht nur in Zeiten der Pandemie nicht repräsentativ.

Dekoratives Bild © A&W Blog
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Jedoch hat auch der VPI Vor- und Nachteile, wenn es darum geht, die Realität der Kostensteigerung für jede/n VerbraucherIn genau nachzustellen. Der VPI orientiert sich am durchschnittlichen Haushalt und kann daher die unterschiedliche Höhe der Inflation entlang der Einkommensverteilung nicht darstellen. Da der repräsentative Warenkorb im VPI an durchschnittlichen Haushaltsausgaben der Konsumerhebung ausgerichtet ist, werden Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen verwaschen. Menschen mit niedrigeren Einkommen geben tendenziell einen größeren Anteil davon für Ausgaben wie Wohnen oder Energie aus. Das sind Güter, deren Preise in den letzten Jahren besonders stark gestiegen sind. Außerdem sind sie unverzichtbar, weshalb BezieherInnen von niedrigen Einkommen ihren Konsum nicht so einfach umschichten können, wie das bei Gutverdienenden der Fall ist.    
Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist der fehlende Einbezug von selbst genutztem Wohneigentum in die Inflationsmessung. Zwar werden in der Konsumerhebung die Preise für selbst genutztes Wohneigentum in die Wohnungskosten eingerechnet (imputierte Mieten), jedoch finden diese aktuell nicht Eingang in den Verbraucherpreisindex. Da in Österreich jedoch in etwa 43 Prozent der Menschen in Mietwohnungen leben, fließen Preissteigerungen derer nur anteilig in den VPI. Eine Studie der WU zeigt, dass verschiedene Methoden zur Einbindung von imputierten Mieten in die Messung jedenfalls eine Erhöhung des VPI bedeuten würden.    
Andererseits gibt es auch Argumente dafür, dass die Inflation in der Realität niedriger als im VPI ist. Dabei wird auf die immer besser werdende Qualität und Lebensdauer von Produkten sowie die nicht ausreichend berücksichtigte Verschiebung der Einkäufe auf internationale Online-Händler abgestellt. Würde man diese Faktoren berücksichtigen, wären die Preissteigerung für gleichwertige Produkte niedriger.

Aktuelle Preistreiber und ein Ausblick

Die derzeit sehr hohen Inflationsraten für VerbraucherInnen sind hauptsächlich durch zwei pandemie-bedingte Phänomene zu erklären. Einerseits haben weitgehende wirtschaftliche Restriktionen und Probleme bei globalen Lieferketten zu angebotsseitigen Einschränkungen und dadurch zu höheren Preisen bei Rohstoffen und Industrieprodukten geführt. Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Erholung im Jahr 2021 stärker als prognostiziert ausgefallen und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage damit höher als erwartet. Als Konsequenz steigen die Energiepreise, besonders getrieben durch Rohöl, derzeit stark an. Da im Vergleichszeitraum zum Ende 2020 / Anfang 2021 genau diese Produkte nur geringfügig gewachsen sind, ist die aktuelle Teuerung im Vorjahresvergleich auch besonders hoch. Durch diesen sogenannten Basiseffekt war die Inflation bei diesen Gütern zuletzt für mehr als ein Drittel der gesamten Inflationsrate verantwortlich.

Trotz der aktuell sehr hohen Teuerung gehen WirtschaftsforscherInnen davon aus, dass diese Preissteigerungen ein temporäres Phänomen sind und nach dem Aufholen des Konsumrückstaus und der Normalisierung der globalen Wertschöpfungsketten wieder zurückgehen. Das spiegeln auch die aktuellen Inflationsprognosen der ExpertInnen von WIFO und IHS wider. Die WirtschaftsforscherInnen prognostizieren für die kommenden Monate zum Beginn von 2022 noch höhere Inflationsraten, vor allem bedingt durch die steigenden Strom- und Gaspreise, die viele Haushalte belasten werden. Jedoch gehen die Vorhersagen durch sich erholende Lieferketten und abschwächende Konjunktur und sich dadurch normalisierende Energiepreise mittelfristig von Inflationsraten rund um 2 Prozent aus, welche dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank entsprechen würden.

 202120222023
WIFO2,8 %3,3 %2,2 %
IHS2,8 %2,8 %1,9 %
Inflationsprognosen WIFO/IHS vom 15.12.2021

Gewerkschaftliche Verhandlungen sichern Reallohnzuwächse

Selbst wenn sich langfristig hohe Inflationsraten aufgrund der weiter andauernden Pandemie bewahrheiten sollten, haben die gewerkschaftlichen Tarifverhandlungen in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass sie die Kaufkraft erhalten und vergrößert haben.

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Das ist der Tatsache geschuldet, dass die vergangene Inflation sowie die Produktivitätssteigerung (Benya-Formel) zentrale Größen bei den Forderungen in den Sozialpartnerverhandlungen einnehmen. Damit einzelne Monatsinflationsraten als Ausreißer nicht die realen Lohnzuwächse gefährden, wird stets die durchschnittliche Inflation der letzten 12 Monate als Grundlage für die Forderungen herangezogen. Durch diese Vorgehensweise konnte seit 1995 ein Wachstum der kollektivvertraglichen Mindestgehälter deutlich über der Steigerung der Verbraucherpreise gesichert werden. In diesem Zeitraum bis 2020 sind die Verbraucherpreise insgesamt um 55,6 Prozent gestiegen, der Tariflohnindex jedoch um 79,4 Prozent. Entgegen der häufigen Kritik tragen Kollektivlohnerhöhungen nicht zu einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale bei, die zu höheren Inflationsraten führt. Die Orientierung an der Inflation der vergangenen zwölf Monate führt sogar dazu, dass gewerkschaftlich verhandelte Lohnsteigerungen tendenziell als Preisstabilisator beim Faktor Arbeit fungieren, da sie auf unstrittigen, bereits vorliegenden Daten anstatt auf Prognosen oder Erwartungen beruhen.

Damit bei Beschäftigten reale Lohnerhöhungen und damit ihr gerechter Anteil an der Wirtschaftsleistung ankommen, sind kollektive Verhandlungen unerlässlich. Nur durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad kann gewährleistet werden, dass die Stimme der Vielen auch in Zukunft gehört werden kann. Gleichzeitig ist es eine zentrale gewerkschaftliche Aufgabe, die genannten Kritikpunkte an der Inflationsmessung auch in den Kollektivvertragsverhandlungen zu berücksichtigen.

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